L 2 U 44/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 9 U 64/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 44/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Bei der ersten Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X handelt es sich um eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat. Eine Überprüfung in diesem Sinn bedeutet jedoch nicht, dass eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts mittels neuer Ermittlung des Sachverhalts und neu einzuholender Gutachten durchzuführen wäre. Vielmehr ist lediglich aus rein rechtlicher Sicht zu würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt und in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist.
2. Für die zweite Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt es im Gegensatz zur ersten Alternative auf die Benennung neuer Tatsachen bzw. Beweismittel und ein abgestuftes Verfahren an. Ergibt sich bei diesem Verfahren nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte tatsächlich nicht vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen.
3. Hat eine Behörde unter zutreffender Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB X zurecht eine erneute Sachprüfung und Sachentscheidung abgelehnt, kann sich das Gericht über diese Entscheidung nicht hinwegsetzen und den gesamten Sachverhalt einer wiederholten Prüfung insbesondere durch Einholung neuer Gutachten unterziehen. Denn § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gibt nur der Verwaltung selbst, nicht aber dem Gericht die Möglichkeit, sich über eine frühere negative Entscheidung zugunsten des Antragstellers hinwegzusetzen und den gesamten Sachverhalt einer erneuten Prüfung zu unterziehen).
4. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 SGB X hat die zurücknehmende Behörde von Amts wegen zu ermitteln . Die Rechtswidrigkeit der begünstigenden Entscheidung muss feststehen, wobei dafür der Zeitpunkt ihres Erlasses maßgebend ist. Von einer Rechtswidrigkeit in diesem Sinne ist aber auch dann auszugehen, wenn die in dem zurückzunehmenden Bescheid eingeräumte begünstigende Rechtsposition erst auf der Grundlage später zu Tage getretener Erkenntnisse bereits aus damaliger Sicht rechtsfehlerhaft war.
5. Der Umstand, dass die Rechtswidrigkeit einer (bestandskräftig gewordenen) Verwaltungsentscheidung im Rahmen eines Rücknahmebescheids nach § 45 SGB X zu prüfen ist, bewirkt keine Änderung des Beweismaßstabs bei der Beurteilung der ursprünglich getroffenen Entscheidung. Vielmehr ist derselbe Beweismaßstab anzulegen, wie er bei einer originären Prüfung dieser Entscheidung zu beachten gewesen wäre. Dies bedeutet, dass eine Anerkennung von Unfallfolgen nach § 45 SGB X nur zurückgenommen werden kann, wenn sich bei erneuter Prüfung herausstellt, dass die anerkannte Unfallfolge nicht hinreichend wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen ist. Eine Entziehung oder Herabsetzung der Verletztenrente setzt bei Anwendung der aufgezeigten Grundsätze voraus, dass die bislang der Rentengewährung zugrunde gelegte MdE nicht im Vollbeweis nachgewiesen ist.
6. Wenn sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht feststellen lassen, gilt der Grundsatz der objektiven Beweislast. Die Nichterweislichkeit einer Tatsache geht dann zu Lasten desjenigen, der aus ihr eine bestimmte, für ihn günstige Rechtsfolge herleitet. Das ist im Fall des § 45 SGB X die Behörde, die sich darauf beruft, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig war und ein Vertrauen des Betroffenen nicht besteht oder nicht schutzwürdig ist. Der Umstand, dass eine (bestandskräftig gewordene) Verwaltungsentscheidung Gegenstand eines Verfahrens nach § 45 SGB X wird, bedeutet somit für die Beurteilung der ursprünglichen Entscheidung im Rahmen des § 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB X keine Änderung der zu beachtenden Beweismaßstäbe, sehr wohl aber eine Umkehr der objektiven Beweislast bei Nichterweislichkeit der Tatsache.

 

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 22.01.2019 aufgehoben.

II. Der Bescheid vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2015 wird aufgehoben.

III. Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2006 aufzuheben mit Ausnahme der Rücknahme der im Bescheid vom 11.08.2004 festgestellten Unfallfolge "hörschwellennahes hochfrequentes Ohrgeräusch". Im Übrigen wird die Berufung betreffend den Überprüfungsbescheid zurückgewiesen.

IV. Der Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29.09.2014 wird aufgehoben.

V. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

VI. Die Beklagte hat dem Kläger sieben Achtel seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

VII. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten des Berufungsverfahrens streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) um die Frage, ob die Beklagte zu Recht mit einem Bescheid nach § 45 SGB X die ursprüngliche Anerkennung von Unfallfolgen und Rentengewährung wegen eines anerkannten Arbeitsunfalls i.S.d. § 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) vom 23.03.2001 zurücknehmen durfte.

Der 1968 geborene Kläger erlitt am 23.03.2001 einen Arbeitsunfall, als er auf dem direkten Weg von der Arbeit nach Hause mit seinem Pkw mit einem Lkw kollidierte.

Im Durchgangsarztbericht des D vom 23.03.2001 sind folgende Diagnosen festgehalten:
* Commotio cerebri (= Gehirnerschütterung) mit Platzwunde links frontal
* distale Radiusfraktur (= handgelenksnaher Speichenbruch) rechts ohne Dislokation
* MC-IV-Basisfraktur (= Bruch der Mittelhand) links ohne Dislokation
* multiple Schnittwunden am Handrücken rechts

Der Kläger befand sich vom 23.03.2001 bis 10.04.2001 in stationärer Behandlung im Klinikum B. Am 02.04.2001 wurde er dort wegen der distalen Radiusfraktur rechts operiert.

Im HNO-Konsilbericht der Dres. D1/S vom 04.05.2001 sind u.a. folgende Befunde festgehalten:
* Audiogramm: unauffälliges peripheres Gehör rechts
* kombinierte Schwerhörigkeit im Hochtonbereich mit Werten um 50 dB bei 4 khz
* Ohrgeräusch bei 2 kHz in Hörschwelle verdeckbar angegeben
* kombinierte Schwerhörigkeit links

Am 23.05.2001 wurde der Kläger neurologisch untersucht und am 25.06.2001 wurde eine Kernspintomographie des Schädels durchgeführt.

Mit Schreiben der Beklagten vom 13.12.2001, wonach der Kläger sich nach eigenen Angaben einen Riss in der Gehörknöchelchenkette und eine Schallleitungsschwerhörigkeit zugezogen haben will, veranlasste die Beklagte eine Zusatzbegutachtung in der Neurologischen Abteilung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) M.

Mit Schreiben vom 07.02.2002 bestätigte der HNO-Arzt H, an den der Untersuchungsauftrag weitergeleitet worden war, den Verdacht auf eine unfallbedingte Hörstörung durch Luxation der Gehörknöchelchenkette und empfahl zur weiteren Abklärung die Vorstellung in der HNO-Klinik P.
 
In dem mit Schreiben der Beklagten vom 20.03.2002 veranlassten Gutachten zur Zusammenhangsfrage der Dres. F/J der HNO-Klinik P vom 17.07.2002 hieß es unter "Vorgeschichte":

"Herr A berichtete, auf dem Heimweg von der Arbeit am 23.03.2001 einen Verkehrsunfall mit Schädelhirntrauma erlitten zu haben. Noch in der Klinik sei ihm eine Minderung der Hörfähigkeit links sowie ein Ohrgeräusch aufgefallen. Dies habe sich seither nicht verändert, wobei sein Gehör vorher gänzlich normal gewesen sei. Nach umfänglichen Rehabilitationsmaßnahmen arbeite er seit dem 05. November 2001 wieder als Briefträger wie zuvor. Er leide seit dem Unfall weiterhin an links frontalen Kopfschmerzen sowie an dem linksseitigen Ohrgeräusch, dass sich auch bei geringer Lärmexposition erheblich verstärke."

Weiter führten die Gutachter aus, dass "angesichts der vorliegenden Befundkonstellation, sowie der anamnestisch zuvor subjektiv bestehenden Normalhörigkeit eine traumatische Luxation der Gehörknöchelchenkette durch das Unfallereignis durchaus wahrscheinlich" sei. Es liege ein prozentualer Hörverlust rechts von 0 % und links von 10 % vor. Dies führe nach Feldmann selbst unter Berücksichtigung des linksseitigen Tinnitus zu einer MdE von unter 10 vH.

Die Beklagte veranlasste sodann ein neuropsychologisches Zusatzgutachten der Diplom-Psychologen A/R vom 26.02.2003, nach deren Feststellungen die MdE auf neuropsychiologischem Fachgebiet 40 vH betrage. Aufgrund des zeitlichen Abstands zum Unfallereignis sei von einer dauerhaften Beeinträchtigung auszugehen.

Nach dem von der Beklagten ferner veranlassten ersten Rentengutachten des H1 der Chirurgischen Klinik II des Klinikums B vom 07.10.2002 betrage die MdE vom 23.03.2001 bis 04.11.2001 100 vH, vom 05.11.2001 bis auf weiteres unfallchirurgisch 20 vH, neuropsychologisch 40 vH, insgesamt 55 vH.

Nach der daraufhin von der Beklagten eingeholten Stellungnahme von M (Diplom-Psychologe und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie) vom 15.05.2003 sei die empfohlene MdE in Höhe von 40 vH auf neuropsychologischem Fachgebiet nicht begründbar und überzogen. Auf die umfangreichen beratungsärztlichen Ausführungen wird Bezug genommen.

Die Beklagte veranlasste sodann mit Schreiben vom 18.06.2013 eine neurologische Begutachtung. Nach dem Gutachten von O/L vom 05.08.2003 gab der Kläger gemäß "Medizinische Vorgeschichte" an, dass keine wesentlichen Vorerkrankungen bekannt seien und er wesentliche Verletzungen bislang nicht gehabt habe. Weiter führten die Gutachter aus, dass sich keine eindeutigen Defizite auf neurologischem Fachgebiet ergeben würden. Ob das vorliegende neurasthen-depressive Syndrom eher psychoreaktiv oder zweckgerichtet zu sehen sei, müsse einer fachpsychiatrischen Einschätzung überlassen werden. Die Einschätzung einer MdE auf neurologischem Fachgebiet entfalle.

