L 12 U 2157/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 5170/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 U 2157/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Das An- und Ablegen der Arbeitskleidung bildet bei natürlicher Betrachtungsweise mit der eigentlich versicherten Tätigkeit eine Einheit. Gelangt ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Bearbeitung eines Werkstücks stammender Metalldraht in den Fuß des Klägers, ist bei Ausschluss eines anderen Geschehensablaufs mit Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich der Kläger diese Verletzung beim Umkleiden zugezogen hat.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 05.05.2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahren zu erstatten.


Tatbestand


Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens über die Anerkennung eines Ereignisses im Sommer 2016 als Arbeitsunfall.

Der 1960 geborene Kläger war u.a. im Jahr 2016 bei der Firma G GmbH (Arbeitgeberin) beschäftigt und in dieser Beschäftigung bei der Beklagten versichert.

Am 26.08.2016 stellte er sich auf Anraten seines W wegen Schmerzen am linken Fuß in der Uklinik F – Hautklinik – vor, wo Druckstellen diagnostiziert wurden, die wohl auf unpassende Arbeitsschuhe zurückzuführen seien.

Aufgrund anhaltender Beschwerden erfolgte (auf Überweisung des Hausarztes) am 21.10.2016 eine röntgenologische Untersuchung des linken Fußes, die einen schmalen, länglichen Fremdköper zeigte. Vom 24.10.2016 bis 31.10.2016 befand sich der Kläger stationär im Evangelischen Dkrankenhaus F (Dkrankenhaus) aufgrund von Phlegmonen am linken Vorfuß bei einem Ulkus am lateralen Fußrand; es bestehe eine Sensibilitätsminderung im Vorfuß links. Dort wurde wegen des eingetretenen Fremdkörpers eine Vorstellung des Klägers zur weiteren Abklärung der Behandlung in der Uklinik F – Chirurgie – empfohlen. Im Arztbericht der Uklinik vom 07.11.2016 wurde ausgeführt, der Kläger sei in der Metallverarbeitung tätig und es bestehe somit der Verdacht, dass er sich den Metallsplitter im Rahmen seiner Tätigkeit eingetreten habe, weshalb die weitere Versorgung durch den Durchgangsarzt (D-Arzt) der Unfallversicherung zu erfolgen habe. Am 02.11.2016 wurde in der Uklinik der Fremdkörper entfernt; aufgrund von Wundheilungsstörungen war der Kläger bis 09.11.2016 in stationärer Behandlung.

Mit Unfallanzeige vom 28.10.2016 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er sich im Juli 2016 im linken Fuß einen Metallsplitter bei der Arbeit zugezogen habe, der sich chronisch entzündet habe. Mit Schreiben vom 05.12.2016 teilte er mit, dass er sich nicht erklären könne, wie exakt das Metallteil in den Fuß gelangt sei; es stamme jedoch von einer Rundbürste, welche zum Bürsten von Metallprofilen verwendet werde.

Mit Schreiben vom 28.11.2016, 28.12.2016 und 24.02.017 (teils auf Nachfrage der Beklagten, die zunächst von einem Arbeitsunfall ausging) gab ein Vorgesetzter des Klägers an, dass die Verletzung nur im Privatbereich erfolgt sein könne, da der Kläger im Unternehmen immer Sicherheitsschuhe trage. Der Kläger sei jedoch Hobbybastler, so dass er sich auch dort den Splitter eingetreten haben könne.

Mit E-Mail vom 28.01.2017 teilte der Kläger mit, dass er die Arbeitsschuhe nicht mit nach Hause nehme, sondern sich bei der Arbeitgeberin umziehe. In seiner Freizeit beschäftigte er sich nicht mit Metallarbeiten, da ihm Platz und Werkzeug fehlten.

Mit Bescheid vom 10.05.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses von Juli 2016 als Arbeitsunfall ab. Sie habe mit dem Arztbericht vom 07.11.2016 erstmals Kenntnis erhalten, dass sich der Kläger einen Metallsplitter im linken Fuß zugezogen habe, welcher sich chronisch entzündet habe. Die Arbeitgeberin habe erklärt, dass nicht nachvollzogen werden könne, wie der Metallsplitter trotz des Tragens von Sicherheitsschuhen in den Fuß gelangt sein solle. Somit sei der erforderliche Vollbeweis für das Vorliegen eines Unfalles bei einer versicherten Tätigkeit nicht erbracht. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 19.07.2018 bat der Kläger um Überprüfung des Arbeitsunfalls, da als dessen Spätfolge der linke kleine Zeh habe amputiert werden müssen.

