L 10 U 3992/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 2340/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3992/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine dissoziative Bewegungsstörung ist nur dann hinreichend wahrscheinlich auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen, wenn dieser tatsächlich ein dramatisches Ereignis darstellt. Kommt es bei einem Angriff nur zu einem kurzen Handgemenge, welches das Opfer nach kurzer Zeit durch Flucht beenden kann und erleidet es lediglich leichte Verletzungen (hier: Platzwunde am Jochbein und Schädel-Hirn-Trauma I°), ist dies nicht der Fall.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 02.11.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand
 

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalls vom 27.10.2009 im Streit.

Der 1968 geborene Kläger war als Verkaufsleiter bei der R & J GmbH - einem M-B-Autohaus - in der B-Straße in E versicherungspflichtig beschäftigt. Am Morgen des 27.10.2009 befand er sich gegen 7 Uhr auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, als er auf dem Firmenparkplatz, auf dem er sein Kfz abgestellt hatte, nach dem Abschließen des Kfz von einem Unbekannten angegriffen wurde. Laut den eigenen Angaben des Klägers im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung wollte sich der Angreifer vermutlich in den Besitz des Autoschlüssels des Klägers bringen, da er mehrmals „Schlüssel“ rief. Es kam zu einem Handgemenge, aus dem sich der Kläger nach kurzer Zeit lösen und - ohne Herausgabe des Schlüssels - in das Autohaus flüchten konnte. Der Angreifer entkam unerkannt und konnte auch nicht ermittelt werden. Zum genauen Tathergang wird auf die polizeiliche Vernehmung des Klägers (Bl. 134 ff. VA) Bezug genommen. Seit dem 01.02.2011 bezieht er eine - zwischenzeitlich unbefristete - Rente wegen voller Erwerbsminderung seitens der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (Bl. 498 ff. VA und Bl. 36 Senatsakte L 10 U 799/15).

Der Kläger stellte sich daraufhin bei dem Durchgangsarzt (D-Arzt) W vor, der ein Schädelhirntrauma (SHT) I°, eine Platzwunde am Jochbein und eine Gehirnerschütterung diagnostizierte (Bl. 11 VA, Befund: wach, kreislaufstabil, vollständig orientiert, keine Amnesie, Übelkeit, einmaliges Erbrechen, Kopfschmerz, keine peripheren neurologischen Defizite, Pupillen rund, isocor und mit regelrechter und prompter Licht- und Konvergenzreaktion, keine Doppelbilder, NAP frei, Gesichtssensibilität intakt, Orbitaränder und Jochbogen ohne Anhalt für knöcherne Verletzung, oberflächliche Schürfwunde über rechtem Jochbein, kein Kalottendruck- oder -klopfschmerz, Kopf frei beweglich, kein DS entlang der HWS, DS über distalen MC-IV und MC-V links bei intaktem Hautmantel, Faustschluss möglich, kein Rotations-/Verkürzungsfehler, periphere Durchblutung, Motorik, Sensibilität intakt). Der Kläger wurde sodann bis zum 31.10.2009 stationär in der Klinik für Unfallchirurgie des H-Klinikums E behandelt (Bl. 6 f. VA, Entlassdiagnosen: SHT I°, Platzwunde rechtes Jochbein, Hypertonie). Eine am 19.11.2009 durchgeführte MRT des Schädels ergab einen unauffälligen Befund (Bl. 66 VA). Die Beklagte wertete den Überfall als Arbeitsunfall und zahlte dem Kläger (zunächst) Verletztengeld (s. Bl. 675 f. VA). Der Kläger nahm seither keinerlei berufliche Tätigkeit mehr auf (s. u.a. Bl. 90 SG-Akte).

Im Rahmen von Verlaufskontrollen am 16.12.2009 (Bl. 42 f. VA) und 07.01.2010 (Bl. 75 f. VA) klagte der Kläger über Schwindel. S diagnostizierte daraufhin einen Zustand nach (Z.n.) Schädelprellung, einen Verdacht auf (V.a.) Commotio cerebri und einen V.a. Schwindel zentralen Ursprungs. Am 15.01.2010 stellte sich der Kläger wegen anhaltender Schwindelbeschwerden mit Gangunsicherheit in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde des Universitätsklinikums T vor (Bl. 78 VA). Dort wurde ein Schwindel, ein SHT und ein Vestibularisausfall diagnostiziert. Im Rahmen einer neurologischen Untersuchung am 19.01.2010 wurde sowohl ein zentral-vestibulärer Schwindel, eine Dissektion der Carotiden, eine Wurzelkompression der HWS und eine Commotio cerebri ausgeschlossen und lediglich eine Schädelprellung diagnostiziert (Bl. 94 ff. VA). Aufgrund der durch den Schwindel verursachten Mobilitätseinschränkung verordnete der  S dem Kläger Ende Januar 2010 einen Rollator (Bl. 106 und 116 VA). Vom 05.02.2010 bis 12.02.2010 wurde der Kläger zur weiteren Abklärung einer neurologischen Symptomatik mit Schwindel, Gangunsicherheit, neuropsychologischen Ausfällen und Zittern in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum T untersucht. Weder die dort am 05.02.2010 erneut durchgeführte craniale MRT, noch eine Liquorpunktion ergaben einen auffälligen Befund. Es wurde eine dissoziative Bewegungsstörung sowie ein Vestibularisausfall links diagnostiziert (Bl. 157 f. VA).