Nach dem in der weiteren Folge von der Beklagten veranlassten neuropsychiatrischen Zusatzgutachten durch S1 (Neurologe und Psychiater) vom 29.10.2003 seien folgende Diagnosen zu stellen:
* Zustand nach leichtem Schädel-Hirntrauma ohne Nachweis einer posttraumatischen intrakraniellen Komplikation
* Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion mäßigen Grades und Angstreaktion geringen Grades
* Hinsichtlich der nachts anhaltenden Brachialgien sei ein posttraumatisches Karpaltunnelsyndrom nicht auszuschließen
* Links fronto-temporale Narben nach erlittener Platzwunde mit angegebenen hypästhetischen Säumen und ohne wesentliche funktionelle Beeinträchtigung

Da die Hypakusis links keine sicher unfallabhängige Diagnose sei, bleibe dies dem HNO-ärztlichen Zusatzgutachten überlassen. Zusammenfassend sei die gegenwärtig auf neuropsychiatrischem Fachgebiet nachgewiesene depressive Symptomatik und Angstsymptomatik als Unfallfolge zu bewerten, einschließlich der hierdurch bedingten geringgradigen Defizite. Gegenwärtig sei hierdurch die unfallbedingte MdE mit 20 vH einzuschätzen.

Dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten des W (Institut für Medizinische Begutachtungen M) vom 12.11.2003 zufolge sei wegen der Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion mäßigen Grades und Angstreaktion mäßigen Grades und des Verdachts auf ein posttraumatisches Karpaltunnelsyndrom im Rahmen des erlittenen körperfernen Speichenbruchs eine gegenwärtige MdE auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet mit 20 vH, fachübergreifend (einschließlich des unfallchirurgischen Fachgebiets) eine Gesamt-MdE mit 40 vH einzuschätzen.

Anschließend beauftragte die Beklagte als fachärztlichen Berater M1 (Neurologe und Psychiater). Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 04.12.2003 zu der Einschätzung, dass man sich des Eindrucks einer wesentlichen Diskrepanz der Angaben und Leistungen des Probanden in der Gutachtensituation und der spärlichen objektiven Befunde in der Akte nicht erwehren könne. Trotz der Angabe schwerster Störungen arbeite der Proband in seinem Beruf und fahre offensichtlich Auto. Trotz subjektiv schwerster Beeinträchtigung suche der Proband keine adäquate medizinische Behandlung. Dies überzeuge nicht. Ein ausführliches psychiatrisches Gutachten zur Abgrenzung einer offensichtlichen - bewussten oder unbewussten - Begehrenshaltung, insbesondere der bewusstseinsfernen und der bewusstseinsnahen Anteile (= Aggravation bzw. Begehrenstendenz) sei notwendig. Die Feststellung einer psychiatrischen Unfallfolge, welche über eine "bewusstseinsnah ablaufende Erlebnisreaktion" hinausgehe, sei bis dato in den Gutachten nicht erfolgt. Deshalb sollte eine Anerkennung psychiatrischer Unfallfolgen nicht erfolgen. Aufgrund der Aktenlage sei die Gesamt-MdE mit unter 20 vH einzuschätzen.

Vom 06.04.2004 bis 11.05.2004 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik R in P1. Nach dem Bericht von F1/H2/E vom 14.06.2004 bestünden nach den durchgeführten testpsychologischen und körperlichen Untersuchungen sowie aus den Gesprächen mit dem Patienten und Verhaltensbeobachtungen folgende Diagnosen:
* postkontusionelles Symptom (ICD-10 F07.2)
* posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) (ICD-10 F43.1)
* Tinnitus aurium (ICD-10 1-193.1)
* Schallempfindungsschwerhörigkeit bds. (ICD-10 H90.3)
* Hyperakusis bds. (ICD-10 H93.2)
* Z. n. distaler Radiusfraktur rechts (ICD-10 S52.5Z)
* Z. n. Fraktur des Metakarpale III und IV links (ICD-10 162.4Z)
* Z. n. Fraktur des Os trapezium links (ICD-10 S62.1Z)

Die beim Patienten zu beobachtenden kognitiven Defizite seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die oben beschriebenen Erkrankungen zurückzuführen. In welchem Ausmaß im Einzelnen die postkontusionellen Beschwerden sowie die PTSD und der Tinnitus aurium mit Hyperakusis zu den kognitiven Defiziten beitrügen, lasse sich nicht mit ausreichender Sicherheit auseinanderdividieren. Für die Beurteilung der Kausalität der bei dem Patienten bestehenden Einschränkungen sei dies jedoch sekundär, da alle oben beschriebenen Erkrankungen auf den Unfall vom 23.03.2001 zurückzuführen seien. Die Gesamt-MdE betrage 60 vH.

Anschließend beauftragte die Beklagte nochmals M1. Dieser kam in seiner weiteren Stellungnahme vom 01.07.2004 zu der Einschätzung, dass die MdE-Einschätzung der Klinik R durch die Befundverschlechterung des Probanden während der Behandlung geprägt erscheine. Seines Erachtens sei retrospektiv die MdE der Anpassungsstörung bis zum 06.04.2004 treffend mit 20 vH einzuschätzen, auch in Bezug auf die leichten kognitiven Auffälligkeiten, die eher auf die depressive Störung zurückzuführen seien. Eine höhere Einschätzung der MdE sollte nur bei anhaltender Verschlechterung in Erwägung gezogen werden.

Mit Bescheid vom 11.08.2004 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 23.03.2001 als Arbeitsunfall an. Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls gewährte sie eine Rente auf unbestimmte Zeit ab 05.11.2001 in Höhe von 30 vH. Auf Grundlage einer (internen) Stellungnahme von V vom 24.11.2003 bewertete sie die Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet mit 10 vH, auf HNO-ärztlichem Fachgebiet mit unter 10 vH und auf neuropsychiatrischem Fachgebiet mit 20 vH. Als Folgen des Versicherungsfalls erkannte die Beklagte an: "nach Gehirnerschütterung mit Platzwunde links frontal, Luxation der Gehörknöchelchenkette, körperfernem mit geringer Abkippung nach beugeseitig fest verheiltem Speichenbruch rechts, Bruch des 4. Mittelhandknochens links und os. trapezium Bruch links: 1. die endgradige Bewegungseinschränkung im Handgelenk mit geringer Einschränkung der Unterarmdrehbeweglichkeit, 2. die Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion mäßigen Grades und Angstreaktion geringen Grades, 3. das hörschwellennahe hochfrequente Ohrgeräusch. Der Bruch des 4. Mittelhandknochens sowie des os. trapezium sind ohne wesentliche Folgen ausgeheilt."

Der dagegen mit Schreiben der damaligen Bevollmächtigten vom 23.08.2002 eingelegte Widerspruch wurde mit Schreiben vom 12.10.2004 unter Hinweis auf den Abschlussbericht der Klinik R vom 14.06.2004 begründet.

Laut Aktennotiz vom 21.04.2005 erfuhr die Beklagte durch eine telefonische Nachfrage bei der (damaligen) Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberbayern von einem stationären Aufenthalt des Klägers vom 05.02.1998 bis 05.03.1998 in der (damaligen) Klinik R1 in Bad K. Der daraufhin angeforderte Reha-Entlassungsbericht der LVA Oberbayern vom 27.04.1998 ging am 12.05.2005 bei der Beklagten ein. Im Entlassungsbericht ist unter Diagnosen u.a. aufgeführt: "Tinnitus links mit Hörminderung nach Knalltrauma vor ca. 7 Jahren." Weiter wurde im Rehabilitationsverlauf mitgeteilt: "Anamnestisch erlitt Herr A ca. 1990 ein Knalltrauma des linken Ohres bei der Bundeswehr. Seither höre er ein pfeiffendes Geräusch unterschiedlicher Intensität. Mehrere stationäre Aufenthalte mit Infusionsbehandlungen seien erfolgt. Während des HV wurden keine Beschwerden angegeben."

In der mit Schreiben der Beklagten vom 01.06.2005 eingeholten weiteren Stellungnahme von M vom 12.06.2005 führte dieser aus:

" ... Bedeutsam für die Beurteilung der Folgen des Arbeitsunfalles vom 23.03.2001 ist jedoch, dass A nach seinen eigenen Angaben seit etwa dem Jahre 1990 unter einem Tinnitus (Ohrgeräusch) links nach Knalltrauma bei der Bundeswehr leidet und deswegen mehrfach stationäre Infusionsbehandlungen durchgeführt worden sind. Dem gegenüber hat A Tinnitus und dadurch bedingte psychische Beeinträchtigungen bei allen Untersuchungen als Folgen des Arbeitsunfalles vom 23.03.2001 geltend gemacht. Er hat immer berichtet, dass diese Ohrgeräusche erst nach dem Unfall vom 23.03.2001 aufgetreten sind. Es wurde daher eine hno-ärztliche Untersuchung veranlasst. Nach dem Gutachten der Frau Dr. F (...) wurde ein Hörverlust links von 10 % und ein linksseitiger Tinnitus festgestellt als mögliche Folge einer traumatischen Luxation der Gehörknöchelchenkette. Die Gutachter stützen sich dabei aber offensichtlich auf die Angaben des Patienten selbst über einen "Riß der Gehörknöchelchenkette links". Von den Gutachtern wird eine traumatische Luxation der Hörknöchelchenkette durch den Unfall als "durchaus wahrscheinlich" gewertet, jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich ein solcher "Riß der Gehörknöchelchenkette" mit letzter Sicherheit erst nach einer operativen Exploration des Mittelohres zuverlässig feststellen lässt (...). (...)

Festzustellen ist demnach, dass die Angaben des Herrn A über ein Ohrgeräusch mit auch psychischen Beeinträchtigungen als Folgen des Unfalles zweckgerichtet und bewusst falsch sind. Der in allen Gutachten angeführte und auch als Unfallfolgen anerkannte (BI. 344) Tinnitus und Hörminderung links liegt demnach nicht vor. HNO-ärztlich ist deswegen zwar keine messbare MdE angenommen worden. Auch bei chronischem Tinnitus mögliche psychoreaktive Störungen, wie auch von mir in meiner ersten Stellungnahme diskutiert (BI. 200), liegen daher unfallbedingt nicht vor. (...)

Diese offensichtlich bewusst falschen Angaben des Herrn A zur Ursache eines Tinnitus begründen aber auch berechtigte Zweifel an der Richtigkeit der übrigen von ihm geltend gemachten Beschwerden und Beeinträchtigungen als Unfallfolgen und seiner Verhaltens- und Reaktionsweise in den Untersuchungssituationen und während des stationären Heilverfahren in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik R (...)

