Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. März 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Dem 1964 in der Türkei geborenen, alleinstehenden Kläger bewilligte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 26.08.2019 Leistungen für die Zeit vom 01.08.2019 bis 31.07.2020. Diese Bewilligung hob der Beklagte mit Bescheid vom 16.01.2020 mit Wirkung ab 01.01.2020 „gemäß § 48 Abs. 1 Satz1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf. Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Niederlassungserlaubnis sei rückwirkend zum 09.10.2016 erloschen. Der Kläger habe daher keinen gültigen Aufenthaltstitel und somit kein Aufenthaltsrecht in Deutschland im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II. Gegen diese Entscheidungen sind Rechtsmittel nicht eingelegt worden.
Am 17.02.2021 stellte der Kläger einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II („vereinfachter Antrag für Bewilligungszeiträume mit Beginn vom 01.03.2020 bis zum 31.12.2021“).
Mit Bescheid vom 11.03.2021 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Aufenthaltsrecht in Deutschland habe und verwies insoweit auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a) SGB II.
Am 21.06.2021 ist beim Beklagten ein auf den 18.06.2021 datiertes Schreiben des Klägers eingegangen, mit dem er „Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid vom 11.03.2021, behelfsweise aufgrund der Verfristung … einen Antrag auf Überprüfung dieses Bescheides mit rechtsmittelfähigem Bescheid“ beantragte. Zur Begründung trug er vor, dass er sich noch immer in einem Verfahren mit der Ausländerbehörde S zur Feststellung seines Aufenthaltstitels befinde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10.09.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unzulässig zurück. Der Bescheid sei am 11.03.2021 zur Post gegeben worden und gelte als am 14.03.2021 bekannt gegeben. Die Widerspruchsfrist habe am 14.04.2021 geendet. Der Widerspruch sei am 21.06.2021 und somit nach Ablauf der Monatsfrist eingegangen. Demzufolge sei der Widerspruch nicht fristgerecht eingelegt. Es seien zudem keine Gründe erkennbar, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigten. Der Bescheid, der eine vollständige und verständliche Belehrung über Form und Frist des Widerspruches enthalten habe, sei daher sachlich nicht zu überprüfen und als unzulässig zurückzuweisen.
Ferner wurde darauf hingewiesen, dass über den hilfsweise eingelegten Überprüfungsantrag von der für den Kläger zuständigen Zweigstelle noch nicht entschieden worden sei.
Hiergegen hat der Kläger anwaltlich vertreten am 27.09.2021 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und den Anspruch auf Grundsicherungsleistungen weiterverfolgt. Zur Begründung hat er geltend gemacht, er sei erwerbsunfähig, da er nach einer Herzoperation nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Ihm stünden Leistungen zu, da ohne Leistungen keine Sicherung des Lebensunterhaltes möglich sei.
Mit Gerichtsbescheid vom 04.03.2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Beklagte habe im angefochtenen Widerspruchsbescheid zutreffend darauf hingewiesen, dass die Widerspruchsfrist nach § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG zum Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs abgelaufen gewesen sei. Dies werde vom Kläger auch nicht bestritten. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien weder vorgetragen worden noch seien solche ersichtlich.
Gegenstand des Verfahrens sei nicht die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 11.03.2021 nach § 44 SGB X habe. Die Beklagte habe über den Überprüfungsantrag des Klägers bisher nicht entschieden. Vorliegend sei das Verfahren auch nicht nach § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG bis zu einer Entscheidung der Beklagten über den Antrag nach § 44 SGB X und über den dann zu erhebenden Widerspruch auszusetzen. Zwar vertrete das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung, dass das Gericht einem Kläger durch Aussetzung die Möglichkeit geben müsse, ein Vorverfahren nachzuholen. Jedoch gelte dies nicht, wenn es an einem Verwaltungsverfahren überhaupt fehle (unter Hinweis auf LSG Hamburg, Urteil vom 18.11.2014 - L 3 R 8/12 -, juris). Da eine Entscheidung über die Überprüfung des angegriffenen Bescheides vom 11.03.2021 nicht vorliege, könne sie auch nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein.