Mit Bescheid vom 30.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 08.10.2018 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Es seien nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) keine neuen Tatsachen vorgetragen worden, die für die Unrichtigkeit des dem beanstandeten Verwaltungsakt zu Grunde gelegten Sachverhalts oder für die Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsaktes sprächen.

Am 08.11.2018 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Von den Bürsten im Betrieb würden Splitter abgeschleudert. Diese seien sehr klein und könnten an der Kleidung anhaften. Im Umkleideraum würden keine Sicherheitsschuhe mehr getragen. Auch lägen die Splitter, die in den Umkleideraum an der Kleidung mit hineingebracht würden, auf dem Boden. Es gebe keine anderen Möglichkeiten der Verursachung. Das Eindringen des Splitters habe er nicht gespürt, da er an einer Sensibilitätsstörung im Fuß leide.

Der Kläger hat dem SG den Splitter überlassen, der aus seinem Fuß herausoperiert worden war. Diesen hat das SG an den Präventionsdienst der Beklagten mit dem Auftrag weitergeleitet, zu prüfen, ob dieser vom Arbeitsplatz des Klägers stamme. Am 21.02.2020 und 01.09.2020 hat der Präventionsdienst ausgeführt, der Draht sei recht dünn, lang und biegsam, so dass es unwahrscheinlich sei, dass der Kläger sich diesen in den Fuß eingetreten habe. Im direkten Vergleich sei das sichergestellte Drahtstück aus dem Unternehmen minimal dicker, jedoch in Steifigkeit und Optik vergleichbar. Ihm sei nicht erklärbar, wie das Drahtstück trotz getragener Sicherheitsschuhe in den Zeh des Klägers geraten sein solle.

Mit Urteil vom 05.05.2021 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, festzustellen, dass das Ereignis vom Juli 2016 einen Arbeitsunfall darstellt.

Gegen das ihr am 09.06.2021 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer am 28.06.2021 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Entgegen der Feststellungen im angefochtenen Urteil sei sie bei Erlass ihres Bescheides vom 10.05.2017 weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen, noch habe sie das Recht unrichtig angewandt. Das SG habe nicht beachtet, dass Voraussetzung für eine Änderung des Verwaltungsaktes das Vorbringen neuer Tatsachen sei. Insgesamt seien weder das Unfallereignis noch der Gesundheitserstschaden im Vollbeweis nachgewiesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 05.05.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Im Nachgang zum Termin zur Erörterung des Sachverhaltes haben die Beteiligten (Kläger mit Schreiben vom 14.02.2022, Beklagte mit Schreiben vom 18.02.2022) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der Einzelheiten im Sachverhalt sowie im Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden kann, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Überprüfung des Bescheides vom 10.05.2017 und Feststellung eines Arbeitsunfalls bejaht.

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Feststellungsklage (zur Klageart bei im Wege des Zugunstenverfahrens verfolgten Begehren vgl. Bundessozialgericht – BSG ‑, Urteil vom 03.04.2001, B 4 RA 22/00 R; abweichend BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 24/05 R, beide juris) ist der Bescheid der Beklagten vom 30.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2018, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 10.05.2017 zurückzunehmen und das Hineintreten des Metallstücks in den linken Fuß als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Der angegriffene Bescheid vom 30.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2018 erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 10.05.2017; die Voraussetzungen für die begehrte Anerkennung eines Arbeitsunfalls haben vorgelegen.

Die Beklagte verkennt zunächst den Prüfungsmaßstab des § 44 SGB X, wenn sie davon ausgeht, dass neue Tatsachen vorgetragen werden müssen. Vielmehr kommt § 44 SGB X auch dann zur Anwendung, wenn die vorliegenden Tatsachen anders bewertet werden müssen und deshalb das Recht im Ausgangsbescheid unrichtig angewandt wurde (zum Ganzen: BSG, Urteil vom 13.02.2014, B 4 AS 22/13 R, juris).