Ich fass zusammen und beantworte die Einzelfragen des Auftrages:

1. Hinsichtlich der Folgen des Schädelhirntrauma ist dem Gutachten des O vom 05.08.2003 (...) und des Herrn S1 vom 29.10.2003 (...) zu folgen. Danach hat A bei dem Unfall am 23. 3. 2001 ein Schädelhirntrauma Grad I (Commotio cerebri, Gehirnerschütterung), also lediglich eine reversible Hirnfunktionsstörung ohne Hirngewebsschädigung und ohne traumatische intracranielle Komplikationen erlitten.

Den widersprüchlichen diagnostischen Feststellungen zu unfall(ereignis)bezogenen psychoreaktiven Störungen ("Anpassungsstörung" in dem Gutachten vom 29.10.2003 und "posttraumatische Belastungsstörung" in dem Entlassungsbericht vom 14.06.2004) kann nicht gefolgt werden, ebenso wenig der Verdachtsdiagnose eines posttraumatischen Carpaltunnel-Syndromes. Dies habe ich im einzelnen dargelegt und begründet.

2. Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet liegen nicht vor. Der Unfall hat zu keinen Verletzungen zentral- oder peripher-neuronaler Strukturen, also des Gehirnes, des Rückenmarkes, von Rückenmarknervenwurzeln und Nervengeflechten oder peripherer Nerven geführt. Unfall(ereignis)bezogene psychoreaktive Störungen lassen sich nicht objektivieren. Es besteht der dringende Verdacht (im Falle des Tinnitus wohl erwiesen) zweckgerichteten Bemühens des Herrn A.

3. Neurologisch-psychiatrisch besteht keine MdE. Lediglich die Folgen der distalen Radiusfraktur rechts und der Fraktur der linken Mittelhand sind nochmals unfallchirurgisch zu beurteilen. (...)"

Mit Schreiben vom 06.07.2005 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 SGB X, nämlich des Bescheids vom 11.08.2004, an.

Mit Schreiben vom 27.07.2005 nahmen die damaligen Bevollmächtigten des Klägers gegenüber der Beklagten (erstmals) dahingehend Stellung, dass sich der Kläger vehement gegen den Vorwurf verwahre, dass er vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht habe. Auf das Schreiben wird hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 26.08.2005 nahm die Beklagte den Bescheid vom 11.08.2004 über die Rente auf unbestimmte Zeit sowie den Bescheid vom 11.08.2004 über die Verzinsung von Geldleistungen zurück. Ein Anspruch auf Rente wegen des Arbeitsunfalls vom 23.03.2001 bestehe nicht. Die zu Unrecht erbrachten Rentenleistungen einschließlich der ausbezahlten Zinsen in Höhe von insgesamt 25.906,06 EUR seien zu erstatten. Es habe sich herausgestellt, dass der Kläger bereits bei der Bundeswehr ein Knalltrauma des linken Ohrs erlitten habe. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehe keine MdE. Die Fraktur des 4. Mittelhandknochens links sowie des os trapezium links seien ohne wesentliche Folgen ausgeheilt. Es würden lediglich die Folgen der distalen Radiusfraktur rechts verbleiben und dies würde eine MdE von 10 vH rechtfertigen. Auf die Bescheidbegründung im Übrigen wird hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen.

Der dagegen mit Schreiben der damaligen Bevollmächtigten vom 31.08.2005 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2006 zurückgewiesen. Auf die ausführliche Begründung wird verwiesen.

Dagegen erfolgte am 09.02.2006 Klageerhebung beim Sozialgericht München (SG) unter dem Az. S 41 U 75/06.

In den folgenden Verwaltungsakten der Beklagten befindet sich der Bescheid des Wehrbereichsgebührnisamts vom 17.08.1989. Danach wurden Leistungen nach dem Soldatenversorgungsgesetz aufgrund einer Innenohrhochtonschwerhörigkeit und Tinnitus (Ohrgeräusch) links nach Knalltrauma am 24.04.1989 abgelehnt, weil die MdE nicht um mindestens 25 vH für eine Dauer von wenigstens sechs Monaten gemindert (gewesen) sei. Dazu gab es ein Verfahren beim SG unter dem Az. S 39 V 363/89.SVG. Nach dem HNO-ärztlichen Gutachten von J1 vom 15.05.1990, nach dem die MdE beim Kläger mit unter 10 vH anzusetzen sei, wurde die Klage mit Urteil des SG vom 31.07.1990 abgewiesen.

Ferner finden sich Auszüge aus der strafgerichtlichen Akte des Klägers in den Verwaltungsakten der Beklagten. Danach wurde der Kläger aufgrund der Hauptverhandlung vom 06.03.2007 vom Amtsgericht B wegen versuchten Betrugs wegen der Nichtangabe des Tinnitus gegenüber der Beklagten zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 15,- EUR verurteilt (Az.: 1 Ds 13 Js 23020/05). Von einem vollendeten Betrug zu Lasten der Beklagten wurde zugunsten des Klägers wegen der sich widersprechenden gutachterlichen Stellungnahmen nicht ausgegangen. Der Kläger hatte sich in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, dass er das Knalltrauma nicht angegeben habe, weil er "nicht mehr daran gedacht" habe. Vor dem Unfall sei der Tinnitus "jedenfalls völlig weg" gewesen.

Im SG-Verfahren zum Az. S 41 U 75/06 nahmen die Beteiligten in der Folge ausführlich Stellung: der Kläger mit dem Schriftsatz vom 07.08.2007, die Beklagte mit den Schriftsätzen vom 19.09.2007, 19.10.2007, 29.10.2007 und 11.12.2007, auf die jeweils wegen der Einzelheiten verwiesen wird.

Das SG erhob sodann Beweis durch Einholung eines Gutachtens bei G vom 12.01.2009. Danach sei auf orthopädischem Fachgebiet eine MdE von 10 vH zu veranschlagen. Das vermutete posttraumatische Carpaltunnel-Syndrom könne klinisch eindeutig ausgeschlossen werden. Auf die Einzelheiten des Gutachtens wird Bezug genommen. Mit Schreiben vom 08.04.2009 wurde die Klage zurückgenommen. Die Rücknahme erfolge - so der Kläger - lediglich aus Beweisgründen. Der Kläger sei fest davon überzeugt, dass vor dem Verkehrsunfall der Tinnitus vollkommen verschwunden gewesen sei. Allerdings seien keinerlei ärztliche Befunde vorhanden, die dies stützten.

Mit Bescheid von Juli 2009 forderte die Beklagte die zu Unrecht erbrachten Heilbehandlungskosten i.H.v. 8.826,22 EUR gemäß § 50 Abs. 2 SGB X zurück. Dem dagegen mit Schreiben vom 29.07.2009 eingelegten und mit Schreiben vom 26.08.2009 begründeten Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.01.2010 wegen eines von DM auf EUR falsch umgerechneten Teilbetrages teilweise stattgegeben. Darüber hinaus wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Auf die dagegen erfolgte Klageerhebung vor dem SG unter dem Az. S 23 U 78/10 wurde mit Urteil vom 06.11.2012 der Bescheid vom Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.01.2010 insoweit aufgehoben, als vom Kläger ein Betrag über 432,49 Euro hinaus gefordert worden sei. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Der Kläger habe zwar unstrittig 1989 ein Knalltrauma mit nachfolgendem Tinnitus erlitten und diesen bei den dem Unfall folgenden Untersuchungen nicht angegeben, jedoch sei diese Unterlassung nicht kausal für die von der Beklagten nun geltend gemachten Kosten gewesen. Auf die Urteilsbegründung im Einzelnen wird Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 10.01.2013 und 28.02.2013 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers die "Auszahlung der dem Kläger zustehenden Rentenansprüche" bzw. die Zurückzahlung der vom Kläger erstatteten Heilbehandlungskosten.

Mit Bescheid vom 04.04.2013 lehnte die Beklagte die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 ab. Die Anträge vom 10.01.2013 und 28.02.2013 seien als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gewertet worden. Es seien jedoch keine neuen Tatsachen vorgetragen worden, die für eine Änderung der Sach- und Rechtslage sprechen könnten.

Mit Schreiben vom 17.02.2014 beantragte der Kläger (persönlich) Rente aufgrund des Unfalls vom 23.03.2001.

Mit Bescheid vom 09.04.2014 lehnte die Beklagte die Neufeststellung einer Rente aufgrund des Versicherungsfalls vom 23.03.2001 ab. Eine MdE von wenigstens 20 vH liege nicht vor. Dagegen wurde mit Schreiben der jetzigen Bevollmächtigten vom 25.04.2014 Widerspruch eingelegt und ausdrücklich die Überprüfung nach § 44 SGB X beantragt. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.2014 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zusammenfassend sei der Widerspruchsausschuss nach nochmaliger Prüfung des Sachverhalts zu der Auffassung gelangt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht vorliege und die bestehenden Unfallfolgen eine MdE in rentenberechtigendem Grade auch weiterhin nicht rechtfertigen würden.

Mit seiner am 10.10.2014 beim SG eingegangenen und unter dem Az. S 9 U 601/14 geführten Klage gegen den Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2014 hat der Kläger Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 vH begehrt.

Den mit Schreiben vom 25.04.2014 gestellten Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X lehnte die Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17.12.2014 ab. Die Verwaltung sei nicht verpflichtet, den (bindend gewordenen) Verwaltungsakt zu überprüfen und erneut in der Sache zu entscheiden, wenn sich aus dem Vorbringen des Versicherten oder aus anderen Umständen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes ergeben würden, was hier der Fall sei. Der dagegen mit Schreiben vom 19.12.2014 eingelegte und mit Hinweis auf das Schreiben vom 25.04.2014 begründete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.01.2015 unter Hinweis auf die "Bindungsprüfung" der bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zurückgewiesen.

Mit seiner am 03.02.2015 beim SG eingegangenen und unter dem Az. S 9 U 64/15 geführten Klage gegen den Bescheid vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2015 hat der Kläger die Überprüfung nach § 44 SGB X und die entsprechende Aufhebung der Bescheide beantragt.

In dem Verfahren mit dem Az. S 9 U 601/14 hat das SG Beweis erhoben durch Beiziehung von bildgebenden Befunden und Einholung von Befundberichten von R1, R2, S2 und von der Klinikum B GmbH/H3. Auf die Befundberichte wird jeweils Bezug genommen.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 23.02.2016 (zu S 9 U 601/14) hat das SG den beabsichtigten Verfahrensablauf mitgeteilt und richterliche Hinweise gegeben. Auf das Schreiben wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen.

