L 9 U 3921/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1052/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3921/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. November 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Der Kläger begehrt die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nummer 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BK Nr. 2301: Lärmschwerhörigkeit).

Der im Jahr 1967 geborene Kläger war von 1985 bis Ende 1994 für die Fa. P als Lagerarbeiter tätig. Von Anfang 1995 bis Ende 2019 führte er für dieselbe Firma ausschließlich Arbeiten im Lackierbereich aus. Seit 01.01.2020 ist er dort als Kfz-Führer/PKW-Logistiker beschäftigt.

Im Januar 2020 ging eine betriebsärztliche Verdachtsanzeige einer BK Nr. 2301 bei der Beklagten ein; seit ca. 2013 bestehe beim Kläger ein Verlust der Hörfähigkeit. Der Präventionsdienst der Beklagten gelangte nach einer Ermittlung der Verhältnisse am Arbeitsplatz am 28.07.2020 zu der Einschätzung, dass der Kläger in der Zeit vom 01.01.1995 bis 31.12.2019 einem arbeitstäglichen Lärmexpositionspegel von 90 dB (A) ausgesetzt gewesen sei. Er sei in der Lackiererei im Bereich der Nacharbeit tätig gewesen. Dabei seien einzelne Fahrzeugteile nass geschliffen und danach trocken geblasen worden. Die effektive Lärmdosis belaufe sich auf 25 Jahre. Angaben zum getragenen Gehörschutz finden sich in der Stellungnahme nicht.

Die Beklagte veranlasste eine HNO-fachärztliche Begutachtung durch B. Im Gutachten vom 24.09.2020 führte dieser aus, der Kläger habe angegeben, ihm sei beruflich kein Gehörschutz angeboten worden. B gelangte zu dem Ergebnis, dass sich aus dem durchgeführten Tonaudiogramm eine Taubheit beidseits (Hörverlust je 95 %) und aus dem Sprachaudiogramm ein Hörverlust von 70 % rechts bzw. 60 % links ergebe. Die Befunde seien nicht lärmtypisch, weil der Hörverlust bereits im tiefen Frequenzbereich ansetze und sich dann ein kontinuierlicher Schrägabfall finde. Es liege keine Betonung des Frequenzbereichs bei 4 kHz mit anschließendem Wiederanstieg vor, womit sich keine lärmtypische Kurve zeige. Zudem sei auch das Ausmaß der Schwerhörigkeit für eine effektive Lärmdosis von 25 Jahren völlig ungewöhnlich, weil es den zu erwartenden Verlauf weit übersteige. Im Jahr 2004, nach neun Jahren lärmbelasteter Tätigkeit habe sich zudem bei einer HNO-ärztlichen Untersuchung noch ein völlig normales Hörvermögen gezeigt. Zusammengefasst könne die vorliegende Schwerhörigkeit nicht als lärmbedingt angesehen werden.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 05.11.2020 die Anerkennung einer BK Nr. 2301 ab. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien zwar erfüllt, die medizinischen Voraussetzungen aber nicht. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, es werde bestritten, dass im Bereich der Lackiererei der „Firma B1“ die Lärmexposition nicht ausreichend gewesen sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.2021 zurück und führte dazu aus, die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der begehrten BK lägen nicht vor.

Am 14.04.2021 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erheben lassen mit der Begründung, nach jahrzehntelanger Lärmarbeit könnten auch Hörverluste im tiefen und mittleren Frequenzbereich lärmbedingt sein.

Das SG hat ein Sachverständigengutachten bei R eingeholt. Im Gutachten vom 13.07.2021 hat dieser der Bewertung von B zugestimmt. Es liege eine Hörstörung im Sinne einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Perzeptions-Schwerhörigkeit an beiden Hörorganen vor. Die Ursache der massiven Hörverlustentwicklung, die seit 2020 bis heute noch weiter zugenommen habe, sei nicht bekannt. Keine der genannten Gesundheitsstörungen sei durch die Berufstätigkeit des Klägers verursacht oder wesentlich verschlimmert worden. Es lägen keine Gesundheitsstörungen vor, welche die Merkmale einer BK Nr. 2301 erfüllten. Weitere Untersuchungen und Begutachtungen würden nicht für erforderlich gehalten. Selbst die beauftragte neuerliche HNO-ärztliche körperliche Untersuchung hätte unterbleiben können, weil aus dem aktuellen Befund keine Erkenntnisse der Zuordnung der derzeitigen Hörstörungen zu der Einschätzung einer Lärmschädigungsbeurteilung gewonnen werden könnten. Der anwaltliche Hinweis auf lärmbedingte Schädigungen im Tief- und Mitteltonbereich könne nicht als lärmbedingtes Kriterium behandelt werden; bei starker lärmbedingter Störung im typischen Frequenzbereich könnten nach der Schädigung im Hochtonbereich auch Haarzellen der benachbarten tieferen Frequenzen mitbetroffen werden, etwa bis 1000 Hz. Als lärmtypische diagnostisch verwertbare Entwicklung sei diese Erscheinung keinesfalls verwertbar.

 Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 21.11.2021 abgewiesen. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage sei gemäß §§ 54 Abs. 1, 55 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung einer BK Nr. 2301. Bei einer Listen-Berufskrankheit ließen sich im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Berufskrankheit einer Modifikation bedürften (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.03.2012 - L 3 U 99/11 -, Rn. 30 in Juris): Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) müsse zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen müssten eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ müssten im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genüge die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. Bundessozialgericht <BSG> in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang sei hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).
Im vorliegenden Fall liege keine haftungsbegründende Kausalität vor, weil die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2301 (Lärmschwerhörigkeit) nicht gegeben seien. Die sog. arbeitsmedizinischen Voraussetzungen beträfen zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen: Zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit (was hier zu bejahen sei), zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest in Einklang steh (BSG, Urteil vom 16.03.2021 - B 2 U 11/19 R -, Rn. 33). Die Anerkennung der begehrten BK beim Kläger scheitere am Nichtvorliegen eines adäquaten Schadensbildes.
Diese Einschätzung beruhe auf dem nachvollziehbaren Verwaltungsgutachten und dem im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten von R. Die audiometrischen Befunde passten laut beiden Gutachten nicht zu einer Lärmschwerhörigkeit, da beim Kläger audiometrisch keine C 5-Senke vorliege, der stärkste Hörverlust also nicht im Bereich der zuerst und am stärksten vom Lärm betroffenen hohen Frequenzen liege (vgl. zu diesem Kriterium Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 344). Beide Gutachter hätten zudem nachvollziehbar herausgearbeitet, dass das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung nicht in einem adäquaten Verhältnis zur Lärmeinwirkung stehe, was ebenfalls einen Anhaltspunkt gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit darstelle (vgl. hierzu ebenfalls Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. S. 344). R habe hierzu erklärt, dass selbst wenn der Kläger stark überempfindlich für Lärm sein sollte, angesichts der stattgehabten Lärmexposition nur mit einem lärmbedingten Hörverlust von unter 10 % zu rechnen gewesen wäre. Die berufliche Lärmexposition komme daher im vorliegenden Fall nicht als Ursache für eine hochgradige oder mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit in Betracht. Auch der zeitliche Verlauf der Erkrankung stelle ein Indiz gegen eine durch beruflichen Lärm bedingte Hörstörung dar. Das erste Audiogramm vom 06.04.2004 habe laut R beiderseits einen völlig normalen Hörschwellenverlauf mit Hörverlustwerten von 0 bis 10 dB gezeigt. Die berufliche Lärmbelastung habe am 01.01.1995 begonnen. Folglich seien bis zur Erstellung des genannten Tonschwellenaudiogramms von 2004 bereits neun Jahre unter Lärmbedingungen vergangen, ohne dass eine pathologische Veränderung im Bereich des guten Hörvermögens zu erkennen war. Nicht einmal ein Ansatz einer Hörverlustentwicklung, etwa der Beginn einer C 5-Senke (Hörverlust im empfindlichsten Frequenzbereich bei 4000 Hz durch Lärmbelastung), habe sich innerhalb des Verlaufs der lärmbelasteten neun Arbeitsjahre ausgebildet. R bewerte dies nachvollziehbar als weiteres Indiz gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit. Die Verursachung der Schwerhörigkeit des Klägers durch seine berufliche Tätigkeit sei angesichts der mitgeteilten Indizien nicht hinreichend wahrscheinlich, auch wenn die Lärmstörung während der Zeit der Lärmexposition aufgetreten sei. Die klägerischen Ausführungen änderten daran nichts. R habe insoweit überzeugend ausgeführt, dass bei einer starken lärmbedingten Hörminderung im typischen Frequenzbereich nach der Schädigung im Hochtonbereich auch Haarzellen der benachbarten tieferen Frequenzen mitbetroffen werden könnten, etwa bis 1000 Hz. Eine entsprechende Entwicklung liege beim Kläger aber unter Berücksichtigung des darrgestellten Verlaufes und der audiometrischen Befunde nicht vor.

