S 59 KR 649/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 59 KR 649/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Dem privat krankenversicherten Bezieher einer Altersrente, dessen Ehepartner Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, ist es nach der geltenden Rechtslage nicht grundsätzlich verwehrt, durch vorübergehende Wahl einer Teilrente nach § 42 SGB VI die beitragsfreie Familienversicherung über den Ehepartner zu erreichen, mit der Folge, dass die Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 3a SGB V endet und bei späterer Rückkehr zur Vollrente die obligatorische freiwillige Versicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V eintritt.

 

I. Der Bescheid der Beklagten vom 16.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.03.2022 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.


T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger seit dem 01.05.2021 bei der Beklagten über seine Ehefrau in der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) familienversichert und infolgedessen ab dem 01.09.2021 aufgrund der ab dann bezogenen höheren Rente freiwillig versichert war und ob der Bescheid der Beklagten über die Rücknahme des Bescheides hinsichtlich der Feststellung der Familienversicherung rechtmäßig ergangen ist.

Der am 1950 geborene Kläger ist seit dem 09.06.2011 mit seiner Ehefrau S. verheiratet, die bei der Beklagten versichertes Mitglied ist. Der Kläger war bis zum 30.04.2021 bei der AXA privat krankenversichert.

Laut Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 12.04.2021 wurde die bisherige Altersrente für besonders langjährig Versicherte des Klägers ab dem 01.05.2021 neu berechnet. Ab dem 01.05.2021 werde die "gewählte Teilrente" gezahlt in Höhe von monatlich 453,46 € zuzüglich eines Zuschusses zum Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 36,05 €, insgesamt 489,51 €.

Am 22.04.2021 beantragte der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau die Feststellung der Familienversicherung des Klägers über seine Ehefrau ab 01.05.2021. Als einziges Einkommen wurde die gesetzliche Rente in Höhe von 453,46 € angegeben.

Mit Schreiben vom 30.04.2021 fragte die Beklagte den Kläger, aus welchen Gründen er sich für die Wahl einer Teilrente entschieden habe, ab welchem Zeitpunkt er beabsichtige, wieder die Vollrente zu beantragen, wann er die Altersrente beantragt habe und wie er in den letzten fünf Jahren vor dem Rentenantrag versichert gewesen sei.

Hierauf antwortete der Kläger mit Schreiben vom 05.05.2021, er habe eine Teilrente aus privaten Gründen beantragt. Darüber hinaus sehe § 42 SGB VI keine Begründung für die Beantragung einer Teilrente vor. Die Beantragung der Vollrente sei noch ungewiss. Der Beginn der Altersrente habe im Jahre 2015 gelegen. Er sei in den letzten fünf Jahren bei der AXA privat krankenversichert gewesen. Eine Befreiung von der Versicherungspflicht gebe es nicht.

Der Kläger legte den Einkommensteuerbescheid des Finanzamts Freising für das Jahr 2020 vom 29.03.2021 vor. Daraus ergab sich, dass der Kläger im Jahr 2020 über Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 8800 € abzüglich Werbungskosten und einen Jahresbetrag der Rente in Höhe von 15.290 € verfügt hatte.

Am 02.06.2021 übersandte die Beklagte dem Kläger eine "Bescheinigung für die private Krankenversicherung", die eine "Mitgliedsbescheinigung" für den Kläger beinhaltete, der ab dem 01.05.2021 bei der Beklagten versichert sei (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Weiter findet sich der Hinweis, dass die Familienversicherung u. a. davon abhängig sei, dass das regelmäßige Gesamteinkommen die Einkommensgrenze von einem Siebtel der Bezugsgröße nicht überschreite.

Laut Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 09.09.2021 bezog der Kläger ab dem 01.09.2021 Altersrente für besonders langjährig Versicherte in Höhe von monatlich 1312,63 €.

Mit Schreiben vom 13.09.2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe vom Rentenversicherungsträger die Mitteilung erhalten, dass seine Rente zum 01.09.2021 auf 1312,63 Euro monatlich erhöht worden sei. Diese Einnahmen überstiegen die maßgebende Grenze von monatlich 470 €. Die kostenfreie Familienversicherung ende daher zum 31.08.2021. Er könne sich jedoch weiterhin freiwillig bei der Beklagten versichern. Zur Berechnung der Beiträge werde er gebeten, den anliegenden Fragebogen ausgefüllt zurückzuschicken.