Mit Schreiben vom 05.04.2016 (zu S 9 U 601/14) hat die Beklagte im Wesentlichen auf den bestandskräftigen Bescheid vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 verwiesen und sich auf dessen Bindungswirkung berufen. Trotz des Hinweises des Gerichts vom 23.02.2016 gehe die Beklagte davon aus, dass eine erneute Sachprüfung unzulässig sei.

Mit Schreiben vom 09.05.2016 (zu S 9 U 601/14) hat der Bevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass die Beklagte ihrer Aufklärungspflicht nicht Genüge getan habe.

Das Gericht hat ein fachorthopädisches Gutachten von H3 vom 02.11.2009 (zu S 9 U 601/14) für die M-Versicherung a.G. beigezogen.

Nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens auf chirurgischem Fachgebiet von R3 sowie durch Einholung eines Gutachtens auf HNO-ärztlichem Fachgebiet von S3.

R3 ist in seinem Gutachten vom 20.03.2017 (zu S 9 U 601/14) nach Auswertung der Aktenlage und einer Untersuchung des Klägers zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass die MdE seit 05.11.2001 durchgehend mit 10 vH auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet zu beurteilen sei. Die jetzt festgestellte mäßige posttraumatische Arthrose stelle (noch) keine Befundänderung im Sinne einer richtungsgebenden Verschlimmerung dar. Auf die Einzelheiten des Gutachtens wird Bezug genommen.

S3 ist in ihrem Gutachten vom 31.05.2017 (zu S 9 U 601/14) nach Auswertung der Aktenlage und einer Untersuchung des Klägers am 16.05.2017 zusammenfassend zu dem Ergebnis gelangt, dass die c5-Senke rechts bei annähernder Normalhörigkeit, die knapp geringgradige Schallleitungsschwerhörigkeit links und der tieffrequente Tinnitus links Folgen des Unfalls vom 23.03.2001 seien. Die MdE betrage ab 05.11.2001 10 vH.

Mit Schreiben vom 09.08.2017 hat die Beklagte die beratungsärztliche Stellungnahme von B vom 24.07.2017 vorgelegt (zu S 9 U 601/14). Danach könne dem Gutachten von S3 nicht zugestimmt werden, insbesondere deswegen, weil die Hochtonsenke schon im Jahr 1989 beschrieben worden sei. Die MdE sei mit unter 10 vH einzuschätzen.

Ferner hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet von P.

P ist in ihrem Gutachten vom 19.09.2017 (zu S 9 U 601/14) nach Auswertung der Aktenlage und einer Untersuchung des Klägers am 19.09.2017 zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit im November 2001 nervenärztlicherseits keine MdE von 10 vH und mehr zu rechtfertigen sei, da im Folgejahr überhaupt keine einschlägigen Gesundheitsstörungen geklagt worden seien und die später geklagten Beschwerden anderweitige Ursachen hätten. Der Kläger sei viele Jahre im Schützenverein gewesen. Eine Kontusion im Sinne einer fassbaren Hirnsubstanzschädigung sei zu keinem Zeitpunkt belegt. Das gleiche gelte für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es erübrige sich die Diskussion jedweder hirnorganischen Störung als Unfallfolge, ebenso wie die Diskussion einer zentralen Gleichgewichtsstörung als Unfallfolge. Dafür hätten sich keine Hinweise gefunden. Auf das ausführliche Gutachten wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen.

In der auf Anraten von P eingeholten ergänzenden Stellungnahme von S3 vom 22.12.2017 (zu S 9 U 601/14) hat sich die Sachverständige mit den Einwendungen des B vom 24.07.2017 auseinandergesetzt und im Wesentlichen mitgeteilt, dass sich aus dem Vergleich der Audiogramme von 1999 und 2009 eine Verschlechterung des Hörvermögens beidseits ablesen lasse. S3 ist sodann zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass es schwierig sei, zwischen einem stattgefundenen Knalltrauma einerseits und einem stumpfen Schädeltrauma andererseits vom Befund her zu unterscheiden. Das Ausmaß der Schwerhörigkeit am linken Ohr sei durch die Schallleitungskomponente zustandegekommen, wahrscheinlich durch Schädigung der Gehörknöchelchenkette. Die unfallbedingte MdE betrage 10 vH, wobei diese Einschätzung an der oberen Grenze des Ermessensspielraums liege.

Mit Schreiben vom 05.02.2018 (zu S 9 U 601/14) hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten zum Gutachten der Sachverständigen P Stellung genommen, auf das hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird.

In der daraufhin eingeholten ergänzenden Stellungnahme von P vom 26.02.2018 (zu S 9 U 601/14) hat diese zusammenfassend mitgeteilt, dass die Entstehung eines Tinnitus durch das Unfallgeschehen nicht ohne weiteres ableitbar erscheine, da die Verschlechterung des Hörvermögens zwischen 1999 und 2009 durchaus auch mit Alterungsprozessen zusammenhänge könne. Die vom Kläger benannten Punkte, wo er sich falsch verstanden oder falsch zitiert gefühlt habe, hätten keine Auswirkungen auf die sozialmedizinische Beurteilung. Eine Änderung der Beurteilung ihres Hauptgutachtens ergebe sich nicht.

Auf Antrag des Klägers hat das SG mit Anordnung vom 04.04.2018 gemäß § 109 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Nervenheilkunde K.

K hat in seinem Gutachten vom 04.06.2018 (zu S 9 U 601/14) nach Auswertung der Aktenlage und einer Untersuchung des Klägers zunächst folgende Diagnosen gestellt:
* abgeklungene Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion (F43.2)
* abgeklungenes Schädelhirntrauma 1. Grades ohne organisch psychische Störung (F07.2)

Eine posttraumatische Belastungsstörung habe nie vorgelegen, weil die dafür notwendigen Kriterien nicht erfüllt (gewesen) seien. Der Sachverständige ist sodann zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis zum 22.03.2003 auf psychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 20 vH vorgelegen habe. Ab 23.03.2003 betrage die MdE auf diesem Gebiet 0 vH. Die psychischen Symptome ab zwei Jahre nach dem Unfall seien durch unfallabhängige Faktoren (wie endogene Persönlichkeitszüge, soziale Probleme, Lebensumstände, Strafverfahren) verursacht worden. Auf neurologischem Fachgebiet (Schädelhirntrauma 1. Grades) habe die MdE im gesamten Zeitraum 0 vH betragen.

Mit Schreiben vom 11.06.2018 (zu S 9 U 601/14) hat die Beklagte mitgeteilt, dass der Einschätzung von S3 nicht gefolgt werden könne. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs liege nicht vor. Die bloße Möglichkeit, dass es beim Kfz-Unfall zu einem zweiten Tinnitus gekommen sei, reiche als Beweismaßstab nicht aus.

Mit Schreiben vom 18.06.2018 (zu S 9 U 601/14) hat der Bevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass die Rücknahmeentscheidung vom 26.08.2005 (streitig im Verfahren S 9 U 64/15) rechtswidrig ergangen sein dürfte, da zumindest bis zum 23.03.2003 eine MdE von mindestens 30 vH bestanden habe. Im hiesigen Verfahren S U 601/14 bestehe ein MdE von 20 vH auf Dauer. Bei Verletzung mehrerer Körperteile sei unter Berücksichtigung der Gesamtumstände von einer Addition der MdE-Sätze auszugehen, die Verletzungsfolgen würden sich in ihren Wirkungen nicht überschneiden.

Mit Schreiben vom 09.11.2018 (zu S 9 U 601/14) hat die Beklagte unter Hinweis auf die beratungsärztliche Stellungnahme von M1 vom 02.08.2018 vorgetragen, dass das Gutachten des K hinsichtlich der Ausführungen zum Zeitpunkt der Untersuchung schlüssig und nachvollziehbar sei. Allerdings könne sich die Beklagte seiner MdE-Einschätzung im Zeitraum vom 05.11.2001 - 23.03.2003 nicht anschließen. Die Symptome einer Anpassungsstörung würden in der Regel selten länger als 6 Monate anhalten. Warum der Sachverständige hier von einem seltenen Fall ausgehe, bei dem die Anpassungsstörung 2 Jahre andauere, sei von ihm nicht plausibel begründet worden. Beim Kläger hätten im oben genannten Zeitraum keine MdE-relevanten Gesundheitsstörungen vorgelegen, die zu einer anhaltenden Störung der Anpassung an die körperlichen Unfallfolgen geführt haben könnten.

Die Streitsachen S 9 U 601/14 und S 9 U 64/15 sind in der Sitzung des SG am 22.01.2019 gemäß § 113 Abs. 1 SGG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Aktenzeichen S 9 U 64/15 fortgeführt worden.

Mit Urteil vom 22.01.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 verurteilt, eine Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion sowie eine distale Radiusfraktur mit Abriss des Processus styloideus ulnae rechts und eine Fraktur im Bereich der Basis der Mittelhandknochen IV (und III) sowie des Os trapezium links als Unfallfolgen anzuerkennen und Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Das SG hat sein Urteil im Wesentlichen wie folgt begründet:
 
Der Bescheid der Beklagten vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Er habe Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 und Zahlung von Verletztenrente für den Zeitraum 05.11.2001 bis 22.03.2003 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Darüber hinaus habe der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente. Die Beklagte habe mit Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2014 zu Recht eine Neufeststellung einer Rente abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Voraussetzungen für eine Verletztenrente nicht mehr vorgelegen.

Die Beklagte habe dem Kläger zunächst im Bescheid vom 11.08.2004 aufgrund des Ereignisses vom 23.03.2001 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE in Höhe von 30 vH zugesprochen. Die Aufhebung dieser Verletztenrente sowie Forderung des Rückzahlungsbetrages hätten im Zusammenhang mit der unterlassenen Angabe des Klägers eines im Jahr 1989 erlittenen Tinnitus gestanden, der damals auch als Wehrdienstbeschädigung geltend gemacht worden sei. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, insbesondere die Tinnitusproblematik aufzuklären auch hinsichtlich Abgrenzungsfragen, insbesondere welche Unfallfolgen auf das Unfallgeschehen vom 23.03.2001 zurückzuführen seien und welche nicht. Das habe die Beklagte aus Sicht des Gerichts nicht hinreichend getan. Daher seien aus Sicht des Gerichts weitere Sachermittlungen im Rahmen der 2. Alternative des § 44 Abs. 1 SGB X geboten gewesen.