Im vorliegenden Fall findet § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X Anwendung (so auch, ohne weitere Problematisierung, BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 24/05 R, juris). Zwar wurde im bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 08.10.2018 an sich nicht über Leistungen entschieden, sondern (nur) die Feststellung eines Arbeitsunfalls abgelehnt, so dass durch diesen Bescheid unmittelbar nicht „Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind“, wie dies § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) voraussetzt. Für die Anwendung dieser Regelung spricht jedoch, dass es bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls letztendlich in der Regel doch (mittelbar) um Leistungsansprüche geht. Dabei ist im Anwendungsbereich des Abs. 1 eine gebundene Entscheidung über die Korrektur mit Wirkung für die Vergangenheit zu treffen, während der Behörde im Anwendungsbereich des Abs. 2 insoweit, was die Vergangenheit anbelangt, ein Ermessensspielraum zusteht. Dadurch würde der die Feststellung eines Arbeitsunfalls begehrende potentielle Leistungsempfänger, was die Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides für die Vergangenheit anbelangt, schlechter gestellt, als wenn im bestandskräftigen Bescheid unmittelbar konkrete Leistungsansprüche abgelehnt worden wären. Ein Grund für diese unterschiedliche Behandlung schlussendlich doch sozialleistungsbezogener Überprüfungsverfahren ist nicht ersichtlich (BSG, Urteil vom 16.03.2021, B 2 U 11/19 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.09.2014, L 10 U 1507/12, beide juris).

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).

Nach der Rechtsprechung des BSG ist für einen Arbeitsunfall im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer beziehungsweise sachlicher Zusammenhang) sowie diese Verrichtung wesentlich ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) verursacht (Unfallkausalität) und das Unfallereignis wesentlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat (BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, juris, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 10/11 R, juris; BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 9/10 R, juris; BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris).

Bei der objektiven Verursachung kommt es darauf an, dass die versicherte Verrichtung für das Unfallereignis und dadurch für den Gesundheitserstschaden oder den Tod eine (Wirk-)Ursache war. (Wirk-)Ursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. Insoweit ist Ausgangspunkt die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolgs gilt, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Ob die versicherte Verrichtung eine Wirkursache in diesem Sinne war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen beantwortet werden. Steht die versicherte Tätigkeit als eine der (Wirk-) Ursachen fest, muss sich auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller weiteren auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen als Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr darstellen. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der Wesentlichkeit der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG, Urteil vom 04.12.2014, B 2 U 18/13 R, juris, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 26.06.2014, B 2 U 4/13 R, juris; BSG, Urteil vom 13.11.2012, B 2 U 19/11 R, juris; BSG, Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R, juris).

Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs beziehungsweise Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. „Wesentlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als „wesentlich“ anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen. Dass der Begriff der „Gelegenheitsursache“ durch die Austauschbarkeit der versicherten Einwirkung gegen andere alltäglich vorkommende Ereignisse gekennzeichnet ist, berechtigt jedoch nicht zu dem Umkehrschluss, dass bei einem gravierenden, nicht alltäglichen Unfallgeschehen oder besonderen Problemen in der anschließenden Heilbehandlung, ein gegenüber einer Krankheitsanlage rechtlich wesentlicher Ursachenbeitrag ohne Weiteres zu unterstellen ist. Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache beziehungsweise dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens – eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war –, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein. Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt, bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht zu berücksichtigen oder bei ihr entbehrlich wären. Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris).

Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung, dass das Unfallereignis sowie die Gesundheitsschäden im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und den als Unfallfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit erforderlich; die bloße Möglichkeit genügt insoweit nicht (BSG, Urteil vom 04.07.2013, B 2 U 11/12 R, juris, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 26/10 R, juris; BSG, Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 25/10 R, juris; BSG, Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 22/10 R, juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R, juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 9/08 R, juris). Es gelten die allgemeinen Regeln der materiellen Beweislast. Danach trägt derjenige, der ein Recht für sich beansprucht, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Ermittlung die materielle Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Rechts (BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris). So darf nicht aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der Abwesenheit konkurrierender Ursachen automatisch auf die Wesentlichkeit der einen festgestellten naturwissenschaftlich-philosophischen Ursache geschlossen werden (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris). Andererseits verdrängt die bloße Möglichkeit der Mitverursachung durch eine nicht versicherte Ursache die festgestellte Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit keinesfalls, weil hypothetische Ereignisse als Ursachen ausscheiden. Insoweit ist zu beachten, dass für die Feststellung eines Arbeitsunfalls der volle Beweis für das Vorliegen sowohl einer versicherten als auch einer nicht versicherten Ursache geführt sein muss und lediglich für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (BSG, Urteil vom 06.05.2021, B 2 U 15/19 R, juris, Rn. 20).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten, als er sich ein Metallstück in den Fuß getreten hat.