Gegen den der Kläger-Seite am 30.11.2021 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 21.12.2021 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhobene Berufung, mit der die Kläger-Seite ihr Begehren weiterverfolgt und vorgetragen hat, bereits die Arbeitsplatzbegehung habe nicht die tatsächliche Lärmbelastung am Arbeitsplatz des Klägers abgebildet. Allerdings sei der Arbeitsplatz, an welchem der Kläger über die Jahre beschäftigt war, nicht mehr vorhanden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. November 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 5. November 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. März 2021 aufzuheben und festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den ergangenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Mit Beschluss vom 17.02.2022 ist die Berufung dem Vorsitzenden Richter übertragen worden, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor. In der Sache bleibt die Berufung jedoch ohne Erfolg.

Wegen der weiteren Begründung verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen in dem angegriffenen Gerichtsbescheid (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen, die Arbeitsplatzbegehung durch die Beklagte habe nicht die tatsächliche Lärmbelastung am Arbeitsplatz des Klägers abgebildet, ist (lediglich) ergänzend anzumerken, dass die Beklagte nicht die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2301, sondern deren medizinische Voraussetzungen verneint hat. Diese Einschätzung beruht auch zur Überzeugung des Senats richtigerweise auf dem urkundsbeweislich verwertbaren Gutachten des B und dem im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten von R. Danach passen die audiometrischen Befunde nicht zu einer Lärmschwerhörigkeit, da beim Kläger nicht die lärmtypische sog. C 5-Senke vorliegt, der stärkste Hörverlust also nicht im Bereich der zuerst und am stärksten vom Lärm betroffenen hohen Frequenzen liegt (vgl. zu diesem Kriterium Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, S. 344). Zudem haben beide Gutachter ausgeführt, dass das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung nicht in einem adäquaten Verhältnis zur Lärmeinwirkung stehen, was ebenfalls einen Anhaltspunkt gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit darstellt (vgl. hierzu ebenfalls Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. S. 344). R hat hierzu schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, dass selbst wenn der Kläger stark überempfindlich für Lärm sein sollte, angesichts der stattgehabten Lärmexposition nur mit einem lärmbedingten Hörverlust von unter 10 % zu rechnen gewesen wäre. Die berufliche Lärmexposition komme daher im vorliegenden Fall nicht als Ursache für eine hochgradige oder mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit in Betracht. Auch der zeitliche Verlauf der Erkrankung stellt ein Indiz gegen eine durch beruflichen Lärm bedingte Hörstörung dar. Das erste Audiogramm vom 06.04.2004 zeigte nach ca. neun Jahren beruflicher Tätigkeit und Lärmbelastung laut R noch beiderseits einen völlig normalen Hörschwellenverlauf mit Hörverlustwerten von 0 bis 10 dB, ohne dass eine pathologische Veränderung im Bereich des guten Hörvermögens zu erkennen war. Nicht einmal ein Ansatz einer Hörverlustentwicklung, etwa der Beginn einer C 5-Senke (Hörverlust im empfindlichsten Frequenzbereich bei 4000 Hz durch Lärmbelastung), hatte sich innerhalb des Verlaufs der lärmbelasteten neun Arbeitsjahre ausgebildet, was ein weiteres Indiz gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit darstellt. Die Verursachung der Schwerhörigkeit des Klägers durch seine berufliche Tätigkeit ist angesichts der mitgeteilten Indizien auch zur Überzeugung des Senats nicht hinreichend wahrscheinlich, auch wenn die Lärmstörung während der Zeit der Lärmexposition aufgetreten ist. Die klägerischen Ausführungen ändern daran nichts. Dies gilt auch für das Berufungsvorbringen, wonach die Lärmeinwirkungen bei der Arbeitsplatzbegehung unrichtig festgestellt worden seien. Dieses auf die arbeitstechnischen Voraussetzungen bezogene Vorbringen ist – unabhängig davon, dass es die nachvollziehbaren Ausführungen in den genannten Gutachten zu den medizinischen Voraussetzungen nicht entkräften würde – keiner Überprüfung oder gar einem Beweis zugänglich, zumal der Kläger selbst angibt, sein früherer Arbeitsplatz sei nicht mehr vorhanden. Weitere Ermittlungen von Amts wegen sind daher nicht veranlasst.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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