S 20 AS 453/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AS 453/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

          Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Kläger begehren die Übernahme von Stellplatzkosten für den Zeitraum 01.01.2020 bis 30.04.2021.

 

Die Kläger leben in einer Mietwohnung und erhalten vom beklagten Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Im streitgegenständlichen Zeitraum berücksichtigte der Beklagte die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung bis auf die Kosten für den Stellplatz (40,90 EURO), den die Kläger zwingend mit der Wohnung anmieten mussten, in voller Höhe. Mit Urteil vom 19.05.2021 entschied das Bundessozialgericht (BSG) im Verfahren B 14 AS 39/20 R, dass Garagen– und Stellplatzkosten grundsätzlich als Teil der Unterkunftskosten berücksichtigt werden könnten, wenn der Stellplatz Teil des Mietverhältnisses und nicht separat kündbar sei, sich die Kosten der Unterkunft insgesamt im Rahmen der Angemessenheit befänden und dass eine Pflicht zur Kostensenkung, etwa durch Untervermietung, in diesem Fall nicht bestünde.

 

Mit Schreiben vom 17.11.2021 beantragten die Kläger die Überprüfung der Leistungen rückwirkend zum 01.01.2020 und die Berücksichtigung der Kosten für den Stellplatz als Bedarf nach § 22 Abs. 1 SGB II. Der Stellplatz sei zwingender Bestandteil des Mietvertrages und nicht separat kündbar.

 

Mit Überprüfungsbescheid vom 18.11.2021 gab der Beklagte dem Antrag nur für die Zeit ab dem 01.05.2021 statt und stellte die Garagenkosten mit Änderungsbescheid ebenfalls vom 18.11.2021 für diesen Zeitraum in den Bedarf ein. Für den Zeitraum 01.01.2020 bis 30.04.2021 lehnte der Beklagte die Berücksichtigung der Garagenkosten unter Hinweis auf § 40 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB II ab. Der Zeitraum läge zudem außerhalb der Jahresfrist nach § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).

 

Gegen diesen Bescheid legten die Kläger am 23.11.2021 Widerspruch ein. Der Antrag auf Rücknahme sei am 17.11.2021 gestellt worden. Leistungen seien daher längstens für ein Jahr rückwirkend zu Beginn des Jahres, in dem der Antrag gestellt wurde, zu erbringen. Daher sei der Zeitraum, über den der Antrag zu entscheiden sei, die Zeit ab dem 01.01.2020.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2022 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es sei zwar zutreffend, dass der zur Überprüfung stehende Zeitraum am 01.01.2020 beginne. Die Ablehnung sei jedoch nicht allein darauf gestützt worden, dass dieser Zeitraum außerhalb des überprüfbaren Zeitraums liege. Vielmehr sei der Antrag in Bezug auf den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.04.2021 zuvörderst mit Hinweis auf § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II abgelehnt worden. Das BSG habe zwar mit Urteil v. 19.05.2021 entschieden, dass Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage als Bedarf für Unterkunft und Heizung dann anzuerkennen seien, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses seien, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen sei. Die Frage, ob im Falle der Einhaltung der Angemessenheitsgrenze eine Obliegenheit zur Kostensenkung, zum Beispiel durch Untervermietung des Stellplatzes, bestünde, sei vor dem Urteil des BSG nicht bereits durch ständiger Rechtsprechung beantwortet, sondern ungeklärt gewesen. Erst durch das Urteil des BSG vom 19.05.2021 sei die Frage beantwortet worden, ob eine Kostensenkungsobliegenheit (beispielsweise durch Untervermietung) auf § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II oder auf den allgemeinen Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II gestützt werden könne. Hätte bereits zuvor eine ständige Rechtsprechung des BSG zu diesen Fragen existiert, wäre es nicht zu so vielen divergierenden Entscheidungen der Senate des Landessozialgerichts Baden-Württemberg gekommen.