Der Kläger beantragte die freiwillige Versicherung bei der Beklagten ab dem 01.09.2021.

Mit Schreiben vom 22.09.2021 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Rücknahme der Entscheidung über die Bewilligung der Familienversicherung vom 02.06.2021 an.

Ab dem 01.10.2021 nahm der Kläger eine Beschäftigung auf.

Mit Schreiben vom 16.11.2021 teilte die Beklagte dem Kläger unter dem Betreff "rückwirkende Aufhebung der Familienversicherung wegen kurzfristiger Teilrente" mit, dass die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 02.06.2021 nach § 45 SGB X gegeben seien: Bei der Beurteilung des "regelmäßigen Gesamteinkommens" im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V sei eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt. Es sei eine Prognoseentscheidung unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Veränderungen erforderlich. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze habe bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 02.06.2021 ein regelmäßiges Einkommen in Höhe der Vollrente und nicht in Höhe der Teilrente bestanden, das die maßgebliche Einkommensgrenze überstiegen habe. Rückblickend sei von Anfang an festgestanden, dass der Kläger nur für einen kurzen Zeitraum die Teilrente beziehen würde. Der Kläger habe nach Lage der Dinge von Anfang an die Absicht gehabt, wieder eine Vollrente zu beantragen, was bereits die zeitliche Nähe zwischen Beginn der Teilrentenzahlung und Beantragung der Vollrente belege. Auf das Schreiben der Beklagten vom 30.04.2021, mit dem nach bestimmten Angaben gefragt worden sei, wäre der Kläger verpflichtet gewesen, anzugeben, dass er vorhabe, kurz nach Zubilligung der Familienversicherung wieder Vollrente zu beantragen. Hinsichtlich der Pflegeversicherung ergehe dieser Bescheid zugleich im Namen der Pflegekasse.

Mit Anwaltsschreiben vom 09.12.2021 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 16.11.2021 Widerspruch ein. Zur Begründung brachte er mit Schreiben vom 21.01.2022 vor, alle Angaben korrekt gemacht zu haben. Gemäß § 206 SGB V, der § 60 SGB I als lex specialis verdränge, seien nur Tatsachen anzugeben. Darunter fielen nur vergangene oder gegenwärtige Verhältnisse oder Ereignisse; Beurteilungen oder Werturteile könnten nicht verlangt werden. Absichten oder Überlegungen für die Zukunft seien keine Tatsachen und von § 206 SGB V nicht umfasst.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.03.2022 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Der Kläger habe nach Lage der Dinge von Anfang an die Absicht gehabt, wieder eine Vollrente zu beantragen; dies habe er im Telefongespräch vom 15.12.2021 bestätigt. Rückblickend habe bereits bei Erlass des Bescheides vom 02.062021 ein regelmäßiges Einkommen in Höhe der Vollrente und nicht in Höhe der Teilrente bestanden.

Dagegen hat der Kläger am 02.06.2022 beim Sozialgericht (SG) München Klage erhoben und geltend gemacht, die grundsätzlich einmonatige Klagefrist verlängere sich gemäß § 66 Abs. 2 SGG auf eine Frist von einem Jahr, weil die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid insoweit unrichtig erteilt worden sei, als man unterlassen habe, über die zulässige elektronische Form der Klageerhebung zu unterrichten.

Zur Begründung macht der Kläger geltend, er sei bei der Beantragung einer Teilrente nach § 42 SGB VI frei gewesen; eine Teilrente müsse mindestens 10 % der Vollrente beantragen und könne höchstens in Höhe von 99 % in Anspruch genommen werden, nach Ansicht des Bayerischen Landessozialgerichts mit Urteil vom 14.09.2021 (Az. L 6 R 199/19) sogar in Höhe von 99,99 %. Es handle sich um keinen unwirksamen Verzicht nach § 46 Abs. 2 SGB I. Die Altersrente sei regelmäßiges Einkommen. Insoweit habe der Rentenbescheid für die Krankenkasse Tatbestandswirkung. Da die niedrigere Teilrente mehr als drei Monate bezogen worden sei, handle es sich auch um regelmäßiges Einkommen. Es sei deshalb nicht zulässig, einen Jahresdurchschnitt des Einkommens zu bilden.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 16.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.03.2022 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 19.01.2023 den Kläger persönlich vernommen. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Für die Entscheidung war das Sozialgericht München örtlich (§ 57 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und sachlich (§ 8 SGG) zuständig.