Mit Bescheid vom 28.12.2021 lehnte der Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 11.03.2021 und die Neubescheidung aufgrund des Antrages des Klägers vom 21.06.2021 auf Überprüfung nach § 44 SGB X ab. Hiergegen hat der Kläger am 10.01.2022 Widerspruch eingelegt, über den bislang noch nicht entschieden ist.
Gegen den seinem Bevollmächtigten am 11.03.2022 zugegangenen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 11.03.2022 „Rechtsmittel eingelegt, da der Kläger bedürftig im Sinne des Gesetzes ist und seit Jahren nur in S wohnt, so dass das Sozialgericht zuständig ist.“
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Der Beklagte hat ebenfalls keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung vom 24.05.2022 auch in Abwesenheit der Beteiligten über den Rechtsstreit entscheiden, da die Beteiligten ordnungsgemäß zum Termin geladen wurden. In dieser Ladung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann.
Mit seinem Vortrag im Berufungsverfahren verweist der Kläger erneut auf seine Bedürftigkeit und hält damit an seinem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes fest. Der Senat legt den Antrag daher unter Berücksichtigung der Aktenlage und seines bisherigen Vortrages dahingehend aus, dass er sich auch weiterhin gegen die Ablehnung der beantragten Leistungen mit Bescheid des Beklagten vom 11.03.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2021 wendet und zugleich begehrt, den die Klage hiergegen ablehnenden Gerichtsbescheid aufzuheben. Die insoweit zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage ist damit zulässig.
Zu Recht haben indes der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 10.09.2021 und das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 04.03.2022 entschieden, dass der am 21.06.2021 beim Beklagten eingegangene Widerspruch gegen den Bescheid vom 11.03.2021 verfristet war und der Bescheid vom 11.03.2021 daher zwischen den Beteiligten bindend geworden ist (§ 77 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Unter Beachtung von § 36 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid die maßgeblichen Vorschriften (§ 84 SGG) genannt und die einzuhaltende Frist unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben (§ 26 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 und Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) bestimmt. Dass diese nicht eingehalten ist, wird auch vom Kläger nicht bestritten. Einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 SGB X) hat er zudem nicht gestellt. Unter Berücksichtigung dessen macht sich der Senat die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid diesbezüglich in vollem Umfang zu eigen und sieht insoweit, um eine unnötige Wiederholung zu vermeiden, von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Zu Recht weist das SG darüber hinaus darauf hin, dass die Frage, ob der Kläger Anspruch auf die Rücknahme des Bescheides vom 11.03.2021 hat, nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, sondern im zwischenzeitlich anhängigen Rechtsmittelverfahren gegen den Bescheid vom 28.12.2021 zu klären ist.
Gemäß § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Der Bescheid vom 28.12.2021, der dem Kläger zeitlich nach dem Widerspruchsbescheid, aber vor Erlass des Gerichtsbescheides bekannt gegeben wurde, war damit nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens und ist damit auch nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens. Denn er ändert den Bescheid vom 11.03.2021 weder ab noch ersetzt er diesen.
„Neue Verwaltungsakte“ i.S.d. § 96 Abs. 1 SGG sind insbesondere Änderungs-, Aufhebungs- und Abhilfebescheide, mit denen ein zeitlich nicht beschränkter Dauerverwaltungsakt abgeändert oder ersetzt und damit insbesondere eine laufende Leistung entzogen oder neu festgesetzt wird. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern – z.B. im Gegensatz zu einem bloß befristeten Bescheid – ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet bzw. inhaltlich verändert (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 96 SGG (Stand: 03.01.2022), Rn. 30).