Der Kläger hat bei der Arbeitgeberin als Arbeitnehmer unstreitig eine versicherte Tätigkeit ausgeübt. Bei der Ausübung dieser versicherten Tätigkeit hat der Kläger sich ein Drahtstück in den Fuß getreten, so dass auch ein Unfall bei Ausübung der versicherten Tätigkeit erfolgt ist. Dies ist zur Überzeugung des Senats im Vollbeweis gesichert. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128, Rn. 3b). Der Vollbeweis beinhaltet, dass kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch am Vorliegen einer Tatsache noch zweifelt. Selbst eine möglicherweise hohe Wahrscheinlichkeit reicht für die Annahme des Vollbeweises nicht aus (Thüringer LSG, Urteil vom 30.04.2021, L 1 U 509/20, juris).

Zwar konnte der Kläger kein konkretes Datum benennen, an dem er sich das Drahtstück in den Fuß getreten hat, worauf die Beklagte zutreffend hinweist. Jedoch muss der genaue Tag der Einwirkung nach dem Kalender nicht feststehen (Wagner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., Stand 29.06.2022, § 8 SGB VII, Rn. 134). Für den Senat bestehen nach der Beweisaufnahme des SG keine Zweifel daran, dass der Kläger sich das Drahtstück während der versicherten Tätigkeit in den Fuß getreten hat. Dass er kein genaues Datum nennen konnte, führt er für den Senat nachvollziehbar auf eine bestehende Sensibilitätsstörung im Fuß aufgrund diverser Bandscheibenvorfälle zurück. Das Vorliegen einer peripheren Polyneuropathie (Sensibilitätsminderung im Vorfuß links) ist auch dem Bericht des Dkrankenhauses vom 31.10.2016 zu entnehmen.

Der Kläger war bei der Arbeitgeberin an einer Maschine tätig, mit der Metall mittels einer rotierenden Drahtrundbürste bearbeitet wird. Während des Bürstvorgangs stellte er einen Fuß teilweise unter die Maschine, um das zu bearbeitende Werkstück besser halten zu können. Während dieses Bürstvorgangs lösen sich immer wieder kleine Drahtbruchstücke von der Bürste. Dies steht aufgrund der glaubwürdigen Angaben des Klägers fest. Der Präventionsdienst konnte zwar keine Drahtstücke am Boden finden, was sich jedoch durch ein (vorheriges) Fegen erklärt. Dass sich bei dem Bürstvorgang Splitter lösen können, wird vom Präventionsdienst nicht in Zweifel gezogen; dieser stellt vielmehr darauf ab, dass seiner Ansicht nach Splitter nicht durch die Sicherheitskleidung einschließlich der Sicherheitsschuhe dringen könnten und außerdem das Drahtstück aufgrund seiner Beschaffenheit nicht in den Fuß eindringen könne (vgl. Bericht des Präventionsdienstes, Bl. 31 der SG-Akte). Darüber hinaus hat der Kläger das Bild eines Kartons übersandt, der in der Nähe der Maschine stand und in den ebenfalls kleine Drahtstücke eingedrungen waren.

Ferner steht aufgrund der Angaben des Klägers fest, dass das aus dem Fuß des Klägers entnommene Drahtstück aus einer solchen Bürste stammt. Der Präventionsdienst hatte zwar Zweifel daran geäußert, dass das Metallstück aus der Firma in den Fuß des Klägers gelangt sein könne. Dies aber hauptsächlich deshalb, weil sowohl das unstreitig dem Fuß des Klägers entnommene Drahtstück sowie das zum Vergleich übersandte Werkstück recht dünn, relativ lang und biegsam und damit nicht geeignet seien, in den Fuß einzudringen. Dabei berücksichtigt der Präventionsdienst aber zum einen zu wenig, dass das Drahtstück dem Fuß des Klägers entnommen wurde und somit zuvor eingedrungen sein muss. Zum anderen berücksichtigt er nicht ausreichend, dass das der Bürste entnommene Teil zwar länger ist als das herausoperierte Stück, sich jedoch von der Bürste nur Teilstücke und selten ganze Stücke lösen, wie der Kläger nachvollziehbar dargelegt hat. Demgegenüber hat der Präventionsdienst selbst eingeräumt, dass das aus dem Fuß des Klägers operierte Drahtstück in Steifigkeit und Optik den im Betrieb sichergestellten Vergleichsproben entsprach und nur minimal dicker war. Der Hinweis der Beklagten, dass der Draht schon wegen der Sicherheitsschuhe und der langen Hose nicht in den Fuß habe eindringen können, ist hingegen nicht überzeugend. Zum einen hat der Kläger glaubhaft beschrieben, dass die getragene Hose bei Bewegungen auch verrutschen kann und nicht immer plan auf dem Schuh aufliegt, so dass ein Eindringen möglich ist. Darüber hinaus bleibt seitens der Beklagten unberücksichtigt, dass sich ein Drahtstück, das sich vorher an der Hose verfangen hat, beim Umziehen lösen konnte, so dass auch hierdurch ein Eindringen in den Fuß möglich war.