Die Klage ist zulässig. Sie ist als isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthaft. Die Klage wurde gemäß §§ 87, 90 und 92 SGG form- und fristgerecht erhoben. Die Versäumung der Monatsfrist war unschädlich, da die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid insoweit nicht vollständig war, als über die elektronische Form der Klageerhebung nicht belehrt worden war; deshalb setzte der Widerspruchsbescheid nur die Jahresfrist nach § 66 SGG in Lauf, die bei Klageerhebung noch nicht abgelaufen war. Zwar hatte das BSG noch mit Urteil vom 14.03.2013 (Az. B 13 R 19/12 R) die Meinung vertreten, dass der fehlende Hinweis auf die elektronische Form unbeachtlich sei, da es sich nicht um einen gleichwertigen "Regelweg" zum Gericht handele und deshalb die elektronische Form noch keine solche praktische Bedeutung erlangt habe, dass es geboten gewesen wäre, die Beteiligten zum Schutz vor Rechtsnachteilen durch Unwissenheit auf diese Form aufmerksam zu machen. Das BSG hat jedoch schon im damaligen Urteil offen gelassen, ob eine Änderung der Rechtsprechung künftig erforderlich werde, wenn die elektronische Form weiter Verbreitung fände. Aufgrund der diesbezüglichen Aktivitäten des Gesetzgebers, insbesondere der Pflicht zur elektronischen Klageerhebung nach § 65d SGG in der ab dem 01.01.2022 geltenden Fassung, und der mittlerweile zentralen Rolle des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten ist eine Belehrung über die Möglichkeit elektronischer Einlegung spätestens seit dem Jahr 2022 erforderlich (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. A. 2020, § 66 Rdnr. 10).

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 16.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.03.2022 ist rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Die Beklagte konnte ihren Bescheid vom 02.06.2021, mit dem die Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegekasse festgestellt wurde, nicht gemäß § 45 SGB X zurücknehmen, weil der Bescheid vom 02.06.2021 rechtmäßig war. Der Kläger war ab dem 01.05.2021 durch die Familienversicherung bei seiner Ehefrau nach § 10 SGB V Mitglied der Beklagten geworden.

Insbesondere war der Kläger weder versicherungsfrei noch von der Versicherungspflicht befreit, was gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V Voraussetzung der beitragsfreien Familienversicherung ist. Insbesondere war der Kläger nicht versicherungsfrei nach § 6 Abs. 3a SGB V. Nach dieser Vorschrift sind Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, versicherungsfrei, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren. Weitere Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 SGB V nicht versicherungspflichtig waren. Zwar hatte der Kläger das 55. Lebensjahr seit langem vollendet und war weit über fünf Jahre nicht gesetzlich versichert und gleichzeitig versicherungsfrei gewesen. Jedoch gilt die Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 3a SGB V nur für Personen, die ohne die Versicherungsfreiheit versicherungspflichtig wären ("...die ... versicherungspflichtig werden..."). An dieser Voraussetzung fehlt es vorliegend. Ein Versicherungspflichttatbestand lag für den Kläger nicht vor.

Ebenso wenig hatte der Kläger ein Gesamteinkommen, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV überschritt. Damit erfüllte der Kläger auch die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V festgelegte Einkommensgrenze. Ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV belief sich im Jahr 2021 auf 470 €.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG, die in den Grundsätzlichen Hinweisen des GKV-Spitzenverbandes zum Gesamteinkommen im Sinne der Regelungen über die Familienversicherung vom 29.09.2022 wiedergegeben wird (dort S. 27), ist grundsätzlich eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt; dies erfordert eine Prognose unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Einkommensverhältnisse. Im Rahmen der vorausschauenden Betrachtungsweise sind zunächst die monatlich zufließenden Einkünfte sowie die weiteren, nicht monatlich zufließenden, aber auf den Monat bezogenen regelmäßigen Einkünfte zu berücksichtigen. Einmalige Einnahmen, deren Gewährung mit hinreichender Sicherheit mindestens einmal jährlich zu erwarten ist, sind hiernach bei der Ermittlung des regelmäßigen Gesamteinkommens anteilmäßig mit dem auf den Monat bezogenen Betrag zu berücksichtigen. Für Renten sieht darüber hinaus das Gesetz in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbs. 3 SGB V selbst vor, dass der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt wird.