Vom 18.02.2010 bis 24.03.2010 befand sich der Kläger in den Kliniken S1 zur Durchführung einer Berufsgenossenschaftlichen stationären Weiterbehandlung (BGSW, Bl. 182 ff. VA). Er berichtete von Schwank- und Drehschwindel, einem rechtsseitigen Tremor, Wortfindungs- und Rechenstörungen sowie einer ataktischen Gangstörung. Im Laufe der Behandlung trat eine deutliche Verbesserung des Gangbildes und der Gleichgewichtsstörungen auf. Da die objektivierbaren Organschäden (linksseitiger Vestibularisausfall) den ausgeprägten Aktionstremor, die ausgeprägte Zeigeataxie sowie die sich unter Ablenkung verbessernde Stand- und Gangataxie nicht befriedigend erklären konnten, wurde u.a. die Diagnose dissoziative Bewegungsstörungen gestellt. Diese Diagnose wurde auch seitens der BG-Unfallklinik T (BGU) nach einer ambulanten Vorstellung des Klägers am 01.07.2010 gestellt (Bl. 226 ff. VA). Die Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung lehnte der Kläger trotz fortbestehender Beschwerden (namentlich Gleichgewichtsstörungen mit Drehschwindel, Bewegungsstörungen besonders in den Beinen, Konzentrationsverminderung, geringgradige Sprechstörungen) und entsprechender Empfehlung ab (Bl. 254 f. VA).

Nach Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen durch die Beklagte wurde bekannt, dass sich der Kläger bereits im März (Bl. 292 ff. VA) und Juni 2004 wegen starker Kopfschmerzen und Schlafstörungen in ambulanter medizinischer Behandlung u.a. in der Universitätsklinik T (Bl. 284 ff. VA) und vom 06.07.2004 bis 06.08.2004 (Bl. 281 ff. VA) und - nach Verschlimmerung der Kopfschmerzsymptomatik - erneut vom 16.08.2004 bis 23.09.2004 (Bl. 274 ff. VA) schließlich wegen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome, einer atypischen Essstörung und einer Kopfschmerzsymptomatik in stationärer Behandlung in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der F-Klinik befunden hatte (Bl. 274 ff. und 281 ff. VA). Der Kläger schilderte damals massive Zukunftsängste, insbesondere auch im Hinblick auf seine Rückkehr zu seinem Arbeitsplatz in E.

Am 23.08.2011 erstattete M im Auftrag der Beklagten ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten (Bl. 595 ff. VA, Untersuchungstage: 22.07.2011 und 05.08.2011). M diagnostizierte eine dissoziative Störung der Bewegung nach Überfall und bei vorbestehender kombinierter Persönlichkeitsstörung sowie eine abgeklungene Schädelprellung und Gesichtsverletzung, wobei er jedoch lediglich die dissoziative Bewegungsstörung auf den Überfall zurückführte.

Die Beklagte holte daraufhin eine beratungsärztliche Stellungnahme des R ein (Bl. 664 ff. VA), der auch die dissoziative Störung nicht als Folge des Überfalls ansah, sondern diesen in Ansehung der bereits zuvor bestehenden Persönlichkeitsstörung des Klägers lediglich als Gelegenheitsursache wertete.

Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 28.09.2011 (Bl. 675 f. VA) die Zahlung von Verletztengeld mit Ablauf des 01.10.2011 ein und lehnte mit Bescheid vom 07.10.2011 (Bl. 694 f. VA) einen Anspruch auf Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ab. Der Unfall habe lediglich zu einer folgenlos verheilten Prellung des Schädels und einer folgenlos verheilten oberflächlichen Platzwunde über dem rechten Jochbein geführt. Die gegen diese Bescheide erhobenen Widersprüche (Bl. 698 ff. VA und 710 f. VA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 03.07.2012 (Bl. 785 ff. und 789 ff. VA) zurück.

Die hiergegen beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klagen (S 7 U 2167/12 und S 7 U 2168/12) wurden mit Beschluss vom 07.12.2012 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem gemeinsamen Aktenzeichen S 7 U 2167/12 fortgeführt. Das SG holte von Amts wegen ein Sachverständigengutachten bei W1 ein (Bl. 27 ff. SG-Akte S 7 U 2167/12, Untersuchungstag: 15.07.2013). W1 diagnostizierte ein leichtes gedecktes SHT 10/09 (laut Entlassungsbericht der erstbehandelnden Klinik), möglicherweise eine gemischte dissoziative Störung, wahrscheinlich einen Vestibularisausfall und eine schwere depressive Episode im Jahr 2004, ging von einer erhöhten psychischen Vulnerabilität des Klägers aus und bejahte daher lediglich einen Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem SHT. Bezüglich der anderen Störungen bestehe lediglich die Möglichkeit, dass diese auf den Überfall zurückzuführen seien.