Nach Überzeugung des Gerichts würden beim Kläger aufgrund des Unfalls vom 23.03.2001 folgende Gesundheitsstörungen vorliegen: Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion sowie eine distale Radiusfraktur mit Abriss des Processus styloideus ulnae rechts und eine Fraktur im Bereich der Basis der Mittelhandknochen IV (und III) sowie des Os trapezium links. Die Beeinträchtigungen auf HNO-ärztlichem Fachgebiet seien nach Überzeugung des Gerichts nicht Unfallfolgen. Diese Überzeugung stütze das Gericht auf die Gutachten von R3, S3 sowie deren ergänzende Stellungnahme, P sowie deren ergänzende Stellungnahme und K.

Das Gericht sei davon überzeugt, dass für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 die Gesamt-MdE 20 vH betragen habe. Ab 23.03.2003 betrage die Gesamt-MdE 10 vH. Allerdings sei hier zunächst § 44 Abs. 4 SGB X zu beachten, so dass Sozialleistungen frühestens ab dem 01.01.2010 in Betracht kämen (vgl. gerichtliches Schreiben vom 23.02.2016). Daher sei von der Beklagten für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 tatsächlich keine Leistung zu erbringen, auch wenn diese dem Kläger zugestanden hätte. Allerdings wirke sich die Entscheidung auf die im August 2009 geleistete Zahlung von 25.906 Euro aus. Diese sei (teilweise) ohne Rechtsgrund erfolgt. Dem Kläger habe vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH zugestanden. Den entsprechenden Betrag hätte er nicht zurückzahlen müssen. Verjährung liege hier aufgrund der Hemmung der Verjährung nicht vor. Die Klage habe daher teilweise Erfolg (gehabt).

Gegen das am 31.01.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 06.02.2019 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt (Eingang beim LSG am 12.02.2019) und - unter Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen der Beklagten - eine Verletztenrente mit einer MdE von mindestens 20 beantragt. Im Wesentlichen wurde die Berufung wie folgt begründet:

Der Bescheid vom 26.08.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 sei zu Unrecht ergangen. Im Aufhebungszeitraum habe eine MdE von 30 vH, mindestens jedoch von 20 vH bestanden. Die Rücknahme habe nach diesseitigem Verständnis auch nicht nach § 45 SGB X erfolgen können, da ein mindestens grob fahrlässiges Verhalten keinesfalls vorgelegen habe. Der Kläger sei zu keinem Zeitpunkt über einen vorbestehenden Tinnitus befragt worden und sei vor dem streitigen Arbeitsunfall völlig beschwerdefrei gewesen. Das ergebe sich u. a. aus dem damaligen Reha-Entlassungsbericht. Keinerlei Aussagekraft habe die strafrechtliche Verurteilung, die für das vorliegende Verfahren keinerlei Präjudiz habe. Wenn der Kläger insoweit angebe, keine wesentlichen Vorerkrankungen gehabt zu haben, sei dies nicht ungewöhnlich, zumal ihm unmittelbar nach dem Unfall von den behandelnden Ärzten gesagt worden sei, dass eine traumatische Luxation der Gehörknochen mit entsprechenden Folgen vorliege.

Auf psychiatrischem Fachgebiet seien die Unfallfolgen wesentlich beeinträchtigender und auch kausal auf den Unfall zurückzuführen. Hier sei insbesondere auf die Stellungnahmen von M, Beratungsarzt der Beklagten, einzugehen. Dieser sei stets zu dem Ergebnis gekommen, dass eine PTSD nicht vorliege, und habe sich damit in erheblichen Widerspruch zu der Einschätzung der behandelnden Ärzte und der Gutachter gesetzt. Nach neueren Erkenntnissen sei bei der PTSD die jeweilige Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen zu beachten und der Unfall des Klägers sei durchaus als sehr schwer zu werten. Nach alledem liege im streitgegenständlichen Zeitraum jedenfalls eine MdE von mindestens 20 vH vor, so dass eine Rente zu gewähren sei. Auf die Begründung im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 31.01.2019 zugestellte Urteil hat auch die Beklagte mit Schriftsatz vom 26.02.2019 Berufung zum LSG eingelegt (Eingang beim LSG am 27.02.2019).

Mit Schreiben vom 09.04.2019 hat die Beklagte ihre Berufung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Auffassung des SG, beim Kläger habe eine Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion als Unfallfolge vorgelegen und seine Erwerbsfähigkeit sei vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 in einem Umfang von 20 vH gemindert gewesen, sei unzutreffend. Weder habe das SG schlüssig dargelegt, wie es zu einer MdE-Einschätzung von 20 vH komme, noch habe es nachvollziehbar begründet, warum es zu der Überzeugung gelangt sei, dass sich beim Kläger eine unfallbedingte Anpassungsstörung entwickelt habe, die zu einer MdE von 10 vH auf psychiatrischem Fachgebiet für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 geführt habe.

Die vom SG getroffene Feststellung, dass auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet eine MdE von 10 vH aufgrund der anerkannten Unfallfolgen anzunehmen sei, sei auch aus Sicht der Beklagten zutreffend. Diese Feststellung entspreche den Bewertungen der erfahrenen Sachverständigen R3 (Gutachten vom 20.03.2017) und G (Gutachten vom 12.01.2009 im Verfahren zum Az. S 41 U 75/06).

Gleiches gelte auch hinsichtlich der Ausführungen im Urteil zur MdE-Bewertung mit 0 vH auf HNO-ärztlichem Fachgebiet. Das SG habe sich zu Recht auf das Gutachten von S3 vom 31.05.2017 und ihre ergänzenden Ausführungen vom 22.12.2017 sowie die Stellungnahme des Beratungsarztes der Beklagten B gestützt, wonach eine Kausalität zwischen den Hörstörungen am linken Ohr und dem Unfallereignis vom 23.03.2001 nicht mit der für die gesetzliche Unfallversicherung geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit bejaht werden könne. Darum komme auch der Kläger nicht herum, weshalb er mit seinem Vortrag in der Berufungsschrift nicht durchdringen könne, S3 habe eine MdE von 10 vH auf HNO-ärztlichem Fachgebiet angesetzt. S3 selbst habe konzediert, dass die Schwerhörigkeit am linken Ohr lediglich "wahrscheinlich" durch Schädigung der Gehörknöchelchenkette zustandegekommen sei und eine MdE von 10 vH an der oberen Grenze des Ermessenspielraums liege. Spekulation und Großzügigkeit könnten jedoch nicht Grundlage einer MdE-Bestimmung sein.

Anders verhalte es sich jedoch in Bezug auf die vom Gericht anerkannte Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion als Unfallfolge und einer daraus resultierenden MdE von 10 vH vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 sowie der Würdigung des Gesamtbilds aller Funktionseinschränkungen mit einem MdE-Wert von 20 vH für diesen Zeitraum.
 
Im Widerspruch zur Notwendigkeit einer integrierenden Gesamtschau der Gesamteinwirkungen aller Funktionseinschränkungen auf die Erwerbsfähigkeit, wovon das SG im Ausgangspunkt zu Recht ausgehe, nehme das SG eine Zusammenrechnung der jeweiligen MdE-Werte von jeweils 10 vH auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet und nervenärztlich-psychiatrischem Fachgebiet vor, indem es auf eine Gesamt-MdE von 20 vH erkenne. Anders sei dieser Wert der Gesamt-MdE nicht zu erklären. Es sei jedenfalls nicht im Ansatz ersichtlich, dass das SG eine Gesamtwürdigung aller Funktionseinschränkungen vorgenommen respektive Erwägungen angestellt hätte, ob und inwieweit sich den festgestellten Gesundheitsstörungen zurechenbare Funktionseinschränkungen überschneiden; es stelle lediglich lapidar fest, dass es davon überzeugt sei, dass für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 die Gesamt-MdE 20 vH betragen habe. Die Entscheidung sei nicht nachvollziehbar; es liege somit ein erheblicher Mangel in der Entscheidungsfindung vor.
 
Die Beklagte halte aber schon eine MdE von 10 vH auf psychiatrischem Fachgebiet für nicht zutreffend. Entgegen der Auffassung des SG würden die Gutachten der P vom 19.09.2017 bzw. 26.02.2018 und des K vom 04.06.2018 die Entscheidung des SG nicht tragen, dass beim Kläger eine unfallbedingte Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion vorliege, die mit einer MdE von 10 vH für die Zeit vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 zu bewerten sei.
 
Unter Zugrundelegung der ICD-10-Definition von "Anpassungsstörungen" bestünden bereits erhebliche Zweifel am Vorliegen eines unfallbedingten "belastenden Lebensereignisses", an das sich der Kläger hätte anpassen sollen. Aus den Akten ergebe sich, dass der Kläger keine Erinnerung an das Unfallgeschehen habe.

Ausweislich des Gutachtens von P habe der Kläger angegeben, dass erst ein bis zwei Jahre nach dem Unfall psychische Probleme aufgetreten seien, die er selbst mit seiner Entlassung als Wirt des Sportheims in Zusammenhang gebracht habe. Demnach sei auch nicht der Unfall das die Probleme auslösende belastende Ereignis gewesen, sondern die ihm im privaten Bereich widerfahrene Schmähung. P habe auch nicht die von S1 im Oktober 2003 diagnostizierte Anpassungsstörung bestätigen können, da sie mangels Objektivierung nicht verwertbar (gewesen) sei. Im Übrigen habe sie ausgeführt, dass geeignete Brückensymptome fehlen würden und ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit im November 2001 nervenärztlich keine MdE von 10 vH zu rechtfertigen sei. Auch in den Folgemonaten hätten sich keine Hinweise auf psychiatrische oder neurologische Besonderheiten gefunden.