In der Gesamtschau sieht der Senat den Nachweis als geführt, dass sich der Kläger die Verletzung (Eintreten des Drahtstücks) bei der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat. Entweder hat das Drahtstück unmittelbar, z.B. durch ein Verrutschen der Hose, einen Weg in den Schuh, den der Kläger nur im Betrieb getragen hat, gefunden. Oder es ist beim An- oder Ausziehen der Sicherheitsschuhe, die lediglich bei der Arbeitgeberin getragen werden, in den Zeh eingedrungen, indem sich ein Drahtstück, das sich vorher an der Hose verfangen hat, beim Umziehen gelöst hat und in den Fuß eingedrungen ist. Das An- und Ablegen der Arbeitskleidung steht als typische Vorbereitungshandlung für die versicherte Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Solche versicherten Vor- und Nachbereitungshandlungen oder vor- und nachbereitende Tätigkeiten sind Maßnahmen, die einer versicherten Tätigkeit vorangehen und ihre Durchführung erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2019, B 2 U 31/17 R; Thüringer LSG, Urteil vom 04.06.2020, L 1 U 1340/19, beide juris; Keller in Hauck/Noftz SGB VII, § 8, Rn. 56). Das Umkleiden bildet bei natürlicher Betrachtungsweise mit der eigentlich versicherten Tätigkeit eine Einheit. Der Kläger hat auch nachvollziehbar dargelegt, dass er das konkrete Eindringen des Drahtstücks in den Fuß nicht gespürt hat, da er an einer Gefühlsstörung des linken Fußes leidet. Der Einwand der Beklagten, der Kläger könne sich das Drahtstück, das möglicherweise in den Schuh gelangt sei, irgendwo beim Laufen in den Fuß getreten haben, vermag nicht zu überzeugen. Denn der Kläger hat dargelegt, dass er die Sicherheitsschuhe nur bei der Arbeitgeberin trägt und diese bei der Arbeitgeberin verbleiben. Diese Angaben sind unwidersprochen geblieben. Weitere Möglichkeiten, wie sich der Kläger das aus dem Betrieb der Arbeitgeberin stammende Drahtstück in den Fuß getreten haben könnte, werden von der Beklagten nicht benannt. Auch hat der Kläger gegenüber dem SG und im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes glaubhaft und glaubwürdig dargelegt hat, dass er im privaten Umfeld keinen Kontakt zu vergleichbaren Drahtstücken hatte und auch nicht, wie vom Arbeitgeber angegeben, Hobbybastler ist. Letztlich ging auch die Beklagte lange Zeit von einem Arbeitsunfall aus. Erst die Angaben eines Mitarbeiters der Arbeitgeberin, die jedoch sichtlich von Groll gegenüber dem Kläger geprägt sind und teilweise unzutreffende Angaben enthalten (so hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, zu Hause schon mangels Platz keine Metallarbeiten durchzuführen), führten nach dem Akteninhalt mutmaßlich zu einer Ablehnung der Anerkennung.

Das Eindringen des Drahtstücks in den Fuß stellt auch einen Gesundheitserstschaden dar. Soweit die Beklagte bereits das Vorliegen eines Gesundheitserstschadens verneint, da beim Kläger ein Clavus (möglicherweise aufgrund zu enger Schuhe) diagnostiziert wurde, kann der Senat dem nicht folgen. Das Eindringen des Fremdkörpers hat zumindest eine Wunde verursacht. Welche weiteren Folgen auf den Unfall zurückzuführen sind und wie sich in diesem Fall die von der Beklagten angeführte Verhornungsstörung auswirkt, ist für die Frage des Gesundheitserstschadens und damit für das Vorliegen des Arbeitsunfalls unerheblich.

Nach alldem ist die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.



 

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