Sodann holte das SG auf Antrag des Klägers gem. § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Sachverständigengutachten bei M1 ein (Bl. 75 ff. SG-Akte S 7 U 2167/12, Untersuchungstag: 06.06.2014). M1 diagnostizierte eine dissoziative Bewegungsstörung mit dissoziativer Sensibilitäts- und Empfindungsstörung sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), führte diese Erkrankungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurück und bewertete sie mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. In ihrer Stellungnahme vom 17.09.2014 trat die Beklagte den Ausführungen des M1 entgegen und führte auch aus, weshalb sie nicht davon ausgehe, dass der Vestibularisausfall eine Unfallfolge darstelle. Dieser sei erst mehrere Wochen nach dem Unfall, nämlich erstmals am 15.01.2010, diagnostiziert worden. Während seines stationären Aufenthalts im H-Klinikum E vom 27.10.2009 bis 31.10.2009 seien hingegen keine adäquaten erwartbaren Beeinträchtigungen aufgetreten (Bl. 104 f. SG-Akte S 7 U 2167/17).

Mit Urteil vom 09.02.2015 hob das SG den Bescheid vom 28.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2012 (Verletztengeld) auf und wies die Klage im Übrigen ab. In den Entscheidungsgründen seines Urteils führte es aus, dass der Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer dissoziativen Bewegungsstörung leide, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 27.10.2009 zurückzuführen sei. Diese dissoziative Bewegungsstörung bewirke seit dem 27.10.2009 eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit, aus der der Anspruch auf Verletztengeld gem. § 45 Abs. 1 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) resultiere. Daher sei auch kein Ende des Verletztengeldanspruchs eingetreten. Folglich habe der Kläger auch (noch) keinen Anspruch auf Verletztenrente, da diese gem. § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII erst beginne, wenn der Anspruch auf Verletztengeld ende. Im hiergegen seitens der Beklagten
- ebenfalls beim erkennenden Senat - geführten Berufungsverfahren (L 10 U 799/15) legte diese eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des R vom 12.05.2015 vor (Bl. 23 ff. Senatsakte L 10 U 799/15), in der dieser an seiner Auffassung, dass keine (dauerhaften) Unfallfolgen vorlägen, festhielt.

Die Beteiligten beendeten das Berufungsverfahren L 10 U 799/15 durch Abschluss eines Vergleichs (Bl. 39 Senatsakte L 10 U 799/15), in dem sie sich darauf einigten, dass der Anspruch des Klägers auf Verletztengeld mit Ablauf des 16.07.2015 ende (Nr. 1), die Beklagte bis zum 16.07.2015 Verletztengeld an den Kläger auszahle (Nr. 2) und gleichzeitig verpflichtete sich die Beklagte, über einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente ab dem 17.07.2015 nach weiterer Sachaufklärung durch rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu entscheiden (Nr. 3).

Im Anschluss daran strengte die Beklagte weitere medizinische Ermittlungen an (s. Bl. 1141 ff. VA) und befragte u.a. (schriftlich) die den Kläger behandelnden Ärzte. F teilte mit (Bl. 1141 f. VA), der Kläger habe sich erstmals am 19.11.2009 wegen Schwindelbeschwerden in seiner Behandlung befunden. Es habe Fallneigung und Übelkeit bestanden. Die Beklagte holte sodann das Gutachten bei T1 vom 09.09.2017 ein (Bl. 1447 ff. VA, Untersuchungstag: 02.08.2017). Dieser bestätigte zwar die Diagnose eines Ausfalls des Vestibularisorgans für die Vergangenheit, da der Kläger jedoch lediglich ein SHT I° und kein höhergradiges SHT erlitten habe, bezweifelte er einen Unfallzusammenhang. Im Rahmen seiner Untersuchung konnte er auf seinem Fachgebiet lediglich Normalbefunde erheben. Ein Vestibularisausfall ließ sich nicht (mehr) sichern, da der Kläger die dafür erforderlichen Untersuchungen ablehnte. T1 ging schließlich von einem nicht auf das Unfallereignis zurückzuführenden funktionellen Schwindel aus.

Des Weiteren holte die Beklagte ein (weiteres) nervenärztliches Gutachten bei  L ein (Bl. 1485 ff. VA, Untersuchungstag: 02.08.2017). L diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, eine Konversionsneurose (dissoziative Störung) und eine abgelaufene Anpassungsstörung sowie ein SHT I° im Zuge eines Überfalls im Oktober 2009, wobei er lediglich hinsichtlich der abgelaufenen Anpassungsstörung eine Unfallkausalität bejahte.

Mit Bescheid vom 15.12.2017 (Bl. 1536 ff. VA) lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Arbeitsunfall lediglich zu einer abgelaufenen Anpassungsstörung nach folgenlos ausgeheiltem SHT I° und einer Platzwunde am rechten Jochbein geführt habe. Den hiergegen erhobenen Widerspruch (Bl. 1547 VA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.08.2018 zurück (Bl. 1569 f. VA)

Hiergegen hat der Kläger am 27.09.2018 Klage beim SG erhoben (S 7 U 2340/18). Das SG hat ein Sachverständigengutachten bei W2 eingeholt (Bl. 32 ff. SG-Akte, Untersuchungstag: 21.01.2020). Der Sachverständige hat auf seinem Fachgebiet eine dissoziative Störung sowie einen phobisch determinierten regressiven Rückzug diagnostiziert, hat jedoch keinen - mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit - ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen Erkrankungen und dem Arbeitsunfall vom 27.10.2009 über den 17.07.2015 hinaus (mehr) zu erkennen vermocht. Vielmehr hat er ausgeführt, dass er keinen vernünftigen Zweifel daran habe, dass diese Erkrankungen durch andere, nicht mit dem Unfall in Zusammenhang stehende Faktoren, hervorgerufen worden sind.