Zwar habe K in seinem Gutachten eine Anpassungsstörung mit länger dauernder depressiver Reaktion diagnostiziert, das SG hätte seine Entscheidung auf dieses Gutachten jedoch nicht stützen dürfen. Denn das (Antrags-)Gutachten vermöge nicht zu überzeugen, weil es entscheidend vom medizinischen Erkenntnisstand abweiche, wonach Symptome einer Anpassungsstörung selten länger als sechs Monate andauerten. Weshalb beim Kläger der seltene Fall vorliegen sollte, dass die (unfallbedingten) Symptome länger andauerten, begründe der Sachverständige jedoch nicht. Der Verweis auf die Referenzbefunde des Klinikums B oder des S1 sei insoweit untauglich, da diese Untersuchungsberichte auf den Angaben des Klägers beruhen würden und die geklagten Beschwerden nicht objektiv gesichert worden seien.

Auch die Angaben im Gutachten zum erstmaligen Auftreten der Symptome seien nicht in Einklang zu bringen mit der späteren Diagnose einer Anpassungsstörung. Auf S. 3 des Gutachtens werde der Kläger mit der Aussage zitiert, die psychischen Probleme hätten sechs bis zwölf Monate nach dem Unfall begonnen; nach den medizinischen Erfahrungswerten würden die Symptome jedoch innerhalb eines Zeitraums von längstens drei Monaten nach dem initialen Ereignis auftreten. Auffallend sei zudem, dass der Kläger bei der Anamnese immer wieder sehr betont auf das Unfallgeschehen eingehe ("habe jetzt noch Albträume", "Situation kommt immer wieder hoch" "habe Schlafstörungen, habe dauernd an den Unfall denken müssen", "habe Flashbacks bekommen"), während er bei den zahlreichen vorausgegangenen Begutachtungen stets erklärt habe, keine Erinnerung an den Unfall zu haben.
 
Angesichts dieser offensichtlichen Unzulänglichkeiten und Inkonsistenzen, die sich aus dem Gutachten des K ergäben, wäre das SG verpflichtet gewesen, das Gutachten besonders kritisch zu würdigen, was es jedoch unterlassen habe. Es hätte sonst festgestellt, dass der Diagnose des K aus den oben aufgeführten Gründen nicht gefolgt werden könne. An dem Versäumnis des SG ändere es auch nichts, wenn es hinsichtlich des MdE-Werts von der Einschätzung des Sachverständigen im Urteil abgewichen sei. Denn es habe ohne eigene Sachkunde und ausreichende Begründung eine MdE von 10 vH für den Zeitraum vom 05.11.2001 bis 22.03.2003 angenommen, obwohl die Sachverständige P ausdrücklich festgestellt habe, dass ab November 2001 gerade keine MdE von 10 vH zu rechtfertigen sei. Im Gegensatz zum SG habe die Sachverständige ihre Auffassung jedoch nachvollziehbar begründet.

Soweit der Kläger in der Berufungsschrift vortrage, dass bei ihm eine PTSD als Unfallfolge anzuerkennen sei, sei sein Vortrag unsubstanziiert. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte auf das Vorliegen einer PTSD; selbst der mit dem Antragsgutachten beauftragte K führe in seinem Gutachten aus, dass die Kriterien einer PTSD nie vorgelegen hätten.

Mit Schreiben vom 27.10.2022 hat der Kläger durch seine Bevollmächtigten einen Befundbericht vom 07.01.2021 des D N übersenden lassen, der der Beklagten zur Kenntnis gegeben worden ist. Hierzu hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 18.11.2022 Stellung genommen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG München vom 22.01.2019 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2015 zu verpflichten, den Bescheid vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2006 aufzuheben.

Weiter beantragt er,
den Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2014 aufzuheben, hilfsweise dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH oder mehr auf Grund seines Antrags vom 17.02.2014 zuzusprechen.

Weiter beantragt der Kläger als Berufungsbeklagter,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG München vom 22.01.2019 aufzuheben und die Klagen vollständig abzuweisen.

Weiter beantragt die Beklagte als Berufungsklägerin,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 sowie die Akten des LSG (L 2 U 44/19), des SG (S 9 U 601/14 und S 9 U 64/15) und der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

1. Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG). Sie bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.

2. (Streit-)Gegenstand des Berufungsverfahrens ist vorrangig das - aus dem zuletzt gestellten Antrag ersichtliche - Begehren des Klägers auf Aufhebung des für den Kläger negativen Überprüfungsbescheids vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 und Verpflichtung der Beklagten, den auf § 45 SGB X gestützten Rücknahmebescheid vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 gemäß § 44 SGB X zurückzunehmen, also den Zustand wiederherzustellen, wie er dem Bescheid vom 11.08.2004 entspricht.

(Streit-)Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Argumentation des Klägers folgend - nachrangig gegenüber dem Überprüfungsantrag - weiter der Neufeststellungsbescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2014. Vorliegend erschöpft sich der Hauptantrag des Klägers in der Aufhebung der ablehnenden Entscheidung, was insofern logisch ist, wenn mit dem Kläger davon ausgegangen wird, dass er bereits im Verfahren des Überprüfungsantrags Erfolg hat und ihm daher Rente (nach einer MdE von 30 vH) infolge des Bescheids vom 11.08.2004 zusteht und daher der Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2014 wegen entgegenstehender Rechtskraft des Bescheids vom 11.08.2004 aufzuheben ist. Lediglich hilfsweise, nämlich für den Fall eines Verlierens des Klägers im Verfahren betreffend den Überprüfungsbescheid, ist der Verpflichtungsantrag auf Verurteilung der Beklagten auf Rentenzahlung gestellt, da dieser Antrag obsolet wird, wenn der Kläger im Verfahren des Überprüfungsantrags obsiegt.

3. Die Berufung des Klägers erweist sich in der Sache im Wesentlichen als begründet, sodass das Urteil des SG vom 22.01.2019 aufzuheben war.

Der streitgegenständliche Überprüfungsbescheid vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 ist weitgehend rechtswidrig, weil der (mittelbar streitgegenständliche) Rücknahmebescheid der Beklagten vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 - mit Ausnahme der Rücknahme der im Bescheid vom 11.08.2004 festgestellten Unfallfolge "hörschwellennahes hochfrequentes Ohrgeräusch" - rechtswidrig ist, und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Die Beklagte war daher zu verpflichten, auf den Überprüfungsantrag des Klägers hin die vorgenannten Bescheide mit Ausnahme der Rücknahme der im Bescheid vom 11.08.2004 vorstehend bezeichneten Unfallfolge aufzuheben (dazu 3.1).

Die die Verletztenrente ablehnende Behördenentscheidung (Bescheid der Beklagten vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 29.09.2014) erweist sich ebenfalls als rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in seinen Rechten und wird aufgehoben (dazu im Folgenden 3.2).

3.1 Das SG hat im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend zugrunde gelegt, dass § 44
SGB X unter bestimmten Voraussetzungen eine ausnahmsweise Abweichung von der Bindungswirkung (Bestandskraft) unanfechtbarer und damit für die Beteiligten bindend gewordener sozialrechtlicher Verwaltungsakte (§ 77 SGG) ermöglicht, um damit materielle Rechtmäßigkeit herzustellen. Sinn und Zweck des § 44 SGB X ist nicht, die Fristenregelungen im Zusammenhang mit der Frage der Bestandskraft von Entscheidungen der Verwaltung oder auch der Gerichte auszuhebeln und die mit der Bestandskraft bezweckte Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden in das Belieben der Beteiligten zu stellen. Wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift ist eine Durchbrechung der Bestandskraft nur unter ganz eingeschränkten Voraussetzungen möglich. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X muss bei der bestandskräftig gewordenen Entscheidung entweder das Recht unrichtig angewandt worden sein (1. Alternative) oder die Behörde muss bei Erlass des bestandskräftig gewordenen Verwaltungsaktes von einem Sachverhalt ausgegangen sein, der sich nachträglich aufgrund des Bekanntwerdens neuer Tatsachen als unrichtig erwiesen hat (2. Alternative).

Bei der ersten Alternative handelt es sich um eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R, BSGE 97, 54 = BeckRS 2007, 40679). Eine Überprüfung in diesem Sinn bedeutet jedoch nicht, dass eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts mittels neuer Ermittlung des Sachverhalts und neu einzuholender Gutachten durchzuführen wäre. Vielmehr ist lediglich aus rein rechtlicher Sicht zu würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt und in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist.

Für die zweite Alternative kommt es - im Gegensatz zur ersten Alternative - auf die Benennung neuer Tatsachen bzw. Beweismittel und ein abgestuftes Verfahren an (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006, a.a.O.). Ergibt sich bei diesem Verfahren nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte tatsächlich nicht vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen (Bayer. LSG, Urteil vom 19.11.2014 - L 15 VS 4/13, BeckRS 2015, 71345).

Hat eine Behörde unter zutreffender Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB X eine erneute Sachprüfung und Sachentscheidung zurecht abgelehnt, kann sich das Gericht über diese Entscheidung nicht hinwegsetzen und den gesamten Sachverhalt einer wiederholten Prüfung insbesondere durch Einholung neuer Gutachten unterziehen. Denn § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gibt nur der Verwaltung selbst, nicht aber dem Gericht die Möglichkeit, sich über eine frühere negative Entscheidung zugunsten des Antragstellers hinwegzusetzen und den gesamten Sachverhalt einer erneuten Prüfung zu unterziehen (zuletzt Bayer. LSG, Urteil vom 07.11.2019 - L 20 KR 323/19, unter Hinweis auf die st. Rspr. des 15. Senats seit dem Urteil vom 18.02.2014 - L 15 VK 3/12, BeckRS 2014, 127052; ebenso Bayer. LSG, Urteil vom 18.12.2017 - L 2 U 386/15; und Beschluss vom 31.03.2022 - L 2 U 258/17; jeweils juris).

Zum rechtlichen Ausgangspunkt zählt im vorliegenden Fall - neben § 44 SGB X, auf den die streitgegenständliche Entscheidung der Beklagten vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 gestützt worden ist - die Vorschrift des § 45 SGB X, auf den der mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 überprüfte Verwaltungsakt der Beklagten vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 gestützt worden ist. Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, was nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift auch (nur) teilweise erfolgen kann ("Soweit..."). Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Nach Satz 3 des Absatzes 2 kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2). In den Fällen des Ausschlusses des Vertrauenstatbestands nach der Nr. 2 (und der Nr. 3) kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung in Abweichung von § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X bis zum Ablauf von 10 Jahren zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X). § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X sieht für den Fall des Ausschlusses des Vertrauenstatbestands zudem vor, dass der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird. Nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde dies allerdings innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts hat die zurücknehmende Behörde von Amts wegen zu ermitteln (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X); auch im eventuell folgenden Verfahren vor den Sozialgerichten gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 Satz 1 SGG). Die Rechtswidrigkeit der begünstigenden Entscheidung muss feststehen, wobei dafür der Zeitpunkt ihres Erlasses maßgebend ist. Von einer Rechtswidrigkeit in diesem Sinne ist aber auch dann auszugehen, wenn die in dem zurückzunehmenden Bescheid eingeräumte begünstigende Rechtsposition erst auf der Grundlage später zu Tage getretener Erkenntnisse bereits aus damaliger Sicht rechtsfehlerhaft war (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.11.2020 - L 8 U 63/17, juris, Rn. 23 des Urteils, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 02.05.2009 - B 2 U 25/07 R, juris, Rn. 17 des Urteils, jeweils m.w.N.).