Aus Sicht der Kammer war nicht zu bezweifeln, dass der Kläger bereits im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienversicherung am 22.04.2021 den Plan hatte, die ab 01.05.2021 auf eine Teilrente von weniger als 470 € netto reduzierte Altersrente nach wenigen Monaten wieder auf die Vollrente aufzustocken. Zu solchen willkürlichen Veränderungen ist der Rentenbezieher nach § 42 SGB VI berechtigt. Dieser Plan stellt eine zwar innere, jedoch im Zeitpunkt der Antragstellung bereits vorhandene Tatsache dar, aufgrund derer auch bei der aus ex-ante-Sicht zu erstellenden Prognose von Anfang an feststand, dass nach wenigen Monaten wieder eine Vollrente als Einkommen bezogen werden würde. Der Kläger wäre auch verpflichtet gewesen, diese innere Tatsache bei Antragstellung gegenüber der Beklagten zu offenbaren, zumal er ausdrücklich danach gefragt wurde.

Fraglich ist allerdings, ob aufgrund dieser von Anfang an zu stellenden Prognose das in wenigen Monaten zu erwartende höhere Einkommen (das sich ab September 2021 realisierte) bereits auf die Monate Mai bis August 2021 rechtlich zu beziehen war, und wenn ja, in welcher Höhe. Hier hat es sich die Beklagte zu einfach gemacht, indem sie schlichtweg auf die Höhe der ab September 2021 zugeflossenen Vollrente abstellte. Sie hat damit im Kern die Wahl der Teilrente für die Monate Mai bis August 2021 und die damit verbundene tatsächliche Reduzierung des Einkommens völlig ignoriert bzw. für unbeachtlich erklärt. Dies kommt für die Monate Mai bis August 2021 einer fiktiven Zurechnung der Vollrente als Einkommen gleich. Eine fiktive Zurechnung der Vollrente als Einkommen im Rahmen des § 10 SGB V ist jedoch nach Ansicht der Kammer nicht möglich, da das Recht, Teilrente nach § 42 SGB VI zu beantragen, gerade zu dem Zweck geschaffen wurde, Vorteile in Anspruch zu nehmen, die bei höherer Rente verloren gingen. Außerdem lässt die Auffassung der Beklagten die wichtige Frage unbeantwortet, wo die Grenze der Zurechnung liegt, wenn etwa eine Wiederaufstockung auf die Vollrente nach 6 Monaten oder nach einem Jahr beabsichtigt ist etc.