Auf Antrag des Klägers gem. § 109 SGG hat das SG sodann ein Sachverständigengutachten bei H eingeholt (Bl. 77 ff. SG-Akte, Untersuchungstage: 18.06.2020 und 19.06.2020). Der Sachverständige hat eine dissoziative Störung (Konversionsstörung) in gemischter Form (mit Störung von Bewegung, von Sensibilität und Empfindungen und von Kognitionen) diagnostiziert, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall vom 27.10.2009 und dieser Störung jedoch verneint. Auch nach seiner Auffassung bestehe - in Übereinstimmung mit der Einschätzung des W2 - kein Zweifel daran, dass diese Erkrankung durch nicht mit dem Unfall in Zusammenhang stehende Faktoren verursacht worden sei.

Mit Urteil vom 02.11.2020 hat das SG die Klage - in erster Linie gestützt auf das Sachverständigengutachten des W2 - abgewiesen. In seiner Begründung hat es ausgeführt, dass es zwar die dissoziative Störung als nachgewiesen ansehe, jedoch einen Kausalzusammenhang zum Arbeitsunfall am 27.10.2009 nicht erkennen könne. Gleiches gelte für den seitens W2 diagnostizierten und als vorliegend unterstellten phobisch determinierten regressiven Rückzug. Soweit auch eine unfallbedingte Anpassungsstörung wahrscheinlich und ein unterstellter unfallbedingter Vestibularisausfall vorgelegen hätten, seien diese Funktionsstörungen zwischenzeitlich längst abgeklungen.

Gegen das - seinen Prozessbevollmächtigten am 17.11.2020 zugestellte - Urteil hat der Kläger am 11.12.2020 Berufung beim SG eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass zwischen den Beteiligten unstreitig sei, dass er immer noch an einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Konversionsneurose, einem Vestibularisausfall, einer dissoziativen Bewegungsstörung sowie an Wortfindungs-, Rechen- und Konzentrationsstörungen leide. „Lediglich“ der Unfallzusammenhang sei streitig. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das SG nach weiterer Beweiserhebung seine im Urteil vom 09.02.2015 geäußerte Rechtsauffassung geändert habe und einen Kausalzusammenhang nunmehr verneine. Die medizinische Beurteilung des Unfallzusammenhangs dürfte nach elf Jahren erheblich schwieriger und damit weniger aussagekräftig sein, als nur vier bis fünf Jahre nach dem Unfallereignis. Soweit sowohl die Beklagte, als auch das SG und auch verschiedene Gutachter den Unfallzusammenhang wegen einer im Jahr 2004 stattgehabten Behandlung in der F-Klinik verneinten, so habe diese wegen einer sich stetig verschlimmernden Kopfschmerzsymptomatik und dadurch verursachter Depressionen stattgefunden, die jedoch unmittelbar nach der stationären Behandlung ausgeheilt gewesen sei. Der Kläger habe also bis zum Unfallereignis über einen Zeitraum von rund fünf Jahren eine relativ stabile psychische Situation erreicht gehabt und sei beruflich stark eingebunden und voll leistungsfähig gewesen. Erst aufgrund des Unfallereignisses sei er nicht mehr leistungsfähig. Konkurrierende Ursachen gebe es nicht. Soweit in den medizinischen Gutachten ein Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den noch beim Kläger bestehenden Beschwerden verneint werde, werde darin jedoch nicht begründet, welche anderen Faktoren für die Verursachung der Beschwerden in Betracht kämen. Der Kläger hat außerdem einen Befundbericht der M2 vom 11.10.2021 vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass er auch an einer Gonarthrose leidet (S. 36 Senatsakte).



Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 02.11.2020 und den Bescheid der Beklagten vom 15.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.08.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 v.H. ab dem 17.07.2015 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf den Akteninhalt und das erstinstanzliche Urteil.

Der Senat hat Krankenblattunterlagen des H-Klinikums E über den stationären Aufenthalt des Klägers vom 27.10.2009 bis 31.10.2009 beigezogen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.


Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten der Verfahren S 7 U 2167/12, S 7 U 2168/12 und L 10 U 799/15 und die zum vorliegenden Verfahren gehörenden Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe


Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 15.12.2017 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2018, mit dem sie die Gewährung einer Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls vom 27.10.2009 abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger zulässigerweise mit seiner kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (Bundessozialgericht - BSG - 31.10.2007, B 2 U 4/06 R, zitiert - wie alle nachfolgenden höchstrichterlichen Entscheidungen - nach juris).