Der Umstand, dass die Rechtswidrigkeit einer (bestandskräftig gewordenen) Verwaltungsentscheidung im Rahmen eines Rücknahmebescheids nach § 45 SGB X zu prüfen ist, bewirkt keine Änderung des Beweismaßstabs bei der Beurteilung der ursprünglich getroffenen Entscheidung. Vielmehr ist derselbe Beweismaßstab anzulegen, wie er bei einer originären Prüfung dieser Entscheidung zu beachten gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 02.11.1999 - B 2 U 47/98 R, und vom 20.03.2007 - B 2 U 27/06 R; beide juris). Dies bedeutet, dass eine Anerkennung von Unfallfolgen nach § 45 SGB X nur zurückgenommen werden kann, wenn sich bei erneuter Prüfung herausstellt, dass die anerkannte Unfallfolge nicht hinreichend wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen ist - denn die Anerkennung von Unfallfolgen setzt einen im Sinne des Beweismaßstabs der hinreichenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesenen Zusammenhang voraus. Eine Entziehung oder Herabsetzung der Verletztenrente setzt - bei Anwendung der aufgezeigten Grundsätze - voraus, dass die bislang der Rentengewährung zugrunde gelegte MdE nicht im Vollbeweis nachgewiesen ist - denn die einer Verletztenrente zugrunde gelegte MdE muss im Vollbeweis nachgewiesen sein.

Wenn sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten und unter Berücksichtigung des im gerichtlichen Verfahren nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG geltenden Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht feststellen lassen, gilt auch im Sozialverfahrensrecht und Sozialgerichtsprozess der Grundsatz der objektiven Beweislast. Die Nichterweislichkeit einer Tatsache geht dann zu Lasten desjenigen, der aus ihr eine bestimmte, für ihn günstige Rechtsfolge herleitet. Das ist im Fall des § 45 SGB X die Behörde, die sich darauf beruft, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig war und dass ein Vertrauen des Betroffenen nicht besteht bzw. nicht schutzwürdig ist (zur Beweislastverteilung bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X siehe Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., Stand: 10.08.2022, § 45 SGB X Rn. 118 f.; LSG Schleswig-Holstein, a.a.O., Rn. 26 des Urteils; BSG, Beschluss vom 20.07.2017 - B 8 SO 12/17 BH, BeckRS 2017, 122090, Rn. 7 des Beschlusses; jeweils m.w.N.). Der Umstand, dass eine (bestandskräftig gewordene) Verwaltungsentscheidung Gegenstand eines Verfahrens nach § 45 SGB X wird, bedeutet somit für die Beurteilung der ursprünglichen Entscheidung keine Änderung der zu beachtenden Beweismaßstäbe, sehr wohl aber eine Umkehr der objektiven Beweislast bei Nichterweislichkeit der Tatsache.

Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies Folgendes:

Der streitgegenständliche (Überprüfungs-)Bescheid vom 17.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2015 ist an den Maßstäben der 1. Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu messen. Denn der Kläger hat keine neuen Tatsachen vorgetragen und die Beklagte hat eine Überprüfung unter Hinweis auf die Bestandskraft des Rücknahmebescheids abgelehnt, ist also nicht aus eigener Initiative wieder in eine volle Sachprüfung eingestiegen. Der Senat hat daher (nur) zu prüfen, ob der bestandskräftig gewordene und auf § 45 SGB X gestützte (Rücknahme-)Bescheid vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 unter Zugrundelegung der damals bekannten Umstände rechtswidrig war oder nicht. Dabei kommt der Senat zu der Einschätzung, dass der Rücknahmebescheid nur insofern rechtmäßig war, als mit ihm die Anerkennung der Unfallfolge "hörschwellennahes hochfrequentes Ohrgeräusch" zurückgenommen worden ist. Im Übrigen erweist sich der Rücknahmebescheid als rechtswidrig.

Gemessen an den zu § 45 SGB X aufgezeigten Grundsätzen steht im vorliegenden Fall zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger über die (Vor-)Erkrankung seines linken Ohres im Vorfeld des (Ausgangs-)Bescheides vom 11.08.2004 vorsätzlich, zumindest aber grob fahrlässig Angaben gemacht hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig (gewesen) sind, und der Bescheid vom 11.08.2004 auch auf diesen Angaben beruht. So hat der Kläger im Rahmen der Anamnese zum Gutachten der HNO-Klinik P vom 17.07.2002 angegeben, dass ihm noch in der Klinik eine Minderung der Hörfähigkeit links sowie ein Ohrgeräusch aufgefallen sei, das sich seither nicht verändert habe, wobei sein Gehör vorher gänzlich normal gewesen sei. Seit dem Unfall leide er u.a. an einem linksseitigen Ohrgeräusch, das sich auch bei geringer Lärmexposition erheblich verstärke. In der Begutachtungssituation durch O/L (Gutachten vom 05.08.2003) hat der Kläger gemäß "Medizinische Vorgeschichte" angegeben, dass keine wesentlichen Vorerkrankungen bekannt seien und er wesentliche Verletzungen bislang nicht gehabt habe. Sodann hat er bei S (Gutachten vom 29.10.2003) im Rahmen der Anamnese angegeben, dass er bis auf die jetzigen Gesundheitsstörungen früher im Wesentlichen gesund gewesen sei. Bei der Untersuchung und Begutachtung in der Klinik R in P1 (Bericht vom 14.06.2004) hat der Kläger bei seiner Aufnahme berichtet, dass seit dem Unfallereignis am 23.03.2001 ein Ohrgeräusch links bestehe. In dem Punkt "Eigenanamnese" wurde sodann festgehalten: "Neben den oben beschriebenen, seit dem Unfall bestehenden Erkrankungen mit Tinnitus aurium links und Hyperakusis sowie wiederholtem Schmerz bei Gebrauch der oberen Extremitäten und wiederholten Kopfschmerzen berichtet Herr A über keine weiteren Vorerkrankungen von körperlicher Seite". Diese Angaben des Klägers waren letztlich der Grund dafür, dass die Ohrgeräusche mit Bescheid vom 11.08.2004 als Unfallfolge anerkannt worden sind.

Mit all diesen Angaben hat der Kläger zur vollen Überzeugung des Senats bewusst verschwiegen, wenigstens aber die erforderliche Sorgfalt bei seinen Angaben in besonders schwerem Maße verletzt, dass er bereits vor dem Arbeitsunfall am 23.03.2001 an einer (Vor-)Erkrankung am linken Ohr litt, weil er bei der Bundeswehr am 24.04.1989 einen Tinnitus links mit Hörminderung nach einem Knalltrauma erlitten hatte und - wie sich aus dem Reha-Entlassungsbericht der (damaligen) LVA Oberbayern vom 27.04.1998 ergibt - in der Folge ein pfeifendes Geräusch unterschiedlicher Intensität gehört hat und mehrere stationäre Aufenthalte mit Infusionsbehandlungen erfolgt waren. Die Einlassungen des Klägers nach der Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme nach § 45 SGB X (Schreiben der Beklagten vom 06.07.2005), die im Wesentlichen davon geprägt waren, dass das Ereignis schon viele Jahre zurückliege und aus den ärztlichen Stellungnahmen nicht ersichtlich sei, dass der Kläger über Beschwerden, die schon so lange Zeit zurücklägen, irgendwann jemals gefragt worden sei (Stellungnahme der damaligen Bevollmächtigten vom 27.07.2005), wertet der Senat als nicht glaubhafte Schutzbehauptungen. Angesichts des Umstands, dass es sich bei dem Vorfall vom 24.04.1989 bei der Bundeswehr immerhin um ein solch einschneidendes Ereignis gehandelt hat, dass in dessen Folge der Kläger wegen der Tinnitus-Probleme umfassend medizinisch behandelt wurde (mehrfache stationäre Aufenthalte, Reha-Aufenthalt) und das sogar zu einem sozialgerichtlichen/soldaten-versorgungsrechtlichen Verfahren (SG München zum Az. S 39 V 363/89.SVG) führte, sprechen die oben wiedergegebenen Angaben des Klägers anlässlich der ärztlichen Untersuchungen/Begutachtungen sehr stark gegen die Behauptung, wegen des Zeitablaufs nicht mehr an die (Vor-)Erkrankung des linken Ohres gedacht zu haben. Für diese Wertung des Senats spricht schließlich auch, dass der Kläger in der Folge aufgrund der Hauptverhandlung vom 06.03.2007 vom Amtsgericht B wegen versuchten Betrugs zu Lasten der Beklagten (zu einer Geldstrafe) verurteilt worden ist (Az.: 1 Ds 13 Js 23020/05), obgleich er sich ausweislich des Sitzungsprotokolls dahingehend eingelassen hatte, dass er das Knalltrauma nicht angegeben habe, weil er "nicht mehr daran gedacht" habe und der Tinnitus vor dem Unfall "jedenfalls völlig weg" gewesen sei, was das Amtsgericht nicht gehindert hat, von einer vorsätzlichen Tatbegehung auszugehen.

Weiter steht für den Senat fest, dass das "hörschwellennahe hochfrequente Ohrgeräusch" keine Unfallfolge darstellt, da es nicht hinreichend wahrscheinlich auf den Arbeitsunfall vom 23.03.2001 zurückzuführen ist. Dabei stützt sich der Senat auf die Hinweise des von der Beklagten gehörten M (Stellungahme vom 12.06.2005) und den Umstand, dass die Anerkennung des Tinnitus als Unfallfolge wesentlich auf die Annahme zurückzuführen ist, dass vor dem Unfall keine Ohrgeräusche vorgelegen haben, was aber nachweislich falsch ist.