Einen gangbaren Mittelweg, der auch in der mündlichen Verhandlung seitens des Gerichts bereits andiskutiert worden war, hätte auf der Überlegung basiert, dass das Einkommen aus Altersrente ab dem Zeitpunkt, in dem der Rentenberechtigte beschließt, über das Instrumentarium der Teilrente nach § 42 SGB VI die Rentenhöhe nach freiem Belieben herunter- und hinaufzusetzen, eben keine regelmäßige Einnahme mehr darstellt, für die es eine monatsbezogene Betrachtungsweise gibt, sondern eine schwankende Einnahme. Für schwankende Einnahmen hat das BSG in seiner Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, dass die Einnahmen für einen längeren Zeitraum wie ein ganzes Jahr zu ermitteln sind und daraus das durchschnittliche Einkommen pro Monat zu errechnen ist. Diese Grundsätze sind insbesondere bei Einkünften aus selbständiger Tätigkeit oder bei Kapitaleinkünften anzuwenden (BSG, Urteil vom 04.06.1981 Az. 3 RK 5/80; BSG, Urteil vom 07.12.2000 Az. B 12 KR 3/99 R). Bezogen auf den vorliegenden Fall hätte dies bedeutet, dass das ab Mai 2021 prognostisch zu erwartende monatliche Einkommen unter Berücksichtigung des bereits damals bestehenden Planes, nach vier Monaten wieder auf Vollrente umzusteigen, wie folgt zu berechnen gewesen wäre: Zunächst wäre das zu erwartende Jahreseinkommen des Kläger wie folgt zu berechnen gewesen: 4 x monatliche Vollrente (Monate Jan bis April 21) + 4 x monatliche Teilrente (Monate Mai bis August 21) + 4x monatliche Vollrente (Monate September bis Dezember 21). Dieses zu erwartende Jahreseinkommen wäre durch 12 zu teilen gewesen, und der so ermittelte monatliche Durchschnittswert hätte ab Mai 2021 das rechtlich maßgebliche prognostisch zu erwartende regelmäßige monatliche Einkommen dargestellt. Dieses wäre - da die Teilrente nur knapp unterhalb der Grenze von 470 € lag und die Vollrente sich auf ein Vielfaches dieses Grenzwerts belief - zwar unterhalb der Vollrente aber doch immer noch weit oberhalb des Grenzwertes gelegen. Nach dieser Betrachtungsweise wäre es also nur dann möglich, durch Wahl einer Teilrente den Grenzwert des regelmäßigen monatlichen Gesamteinkommens für die Familienversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zu unterschreiten, wenn das Einkommen für so viele Monate und in solchem Ausmaß abgesenkt wird, dass sich auch unter Berücksichtigung des in den übrigen Monaten des Kalenderjahres erzielten höheren Einkommens im monatlichen Durchschnitt - auf das Jahr bezogen - ein monatliches Gesamteinkommen von höchstens einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV ergibt. Für diese Sichtweise, die bei schwankendem Einkommen einen monatlichen Mittelwert aus dem zu erwartenden gesamten Jahreseinkommen bildet, spricht nicht nur die bereits zitierte Rechtsprechung des BSG; vielmehr lässt sich dafür auch anführen, dass der von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V verwendete Begriff des Gesamteinkommens in § 16 SGB IV legal definiert wird als die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts. Im Einkommensteuerrecht aber werden Einkünfte immer bezogen auf einen Veranlagungszeitraum berechnet, der ein Kalenderjahr beträgt (§ 25 Abs. 1 EStG).

Die Kammer hat sich diesen Überlegungen letztlich nicht angeschlossen und hat - obwohl das höhere Einkommen ab September 2021 von Anfang an prognostisch feststand - dieses höhere Einkommen nicht in das für die Monate Mai bis August 2021 zuzurechnende Einkommen eingerechnet. Maßgeblich war dabei die Überlegung, dass vier Monate ausreichen, um dem Einkommen die Eigenschaft der Regelmäßigkeit zu verleihen.

Abschließend erlaubt sich das Gericht die Bemerkung, dass allein durch Regelungen der Berechnung des Gesamteinkommens bei vorübergehender Wahl einer Teilrente niemals verhindert werden kann, dass dieser Weg von privat versicherten Rentnern, deren Ehepartner gesetzlich versichert sind, genutzt wird, um in die - im Alter meist viel günstigere - gesetzliche Krankenversicherung zurückzukehren. Dem privat krankenversicherten Bezieher einer Altersrente, dessen Ehepartner Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, ist es nach der geltenden Rechtslage nicht grundsätzlich verwehrt, durch vorübergehende Wahl einer Teilrente nach § 42 SGB VI die beitragsfreie Familienversicherung über den Ehepartner zu erreichen, mit der Folge, dass die Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 3a SGB V endet und bei späterer Rückkehr zur Vollrente die obligatorische freiwillige Versicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V eintritt. Fraglich kann nur sein, für welchen Zeitraum und in welcher Höhe die Altersrente zu reduzieren ist, um diesen Effekt zu erreichen. Der Preis, den der Betroffene durch Reduzierung seiner Rente für einen überschaubaren Zeitraum zahlt, wird aber auf jeden Fall wesentlich geringer sein, als die Kosten, die dadurch für die gesetzliche Krankenversicherung entstehen, die damit ein neues Mitglied erhalten, das typischerweise schon aufgrund seines Alters hohe Ausgaben verursacht bei niedrigen Beiträgen, denen keine Beitragszeiten in jungen Jahren mit geringen Leistungen und höheren Beiträgen vorausgingen. Eine dadurch zu befürchtende Erosion des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung kann nur der Gesetzgeber verhindern, indem er das Schlupfloch in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V schließt und die Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 3a SGB V auch für Fälle der Familienversicherung für anwendbar erklärt.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

 

 

 

 

 

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