Da der Kläger bis einschließlich 16.07.2015 Verletztengeld von der Beklagten erhalten hat (s. Vergleich vom 16.07.2015, Bl. 39 Senatsakte L 10 U 799/15), Verletztenrente nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII jedoch erst nach dem Ende des Verletztengeldanspruchs gezahlt werden kann, kommt eine Gewährung von Verletztenrente erst ab dem 17.07.2015 in Betracht. Überdies hatten sich die Beteiligten in dem vor dem erkennenden Senat geschlossenen Vergleich vom 16.07.2015 darauf geeinigt, dass die Beklagte über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente (erst) ab dem 17.07.2015 zu entscheiden hat. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verletztenrente daher auch zu Recht erst ab dem 17.07.2015 geltend gemacht (s. Berufungsantrag, S. 20 f. Senatsakte). Soweit der Kläger zunächst noch die Feststellung von Unfallfolgen beantragt hatte, hat er daran nach Hinweis des Senats nicht mehr festgehalten.


Indes hat der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente ab dem 17.07.2015.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern.

Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Der Kläger hat am 27.10.2009 einen solchen Arbeitsunfall erlitten als er auf dem Weg zur Aufnahme seiner bei der Beklagten versicherten Tätigkeit direkt nach dem Verschließen seines auf dem Firmenparkplatz abgestellten Kfz von einem Unbekannten körperlich angegriffen worden ist und hierdurch ausweislich des Entlassungsberichts des H-Klinikums E, wo er nach dem Überfall vom 27.10.2009 bis 31.10.2009 stationär behandelt worden ist, jedenfalls eine Platzwunde im Bereich des rechten Jochbeins und ein SHT I° erlitten hat. Die Beklagte hat überdies sowohl in dem vorliegend streitigen Bescheid vom 15.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2018 als auch in dem Bescheid vom 07.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2012 das Vorliegen eines Arbeitsunfalles anerkannt. Zwar ist in diesen nicht ausdrücklich die Anerkennung eines Arbeitsunfalls verfügt worden, jedoch hat die Beklagte dennoch ausdrücklich ausgeführt, dass der Kläger „wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls“ keine Verletztenrente erhalte und außerdem konkret die „Folgen des Arbeitsunfalls“ dargestellt. Nach dem - entsprechend §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zugrunde zu legenden - objektiven Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat, hat die Beklagte folglich auch ausdrücklich das Vorliegen eines Arbeitsunfalls bejaht (s. hierzu BSG 28.06.2022, B 2 U 9/20 R). Im Übrigen ist das Vorliegen eines Arbeitsunfalls zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Indessen ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht über den 16.07.2015 hinaus durch die gesundheitlichen Folgen des Arbeitsunfalls vom 27.10.2009 gemindert. Denn die beim Kläger jedenfalls ab dem 17.07.2015 noch bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen sind nicht mit dem im Unfallversicherungsrecht geltenden Beweismaßstab auf diesen Arbeitsunfall zurückzuführen.

Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gilt wie allgemein im Sozialrecht für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden die Theorie der wesentlichen Bedingung (hierzu und zum Nachfolgenden BSG 12.04.2005, B 2 U 27/04 R). Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus. Es ist daher in einem ersten Schritt zu klären, ob der Gesundheitsschaden auch ohne das Unfallereignis eingetreten wäre. Ist dies der Fall, war das Unfallereignis für den Gesundheitsschaden schon aus diesem Grund nicht ursächlich. Andernfalls ist in einem zweiten, wertenden Schritt zu prüfen, ob das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob neben der versicherten Ursache weitere Ursachen im naturwissenschaftlichen Sinn (erste Stufe) zum Gesundheitsschaden beitrugen. Gab es neben der versicherten Ursache noch andere, konkurrierende Ursachen (im naturwissenschaftlichen Sinn), z.B. Krankheitsanlagen, so war die versicherte Ursache wesentlich, sofern die unversicherte Ursache nicht von überragender Bedeutung war. Eine überwiegende oder auch nur gleichwertige Bedeutung der versicherten gegenüber der konkurrierenden Ursache ist damit für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs nicht Voraussetzung.


Die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung müssen erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u.a. BSG 30.04.1985, 2 RU 43/84). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG vom 09.05.2006, a.a.O. auch zum Nachfolgenden). Diese liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Es genügt nicht, wenn der Ursachenzusammenhang nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Dabei ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Denn es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde. Es reicht daher zur Begründung des ursächlichen Zusammenhangs nicht aus, gegen diesen Zusammenhang sprechende Umstände auszuschließen.

Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass beim Kläger über den 16.07.2015 hinaus noch Unfallfolgen vorliegen.