Nachdem die Beklagte im Bescheid vom 11.08.2004 u.a. das "hörschwellennahe hochfrequente Ohrgeräusch" ausdrücklich als Unfallfolge anerkannt hat, obwohl nach den vorstehenden Ausführungen ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang nicht nachgewiesen ist, ist die unrichtige bzw. unvollständige Angabe des Klägers für die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 11.08.2004 auch ursächlich geworden (vgl. zum Erfordernis der Ursächlichkeit Padé, a.a.O., § 45 SGB X Rn. 85).

Die Beklagte war damit zwar dem Grunde nach berechtigt, den Bescheid vom 11.08.2004 gemäß § 45 Abs. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X) zurückzunehmen, ohne dass sich der Kläger auf Vertrauensschutz hätte berufen können (§ 45 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 3 Nr. 2 SGB X). Nach erstmaliger Kenntnis des stattgefundenen stationären Aufenthalts (Aktennotiz vom 21.04.2005) und Kenntnis des Grundes der stationären Behandlung des Klägers (Eingang des Reha-Entlassungsberichts der LVA Oberbayern vom 27.04.1998 bei der Beklagten am 12.05.2005) hat die Beklagte den Rücknahmebescheid am 26.08.2005 auch so zeitnah erlassen, dass die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten worden ist (zu den zeitlichen Grenzen der Rücknahme für die Vergangenheit auch im Falle des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X siehe Padé, a.a.O., § 45 SGB X Rn. 110).

Der Rücknahmebescheid vom 26.08.2005 erweist sich jedoch deshalb als insoweit rechtswidrig, weil die Beklagte den Bescheid vom 11.08.2004 und die darin festgesetzte Verletztenrente zu Unrecht vollständig, d.h. so zurückgenommen hat, dass keinerlei Unfallfolgen und damit keine MdE in rentenberechtigender Höhe bestanden haben. Ausweislich der Bescheidsbegründung ist die Beklagte davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 11.08.2004 rechtswidrig (gewesen) sei, weil zu Unrecht von einer MdE von 30 vH ausgegangen worden sei. Nachdem der Tinnitus und die Hörminderung links bereits vor dem Unfallereignis bestanden hätten, habe die Auswertung der medizinischen Unterlagen ergeben, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorgelegen hätten. Der Unfall habe zu keinen Verletzungen zentral- oder peripher-neuronaler Strukturen, also des Gehirns, des Rückenmarks, von Rückenmarknervenwurzeln und Nervengeflechten oder peripherer Nerven geführt. Auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet bestehe somit keine MdE. Die Fraktur des 4. Mittelhandknochens links sowie des os. trapezium links seien ohne wesentliche Folgen ausgeheilt. Es würden lediglich die Folgen der distalen Radiusfraktur rechts verbleiben und diese würden eine MdE von 10 vH rechtfertigen.

Die auf die Falschangaben des Klägers zurückzuführende Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 11.08.2004 rechtfertigt jedoch bei weitem nicht die von der Beklagten mit Bescheid vom 26.08.2005 ausgesprochene (umfassende) Rücknahme. Mit Bescheid vom 26.08.2005 hat die Beklagte den Bescheid vom 11.08.2004 betreffend die Anerkennung von Unfallfolgen und die Gewährung von Rente vollständig aufgehoben, obwohl ursprünglich nur eine einzige von mehreren Unfallfolgen rechtswidrig anerkannt worden war und diese eine rechtwidrig anerkannte Unfallfolge auch keine Auswirkung auf die der Rente zugrunde gelegte MdE hat. Für eine Rücknahme des Bescheids vom 11.08.2004 alle Unfallfolgen betreffend ist aber kein Rechtsgrund ersichtlich; eine umfassende Rücknahme ist durch die Falschangaben des Klägers zum Tinnitus nicht zu rechtfertigen. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Anerkennung von psychiatrischen Unfallfolgen in keinerlei Zusammenhang mit der Anerkennung des Tinnitus als Unfallfolge steht. Keiner der von der Beklagten vor der Anerkennung von Unfallfolgen gehörten Sachverständigen oder Beratungsärzte hat die auf psychiatrischem Fachgebiet mit Bescheid vom 11.08.2004 unter Ziff. 2 anerkannten Unfallfolgen nur deshalb in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 23.03.2001 gesehen, weil er diese Unfallfolgen als durch einen unfallbedingten Tinnitus verursacht gesehen hat. Insofern ist kein Grund ersichtlich, warum falsche Angaben des Klägers zum Tinnitus die Rücknahme anderer anerkannter Unfallfolgen rechtfertigen könnte. Eine Rücknahme sämtlicher anerkannter Unfallfolgen, weil zu einer einzigen Unfallfolge vom Kläger falsche Angaben gemacht worden sind, würde eine Sanktionierung von Falschangaben mit Strafcharakter darstellen, für die das SGB X keine Rechtsgrundlage enthält. Auch eine Entziehung der Verletztenrente wird vorliegend nicht von § 45 SGB X getragen. Denn der Umstand, dass der Tinnitus keine Unfallfolge ist, hat für die Höhe der MdE keine Bedeutung. Eine Einzel-MdE von unter 10 vH, wie sie für die Ohrgeräusche bei der Rentengewährung zugrunde gelegt worden ist, ist regelmäßig für die Höhe der Gesamt-MdE ohne Bedeutung. Auch ist nichts dafür ersichtlich, dass im vorliegenden Fall ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände die Einzel-MdE von unter 10 vH für die Bemessung der Gesamt-MdE von Bedeutung sein könnte; auch die Beklagte hat insofern nichts vorgetragen.

Vorliegend basierte die Gewährung der Rente auf unbestimmte Zeit ab 05.11.2001 nach einer Gesamt-MdE in Höhe von 30 vH auf der Grundlage der Stellungnahme von V vom 24.11.2003, der die Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet mit 10 vH, auf HNO-ärztlichem Fachgebiet mit unter 10 vH und auf neuropsychiatrischem Fachgebiet mit 20 vH bewertet hatte. Vorsätzlich, mindestens aber grob fahrlässig hat der Kläger jedoch nur hinsichtlich der (Vor-)Erkrankung am linken Ohr nachweislich falsche Angaben gemacht, so dass die gewährte Verletztenrente nur um den Anteil der Unfallfolgen auf HNO-ärztlichem Fachgebiet zurückgenommen werden konnte. Nachdem die Beklagte diesen Anteil selbst nur mit unter 10 vH bewertet hatte, vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die MdE nach dem Entfall der Unfallfolge auf HNO-ärztlichem Fachgebiet nur noch 20 vH oder gar 10 vH hätte betragen sollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei einem Entfall einer Teil-MdE von unter 10 vH die Gesamt-MdE weiterhin 30 vH betragen hat.

Der Senat kann sich den "überschießenden" Rücknahmebescheid nur mit der subjektiven Verärgerung der Beklagten über die Täuschung/falschen Angaben des Klägers erklären. Auch mag es sein, dass sich die Beklagte durch die Ausführungen des M (Stellungnahme vom 12.06.2005), der angesichts der bewusst falschen Angaben des Klägers zur Ursache des Tinnitus Zweifel an der Richtigkeit der übrigen von ihm geltend gemachten Unfallfolgen geäußert und Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet verneint hatte, weil auch insoweit der "dringende Verdacht (im Falle des Tinnitus wohl erwiesen) zweckgerichteten Bemühens" des Klägers bestehe, veranlasst gesehen hat, die Verletztenrente vollständig zurückzunehmen. Dieses Bemühen spiegelt sich auch in der oben zitierten Bescheidsbegründung wider, wonach die Beklagte vom Vorbestehen des Tinnitus und der Hörminderung darauf geschlossen hat, dass auch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorliegen. Einer rechtlichen Überprüfung hält dies jedoch - wie aufgezeigt - nicht Stand. Auch hat die Beklagte selbst, was sich aus der weiteren Bescheidsbegründung ergibt, die Rücknahme der Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet nicht auf unrichtige bzw. unvollständige Angaben des Klägers gestützt, sondern darauf, dass die vom Kläger geltend gemachten Unfallfolgen nicht objektiviert werden könnten und sich ausschließlich auf seine Beschwerdeschilderung stützen würden. Insofern lagen aber keine (vorsätzlichen oder grob fahrlässigen) Falschangaben des Klägers vor, die eine Rücknahme ermöglichen würden.

Selbst wenn es zutreffend wäre, dass die Anerkennung von Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet allein deshalb erfolgt wäre, weil sich die damalige (sachverständige) Einschätzung weitgehend nur auf die Angaben des Klägers gestützt hätte, tatsächlich aber keine Objektivierung dieser Angaben möglich wäre, wäre eine Rücknahme nach § 45 SGB X nicht möglich, weil dem ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X entgegenstünde. Was die psychiatrischen Unfallfolgen betrifft, könnte auch nicht von einem Entfallen des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X ausgegangen werden. Denn weder hat die Beklagte im Rücknahmebescheid vom 26.08.2005 dem Kläger auch Falschangaben zu seinen psychischen Beschwerden - anders als zu den Ohrgeräuschen - unterstellt noch sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger auch zu den psychiatrischen Unfallfolgen vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht hätte.

Nach alledem erweist sich der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 26.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2006 - mit Ausnahme der im Bescheid vom 11.08.2004 festgestellten Unfallfolge "hörschwellennahes hochfrequentes Ohrgeräusch" - als rechtswidrig und war die Beklagte zu verpflichten, die vorgenannten Bescheide mit Ausnahme der Rücknahme der vorstehend genannten Unfallfolge aufzuheben. Im Übrigen war die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

3.2 Der Bescheid vom 09.04.2014 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 29.09.2014, mit dem die Beklagte die vom Kläger beantragte Neufeststellung der Verletztenrente abgelehnt hat, ist rechtswidrig. Er steht im Widerspruch zum nunmehr bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 11.08.2004, nach dem der Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 30 vH erhält, und war daher aufzuheben.

4. Aus den vorstehend dargelegten Gründen folgt weiter, dass die Berufung der Beklagten (Berufungsklägerin) zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet ist. Sie war daher zurückzuweisen.

5. Die Entscheidung, dass die Beklagte dem Kläger sieben Achtel seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat, beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger nahezu vollständig obsiegt hat.

6. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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