 

Am 17.02.2022 erhoben die Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 19.05.2021 selbst von einer ständigen Rechtsprechung des BSG gesprochen. Soweit der Beklagte in der Vergangenheit die Übernahme von Stellplatzkosten von der Obliegenheit einer Untervermietung abhängig gemacht habe, liege das an einer rechtsirrigen „Fortentwicklung“ dieser ständigen Rechtsprechung. Die falsche Rechtsanwendung durch den Beklagten ändere aber nichts daran, dass die ständige Rechtsprechung schon vor Erlass des Bescheides bestanden habe. Weitere Voraussetzung für die Anwendungen des § 40 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB II sei, dass eine ständige und einheitliche Verwaltungspraxis bestanden habe. Die Verwaltungspraxis des Beklagten sei aber keineswegs einheitlich gewesen. In zahlreichen Fällen habe der Beklagte den Bedarf für den Stellplatz auch ohne den Nachweis einer fehlgeschlagenen Untervermietung bereits vor dem Urteil des BSG berücksichtigt.

 

Die Kläger haben beantragen,

 

den Bescheid vom 18.11.2021 in Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16.02.2022 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.04.2021 ergangenen Leistungsbescheide dahingehend abzuändern, dass als Bedarf nach § 22 Abs. 1 SGB II zusätzlich die Aufwendungen für den Stellplatz in Höhe von 40,90 EURO monatlich berücksichtigt werden.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

          die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte trägt vor, aus der Formulierung „in Fortentwicklung der dargestellten Rechtsprechung des BSG“ in der Entscheidung vom 19.05.2021 ergebe sich, dass das fehlende Erfordernis erfolgloser Kostensenkungsbemühungen hinsichtlich der Stellplatzkosten erst durch das Urteil des BSG vom 19.5.2021 als „ständige Rechtsprechung“ im Sinne des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II gewertet werden dürfte. Zudem habe grundsätzlich eine einheitliche Verwaltungspraxis des Beklagten bestanden, da es eine entsprechende Weisungslage gegeben habe.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte verwiesen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Beklagte hat zutreffend dem Überprüfungsantrag der Kläger erst ab dem 01.05.2021 stattgegeben.

 

Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Nach § 40 Abs. 3 Nr. 2 SGB II ist, wenn die in § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist, der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. 

 

Beim beklagten Jobcenter bestand eine ständige Verwaltungspraxis dahingehend, dass Garagenkosten bei fehlender Abtrennbarkeit nur dann übernommen wurden, wenn erfolglose Untervermietungsbemühungen nachgewiesen wurden. Das Vorliegen einer ständigen Verwaltungspraxis kann durch verbindliche Arbeitsanweisungen geführt werden, soweit keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese nicht nur in Einzelfällen nicht eingehalten wurden (Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 40, Stand: 07.02.2023, Rn. 137). Diese ständige Verwaltungspraxis ergab sich aus der im Jahr 2020 geltenden Weisung „Leistungsberechtigte sind dazu verpflichtet, die Garage zu vermieten (Bemühungen sind kontinuierlich nachzuweisen) oder haben die Kosten hierfür selbst aufzubringen.“ Zwar mag der Beklagte in Einzelfällen anders gehandelt haben und Garagenkosten, wie vom Klägervertreter vorgetragen, auch ohne den Nachweis von Kostensenkungsbemühungen übernommen haben. Eine über Einzelfälle hinausgehende anders gelebte Praxis ist jedoch nicht nachgewiesen worden. Die bloße Behauptung, es sei so gewesen, reicht nicht aus, um die konkrete Weisung zu widerlegen.