Zwar zweifelt der Senat nicht grundsätzlich daran, dass beim Kläger in der Vergangenheit ein Vestibularisausfall links vorgelegen hat. Ein solcher ist vielmehr am 15.01.2010 in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde des Universitätsklinikums T diagnostiziert und diese Diagnose ist auch von T1 im Rahmen seines Gutachtens - dieses verwertet der Senat im Wege des Urkundsbeweises - nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen worden. Allerdings hat T1 im Rahmen seiner Untersuchung im August 2017 einen (immer) noch bestehenden Vestibularisausfall nicht sichern können, da der Kläger die hierfür notwendigen Untersuchungen abgelehnt hat und der übrige Befund auf diesem Fachgebiet unauffällig gewesen ist. Überdies hat T1 in seinem Gutachten ausgeführt, dass nach einseitigem akutem Vestibularisausfall das statische neuronale Ungleichgewicht im Vestibulariskerngebiet mit Spontannystagmus zur gesunden Seite und Fallneigung zur kranken Seite in der Regel innerhalb weniger Tage kompensiert und selbst bei einem persistierenden Ausfall der peripheren Funktion durch gezieltes Training eine weitgehende Beschwerdefreiheit erreicht wird. Hierauf hat auch bereits W1 in ihrem Sachverständigengutachten (S 7 U 2167/12) - ebenfalls hier urkundsbeweislich verwertet - hingewiesen. Dass beim Kläger auch über den 16.07.2015 hinaus und somit auch mehr als fünfeinhalb Jahre nach dem stattgehabten Unfallereignis immer noch ein Vestibularisausfall vorliegt, ist daher nicht nachvollziehbar. Im Übrigen ist der Senat auch nicht davon überzeugt, dass der Vestibularisausfall links mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 27.10.2009 zurückzuführen ist. Insoweit hat T1 für den Senat schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, dass beim Kläger lediglich ein SHT I° und gerade kein höhergradiges SHT oder eine Schädelfraktur diagnostiziert worden ist und daher bereits nicht davon ausgegangen werden kann, dass die eingebrachte Gewalt (naturwissenschaftlich) ausreichend gewesen ist, eine Schädigung des Vestibularorgans hervorzurufen. Überdies hat er auch darauf hingewiesen, dass der Vestibularisausfall erst ca. drei Monate nach dem Unfall im Januar 2010 diagnostiziert worden ist, was gegen einen durch das Unfallereignis hervorgerufenen Vestibularisausfall spricht. Auch W1 und W2 haben in ihren Sachverständigengutachten ausgeführt, dass ein akuter Vestibularisausfall unmittelbar zu Schwindelattacken führt. Solche sind im Rahmen der im Anschluss an das Unfallereignis erfolgten stationären Behandlung des Klägers vom 27.10.2009 bis 31.10.2009 im H-Klinikum E jedoch nicht dokumentiert worden. Vielmehr ergibt sich aus der vom Senat beigezogenen Pflegedokumentation des H-Klinikums E, dass der Kläger sowohl am 27.10.2009 - bereits um 10.45 Uhr - subjektives Wohlbefinden und keinerlei Beschwerden als auch am 28.10.2009 ein - außer Kopfschmerzen - Wohlbefinden angegeben hat. Auch im Zeitraum 29.10.2009 bis 31.10.2009 sind keine Schwindelattacken des Klägers dokumentiert worden. Aus dem dem Senat vorliegenden umfangreichen Aktenmaterial ergibt sich hingegen, dass sich der Kläger erstmals am 19.11.2009 - und somit drei Wochen nach dem Unfallereignis - wegen Schwindelattacken bei F vorgestellt hat. Dass ein durch das Unfallereignis hervorgerufener Vestibularisausfall erst nach drei Wochen zu Schwindelattacken führt, ist jedoch nicht plausibel. Ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Vestibularisausfall ist mithin nicht nachgewiesen.

Der Senat ist hingegen davon überzeugt, dass der Kläger - jedenfalls - an einer dissoziativen Bewegungsstörung leidet. Dies ergibt sich nicht nur aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren im erstinstanzlichen Verfahren seitens des SG von Amts wegen eingeholten Sachverständigengutachten des W2 von Februar 2020, das der Senat maßgeblich seiner Überzeugungsbildung zugrunde legt, sondern auch bereits aus dem Gutachten des M von August 2011 (ebenfalls urkundsbeweislich verwertbar), dem im Rahmen des Verfahrens S 7 U 2167/12 gem. § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachten des M1 von Juli 2014, dem Gutachten des L von August 2017 - diese Gutachten verwertet der Senat im hiesigen Verfahren ebenfalls im Wege des Urkundsbeweises - und auch aus dem ebenfalls im erstinstanzlichen Verfahren auf Antrag des Klägers gem. § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachtens des H von Juni 2020. Soweit die ebenfalls im Rahmen des Verfahrens S 7 U 2167/12 von Amts wegen beauftragte Sachverständige W1 aufgrund von ihr nicht auszuschließender Aggravations- und Simulationstendenzen des Klägers lediglich eine „möglicherweise“ gemischte dissoziative Störung diagnostiziert hat, hat keiner der übrigen Gutachter und Sachverständigen ernsthaft am Vorliegen dieser Störung gezweifelt, wenngleich auch diese Tendenzen zu Beschwerdeübertreibung beschrieben und diskutiert haben. Daher zweifelt auch der Senat nicht am Vorliegen einer dissoziativen Störung.

Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass diese Störung auf den Arbeitsunfall vom 27.10.2009 zurückzuführen ist. Der Sachverständige W2  hat insofern unter Bezugnahme auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand (s. Bl. 56 SG-Akte) und die Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen (AWMF online, unveränderter Stand 01.12.2019) überzeugend dargestellt, dass unfallreaktive dissoziative Störungen auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückzuführen sind und durch spätere Ereignisse lediglich reaktiviert werden können. Ein Zusammenhang zwischen dieser Symptomatik mit einem im späteren Leben auftretenden Ereignis ist nur dann hinreichend wahrscheinlich, wenn es sich um ein tatsächlich dramatisches Ereignis handelt. Ein solches stellt der Überfall vom 27.10.2009 jedoch nicht dar. Wenngleich der unverhoffte Angriff für den Kläger ein bedrohliches, angsteinflößendes und sicherlich auch einprägendes Ereignis gewesen ist, ist es jedoch nur zu einem Handgemenge gekommen, das der Kläger bereits nach kurzer Zeit durch Flucht in die Geschäftsräume beenden hat können und das lediglich zu einer Platzwunde am rechten Jochbein und einem SHT I° als Primärschaden geführt hat. Bis auf M1 und M, die sogar das Vorliegen des A-Kriteriums einer PTBS bejaht haben (s. hierzu später), geht auch keiner der übrigen Gutachter und Sachverständigen davon aus, dass der Überfall eine außergewöhnliche Bedrohung und somit ein tatsächlich dramatisches Ereignis dargestellt hat (s. hierzu H, Bl. 98 und 103 SG-Akte;  W1 ist von einem „Bagatelltrauma“ ausgegangen, Bl. 49 SG-Akte S 7 U 2167/12). W2 hat in diesem Zusammenhang zudem zutreffend darauf hingewiesen, dass der Kläger bereits im Jahr 2004 ein nicht auf ein organisches Korrelat zurückzuführendes somatoformes - und über zweieinhalb Monate stationär behandlungsbedürftiges - Kopfschmerzerleben entwickelt hat, dessen Ursache vermutlich - wenn auch vom Kläger verneint - in einer beruflichen Belastung zu sehen ist. Soweit der Kläger in seiner Berufungsbegründung insoweit ausgeführt hat, die Kopfschmerzsymptomatik sei bereits unmittelbar nach der stationären Behandlung in der F-Klinik ausgeheilt gewesen und er sei bis zum Unfallereignis im Oktober 2009 beschwerdefrei gewesen, weshalb hieraus nicht auf eine besondere Vulnerabilität geschlossen werden könne, ist dieser Vortrag bereits durch seine eigenen Angaben widerlegt. Im Rahmen seiner Untersuchung durch  W2 hat der Kläger nämlich angegeben, dass der Aufenthalt in der F-Klinik nicht zu einer Besserung der Kopfschmerzsymptomatik geführt habe, diese sich vielmehr erst nach einer Operation im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) nach akuten Schmerzen im Juli 2007 (s. hierzu Bl. 337 f. VA) gebessert hätten. Auch gegenüber dem Sachverständigen H hat er eingeräumt, dass es ihm von 2004 bis 2006 nicht „so toll“ gegangen sei, da er unter Kopfschmerzen gelitten habe. Diese seien erst besser geworden, als er im Bereich der LWS operiert worden sei. Der Senat ist daher nicht davon überzeugt, dass überhaupt ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der dissoziativen Störung besteht

Dieser Kausalitätsbeurteilung hat sich auch der Wahlsachverständige des Klägers H ausdrücklich angeschlossen (Bl. 104 SG-Akte), weshalb auch er einen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der beim Kläger bestehenden dissoziativen Störung verneint hat.

Soweit M im August 2011 und M1 im Juli 2014 den Kausalzusammenhang zwischen der dissoziativen Störung und dem Arbeitsunfall bejaht haben, folgt dem der Senat schon deshalb nicht, da diese ihre Beurteilung nicht nach dem von W2 in seinem Sachverständigengutachten dargestellten und zugrunde gelegten aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand (u.a. AWMF online, Stand 01.12.2019) getroffen haben und überdies bereits (s.o.) von einer massiven Bedrohungslage ausgegangen sind, die - nach Überzeugung des Senats, die er auf die Ausführungen der übrigen Gutachter und Sachverständigen stützt - nicht bestanden hat.

Soweit das SG in den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 09.02.2015 in dem Verfahren S 7 U 2167/12 einen Kausalzusammenhang zwischen der dissoziativen Störung und dem Arbeitsunfall bejaht hat, ist der Senat daran schon deshalb nicht gebunden, weil diese Entscheidung aufgrund der vergleichsweisen Beendigung des zugehörigen Berufungsverfahrens (L 10 U 799/15) nicht rechtskräftig geworden ist.

Sollte die dissoziative Störung als Folge des Vestibularisausfalls als Körperschaden aufgetreten sein - wie ebenfalls von W2 diskutiert -, scheitert der Unfallzusammenhang bereits daran, dass auch der Vestibularisausfall nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das stattgehabte Unfallereignis zurückzuführen ist (s. hierzu oben).