Unabhängig davon, dass bereits kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vorliegt, ändert der Bescheid vom 28.12.2021 den Bescheid vom 11.03.2021 weder ab noch ersetzt er diesen. Ein „Abändern“ oder „Ersetzen“ i.S.d. § 96 Abs. 1 SGG erfordert zunächst, dass der angefochtene Ausgangsbescheid und der - von derselben Behörde - erlassene neue Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) einen „identischen“ Streitgegenstand betreffen und demzufolge durch den neuen Bescheid in die Regelung des Ausgangsbescheides eingegriffen wird. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn die Beschwer des Betroffenen im Hinblick auf den Streitgegenstand bzw. auf das Prozessziel vermindert oder vermehrt wird (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 96 SGG (Stand: 03.01.2022), Rn. 25). „Geändert“ wird ein Verwaltungsakt, wenn er teilweise aufgehoben oder zurückgenommen wird und insoweit eine neue Regelung hinsichtlich des ursprünglichen Ausgangsbescheides erfolgt, so dass in der Folge der ursprüngliche Bescheid hinsichtlich des nicht geänderten Teils weiterhin Bestand hat. „Ersetzt“ wird ein Verwaltungsakt, wenn der neue Verwaltungsakt vollständig an die Stelle des bisherigen tritt, also zum gesamten Regelungsgegenstand des bisherigen Verwaltungsaktes ein neuer Verwaltungsakt ergeht und demzufolge zum Klagegegenstand (§ 95 SGG) wird (vgl. Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 96 SGG [Stand: 03.01.2022], Rn. 27). Auf die in Schrifttum und Rechtsprechung insbesondere bezogen auf ein „Ersetzen“ umstrittene Frage, ob ein erneuter Ablehnungsbescheid während eines Klageverfahrens gemäß § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens wird (vgl. hierzu Bienert, „§ 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes in Verfahren gegen Ablehnungsbescheide und die `zeitliche Zäsur´“, NZS 2015, 844 mit ausführlicher Darstellung des Streitstandes) kommt es vorliegend nicht an.
Zwar betreffen beide Verfahren einen vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die erneute Ablehnung im sogenannten Zugunstenverfahren ändert aber die durch den Ursprungsverwaltungsakt verfügte Beschwer nicht. Eine analoge Anwendung des § 96 SGG ist in der seit 01.04.2008 geltenden Fassung nach allgemeiner Meinung nicht mehr möglich (Bienert, § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes, NZS 2011, 732, 735 und NZS 2015, 844, 846, m.w.N.). Ein nach Maßgabe des § 44 SGB X ergangener, die Rücknahme eines vorangegangenen Bescheides ablehnender Überprüfungsbescheid wird damit nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens, wenn durch ihn der allein angefochtene und streitgegenständliche Bescheid weder abgeändert noch ersetzt worden ist (BSG, Urteile vom 15.11.2012 - B 8 SO 22/10 R - und vom 24.02.2016 - B 8 SO 13/14 R -, Beschlüsse vom 30.09.2009 - B 9 SB 19/09 B - und vom 12.08.2021 - B 9 SB 7/21 BH -, juris, Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 96 SGG (Stand: 03.01.2022), Rn. 25_8, Anm. Schifferdecker zu BSG, Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 12/16 R - NZS 2018, 25, vgl. Bienert, NZS 2011, 732, 735; Bienert, NZS 2018, 25, B. Schmidt in Mayer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 96 Rn. 4 b). Dies ist hier ohne Zweifel der Fall, nachdem auch der Überprüfungsentscheidung des Beklagten keine weitergehende Beschwer als die Ablehnung der beantragten Leistungen zukommt.
Der entgegenstehenden Auffassung, die in den Fällen streitiger Leistungsbewilligungen (Höhenstreite) einen die Zurücknahme ablehnenden Überprüfungsbescheid nach § 44 SGB X als einen den ursprünglich angefochtenen Verwaltungsakt ändernden oder ersetzenden Bescheid würdigt, weil nur so zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen verhindert werden könne, dass über denselben Streitgegenstand mehrere gerichtliche Verfahren nebeneinander geführt würden (vgl. etwa Urteile des BSG vom 20.10.2010 - B 13 R 82/09 R - und vom 07.11.2017 - B 1 KR 24/17 R -, juris) überzeugt jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung nicht. So dürfte zu berücksichtigen sein, dass zumindest im vorliegenden Fall für das Überprüfungsverfahren kein Rechtsschutzbedürfnis bestehen dürfte, nachdem über die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Ablehnung noch nicht rechtskräftig entschieden ist, wobei dieses Prozesshindernis mit der Rücknahme des Rechtsmittels im Ausgangsverfahren entfallen kann (vgl. Urteil BSG vom 24.02.2016 - B 8 SO 13/14 R -, juris).
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 18 AS 3639/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 772/22
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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