 

Eine anderslautende ständige Rechtsprechung hat erst seit dem Urteil des BSG vom 19.05.2021 bestanden. Für das Vorliegen einer ständigen Rechtsprechung ist die Rechtsprechung der Instanzgerichte nicht ausreichend; sie kann vielmehr erst entstehen, wenn das Revisionsgericht eine Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne beantwortet hat. Dabei genügt nach Sinn und Zweck zur Entstehung einer ständigen Rechtsprechung schon eine Entscheidung des Revisionsgerichts, wenn die zu beurteilende Rechtsfrage damit hinreichend geklärt ist, weil die Entscheidung nicht mit gewichtigen Gründen in Frage gestellt wird und die Rechtslage daher nicht mehr umstritten ist. Insbesondere ist von einer ständigen Rechtsprechung in diesem Sinne dann auszugehen, wenn die betroffenen Verwaltungen eine höchstrichterliche Entscheidung auch für andere gleichgelagerte Fälle als verbindlich akzeptieren und nicht etwa annehmen, es handele sich um eine bloße Einzelfallentscheidung, der in anderen Fällen zunächst nicht zu folgen sei. Erforderlich ist aber stets, dass die betreffende Rechtsfrage zweifelsfrei abschließend geklärt ist. Die ständige Rechtsprechung ist dann an dem Tag entstanden, an dem das betreffende klärende Urteil verkündet und damit wirksam geworden ist (jurisPK-SGB II a.a.O., § 40 Rn. 139 m.w.N.).

 

Zwar hat das BSG bereits mit Urteil v. 07.11.2006, Az. B 7b AS 10/06 R entschieden, dass die Kosten für eine Garage dann zu übernehmen sind, wenn die Wohnung ohne Garage nicht anmietbar und der Mietpreis sich bei fehlender "Abtrennbarkeit" der Garage noch innerhalb des Rahmens der Angemessenheit für den maßgeblichen Wohnort hält (Rn. 28). Insoweit bestand bereits seit diesem Zeitpunkt eine ständige Rechtsprechung. Zur Frage, ob der Leistungsempfänger verpflichtet ist, diese Kosten durch Untervermietung des Stellplatzes zu senken, hat sich das BSG bisher nicht geäußert. Im Urteil vom 06.08.2014, Az. B 4 AS 37/13 R, Rn. 31 hat das BSG klargestellt, dass Untervermietungen von Teilen der angemieteten Unterkunft als Kostensenkungsmaßnahmen bei der Bedarfsberechnung der Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen sind. Inwieweit eine Pflicht zur Untervermietung besteht, war dagegen bislang nicht höchstrichterlich geklärt. Erst in der Entscheidung vom 19.05.2021 hat das BSG unter Rn. 19 Folgendes ausgeführt: „Die Übernahme der Kosten des Stellplatzes hängt nicht in Fortentwicklung der dargestellten Rechtsprechung des BSG davon ab, ob die Kläger sich bemüht haben, die Kosten zu senken, insbesondere durch eine Untervermietung des Stellplatzes. Dies ist keine (weitere) Voraussetzung für die Anerkennung der Stellplatzmiete als Bedarf für die Unterkunft. Für eine hierauf gestützte teilweise Ablehnung von Leistungen fehlt es an einer Rechtsgrundlage.“

Aus der Formulierung „in Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung“ ergibt sich, dass bisher diesbezüglich keine ständige Rechtsprechung vorlag. Erst jetzt hat das BSG klargestellt, dass nun auch unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung eine Kostensenkungsbemühung nicht als Erfordernis für die Übernahme der Stellplatzkosten angesehen wird. Nach den bisher zu diesem Thema ergangenen Entscheidungen war die Rechtslage zudem nicht unumstritten, so dass es weiterhin zu divergierenden Entscheidungen des LSG Baden-Württemberg kam (eine Kostensenkungspflicht durch Untervermietung bejahend der 12. Senat, Az. L 12 AS 346/18, Urt. v. 21.09.2018 Rn. 23; ablehnend der 7. Senat, Az. L 7 AS 4457/16, Urt. v. 06.12.2018 Rn. 35 und der 1. Senat, Az. L 1 AS 2007/19, Urt. v. 04.05.2020, Rn. 40). Eine zweifelsfreie Klärung der strittigen Rechtsfrage lag damit bis zur Entscheidung des BSG am 19.05.2021 nicht vor.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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