Dass beim Kläger außerdem eine PTBS vorgelegen hat oder sogar noch vorliegt, hält der Senat bereits nicht für - im Vollbeweis - nachgewiesen. Wie W2 zutreffend ausgeführt hat, beruht die Diagnose einer PTBS auf drei nachweisbaren Anknüpfungstatsachen: ein geeignetes Unfallereignis, eine psychische Erstsymptomatik und entsprechende „Kernsymptome“. Zur Überzeugung des Senats s
cheitert es hier bereits am Vorliegen eines geeigneten Unfallereignisses, dem sog. A- bzw. Traumakriterium. Nach ICD-10 (F43.1) fordert die PTBS, dass Betroffene einem kurz oder langanhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt gewesen sein müssen. Über die subjektive Traumahaftigkeit enthält das Kriterium noch ein gewisses objektives Korrektiv, wonach überhaupt infrage kommende Ereignisse in der Lage sein müssen, „nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung“ auszulösen. Auch das Diagnosesystems DSM-V setzt für die Diagnose einer PTBS (DSM-5 F43.10) ein Traumakriterium (Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt) voraus. Diese Kriterien erfüllt der Angriff des Unbekannten auf den Kläger nicht. Wie bereits ausgeführt, verkennt der Senat nicht, dass der plötzliche Angriff für den Kläger eine Bedrohung dargestellt hat. Allerdings ist der Kläger bereits nach kurzer Zeit in der Lage gewesen, das stattgehabte Handgemenge durch Flucht in die Geschäftsräume zu beenden, woraufhin auch der Angreifer geflüchtet ist. Somit hat - worauf W2 unter Bezugnahme auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand auch hingewiesen hat - bereits kein Ereignis vorgelegen, dem der Kläger hilflos ausgeliefert gewesen ist. Der Angriff hat schließlich auch unmittelbar (sog. Primärschaden) lediglich eine Platzwunde am rechten Jochbein und ein SHT I° und keine ernsthafte Verletzung verursacht. Auch die Sachverständigen H und W1 haben - worauf oben bereits hingewiesen worden ist - den Überfall zwar als emotional belastend und für geeignet gehalten, Angst auszulösen, ein katastrophales Ausmaß hingegen ausdrücklich verneint und vielmehr als „Bagatelltrauma“ (so ausdrücklich W1) qualifiziert. Diesen Auffassungen schließt sich der Senat an. Soweit der Gutachter M und der Sachverständige M1 demgegenüber vom Vorliegen des A-Kriteriums ausgehen, vermag sich der Senat deren Sichtweise insbesondere vor den überzeugenden Einschätzungen der genannten Sachverständigen nicht anzuschließen. Überdies hat M in seinem auf Untersuchungen im Juli und August 2011 basierenden - und folglich am zeitnächsten zum Unfallereignis erstellten - Gutachten zwar das A- bzw. Traumakriterium bejaht. Jedoch hat er ausdrücklich ausgeführt, dass das typische psychopathologische Muster einer PTBS beim Kläger gerade nicht vorgelegen hat und folglich das Vorliegen einer PTBS schließlich verneint (Bl. 634 und 643 VA). Mithin ist es für den Senat nicht nachvollziehbar, dass  M1 als Einziger sämtliche Kriterien für das Vorliegen einer PTBS als erfüllt angesehen hat.

Ob beim Kläger außerdem - wie von W2 und L lediglich vermutet - unmittelbar nach dem Unfallereignis eine vorübergehende unfallbedingte Symptomatik in Form einer Anpassungsstörung vorgelegen hat, lässt der Senat ausdrücklich offen. Zwar sprechen auch die Aufzeichnungen in der vom Senat beigezogenen Patientendokumentation des H-Klinikums E, aus denen hervorgeht, dass der Kläger am 29.10.2009 in der Nacht Panikattacken gehabt habe und schweißgebadet aufgewacht sei und er daraufhin im Rahmen einer psychiatrischen Untersuchung starke Unruhe und Angstzustände angegeben habe, dafür, dass es zu einer entsprechenden psychischen Belastungsreaktion gekommen ist. Wie W2 jedoch nachvollziehbar ausgeführt hat, hält eine derartige Anpassungsstörung keinesfalls über fünf Jahre lang und somit über den 16.07.2015 hinaus an. Dies deckt sich mit der vom Senat seiner Rechtsprechung regelmäßig zugrunde gelegten unfallversicherungsrechtlichen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 152 f.), wonach eine Anpassungsstörung grundsätzlich lediglich bis zu einer Zeitdauer von maximal zwei Jahren diagnostiziert werden kann.

Ob der Kläger darüber hinaus auch an einem phobisch determinierten regressiven Rückzug - wie von W2 diagnostiziert -, einer rezidivierenden depressiven Episode - wie von L diagnostiziert - und/oder einer kombinierten Persönlichkeitsstörung - wie von M diagnostiziert - leidet, kann dahinstehen. Denn insofern sind die genannten Sachverständigen und Gutachter jeweils nicht von einem Unfallzusammenhang ausgegangen. M hat die kombinierte Persönlichkeitsstörung sogar ausdrücklich als „vorbestehend“ bezeichnet.

Soweit der Kläger im Rahmen des Berufungsverfahren auch das Vorliegen einer Gonarthrose geltend macht, die - seiner Meinung nach - auf die Gangataxie zurückzuführen sei, kann der Kläger auch hieraus keinen Anspruch auf Verletztenrente ableiten. Wie oben ausgeführt, ist die im Rahmen der dissoziativen Störung auftretende Gangataxie nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen. Folglich kann auch eine möglicherweise darauf basierende Gonarthrose nicht auf dem Unfall beruhen. Weitere Ermittlungen zum Ausmaß der diagnostizierten Gonarthrose sind daher nicht veranlasst gewesen.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.






 

Rechtskraft
Aus
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