L 30 P 52/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 111 P 803/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 30 P 52/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

            Die Berufung wird zurückgewiesen.

           

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 

Der 1973 geborene, bei der Beklagten gesetzlich pflegeversicherte Kläger begehrt von der Beklagten auf der Grundlage eines am 9. Mai 2014 gestellten Antrags die Gewährung von Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt (wie bewilligt) der Pflegestufe II sowie zusätzliche Betreuungsleistungen nach dem erhöhten statt dem Grundbetrag.

 

Er ist an schubförmig verlaufender Multipler Sklerose erkrankt, die erstmals ca. 2002 diagnostiziert wurde. Schwere Schübe ereigneten sich 2008 und 2013. An den letztgenannten Schub schlossen sich eine lange stationäre Krankenhausbehandlung und sodann ab dem 13. Februar 2014 eine stationäre Reha in der M Klinik G an, aus der der Kläger am 21. Mai 2014 in eine ambulant betreute Intensivpflege-Wohngemeinschaft entlassen wurde, in der er fortan (während des gesamten streitigen Zeitraums) lebte. Dort erfolgte die Pflege durch den Pflegedienst Intensiv Care Home 24. Seit dem Schub von 2013 ist der Kläger nahezu bewegungs- und handlungsunfähig. Wegen schwerer Schluckstörungen wurden eine PEG-Magensonde gelegt und ein Tracheostoma implantiert. Auch ein Blasenkatheter ist vorhanden. Ferner leidet der Kläger an symptomatischer Epilepsie.  

 

Am 9. Mai 2014 stellte seine Ehefrau für ihn für die Zeit ab dem Übertritt in die Wohngemeinschaft einen Antrag auf laufende Pflegeversicherungsleistungen in Form von Sachleistungen. Zugleich legte sie einen Ausweis des Amtsgerichts Mitte vom 16. Januar 2014 vor, wonach sie zur ehrenamtlichen Betreuerin u.a. mit den Aufgabenkreisen Gesundheitssorge sowie Vertretung gegenüber Behörden, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Pflegeeinrichtungen bestimmt wurde.

 

Daraufhin veranlasste die Beklagte ein auf einer ambulanten Untersuchung mit Hausbesuch am 8. Juli 2014 beruhendes Gutachten durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK, heute: Medizinischer Dienst Berlin-Brandenburg), erstellt am 10. Juli 2014 durch die Pflegefachkraft M G. Als pflegerelevante Diagnosen wurden festgehalten: Multiple Sklerose mit vorherrschend schubförmigem Verlauf sowie spastische Tetraparese und Tetraplegie; als weitere Diagnosen: andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit; Harn- und Stuhlinkontinenz; symptomatische Epilepsie; Detrusor-Sphingter-Dyssynergie der Harnblase; Stuhlinkontinenz; Vorhandensein eines Tracheostomas; Kachexie; Immobilität. Der Gutachter bestimmte den pflegerischen Zeitbedarf bei der Körperpflege mit 130 Minuten, bei der Ernährung mit 15 Minuten, bei der Mobilität mit 61 Minuten – insgesamt folglich im Bereich der Grundpflege mit 206 Minuten/Tag, wobei bei der Verrichtung „Waschen/Duschen/Baden“ die orale/tracheale Sekretabsaugung als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme mit einem Zeitaufwand von sechs Minuten/Tag enthalten sei – und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von 77 Minuten/Tag. Er gelangte damit zu der Einschätzung, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorlägen, und ferner, dass die Alltagskompetenz des Klägers erheblich eingeschränkt sei. Dementsprechend bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 26. August 2014 ab dem 21. Mai 2014 laufende  Pflegesachleistungen gemäß § 36 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) in der damals geltenden Fassung nach der Pflegestufe II sowie zusätzliche Betreuungsleistungen i.H.v. 100,- €/Monat wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Für die Jahre 2015 und 2016 wurden insofern 104,- €/Monat zur Verfügung gestellt, die durch den Pflegedienst auch regelmäßig zur Abbuchung gebracht wurden. Hiergegen erhob die Ehefrau des Klägers in dessen Namen Widerspruch mit der Begründung, es sei für sie nicht nachvollziehbar, wie der Gutachter in Anbetracht der massiven Pflegebedürftigkeit nur die Pflegestufe II befürwortet habe. Sie beantrage für ihn die Festsetzung der Pflegestufe III und Erhöhung der zusätzlichen Betreuungsleistungen auf 200,- €/Monat.

 

Die Beklagte holte darauf ein weiteres MDK-Gutachten ein, das am 10. November 2014 nach Aktenlage durch die Pflegefachkraft I R erstellt wurde. Diese schätzte den pflegerischen Zeitbedarf des Klägers bei der Körperpflege und Ernährung ebenfalls mit 130 bzw. 15 Minuten ein und kam im Bereich Mobilität abweichend vom Vorgutachten auf insgesamt 75 Minuten. Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung errechnete sie wie der Vorgutachter einen Pflegebedarf von 77 Minuten/Tag. Bei der Summe von insgesamt 220 Minuten/Tag im Bereich der Grundpflege (sie schätzte ebenfalls ein, dass darin bei der Verrichtung „Waschen/Duschen/Baden“ die orale/tracheale Sekretabsaugung als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme mit einem Zeitaufwand von sechs Minuten/Tag enthalten sei) kam auch sie zu der Einstufung in die Pflegestufe II. Zugleich bestätigte sie die Einschätzung des Vorgutachters, dass die Alltagskompetenz des Klägers erheblich eingeschränkt sei.

 

Die Beklagte hörte die Ehefrau des Klägers zum Ergebnis der weiteren Begutachtung an. Zugleich wiederholte sie die – bereits im angefochtenen Bescheid gestellte – Frage, ob für den Kläger bei anderen Stellen Pflegegeld beantragt worden sei. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2014 meldete sich der spätere Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Vorlage einer gerichtlichen Betreuerbestellung zugunsten von dessen Eltern vom 25. September 2014 u.a. mit den Aufgabenkreisen Gesundheitssorge sowie Vertretung gegenüber Behörden, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Pflegeeinrichtungen. Er teilte mit, dass der Widerspruch aufrechterhalten werde. Die Einschätzung des MDK, dass nur die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorlägen, könne weiterhin nicht nachvollzogen werden. Der Kläger könne weder aufstehen, laufen noch sprechen. Es sei fraglich, ob er hören könne und wie er etwaig Gehörtes bewusstseinsmäßig verarbeiten könne. Schließlich teilte der Bevollmächtigte mit, dass nach dem derzeitigen Kenntnisstand kein Pflegegeld bei anderen Stellen beantragt worden sei. Er werde indes versuchen, das weiter aufzuklären, und unaufgefordert Mitteilung machen, falls doch anderweitig Pflegegeld beantragt worden sei.   

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. März 2015 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

 

Am 28. April 2015 hat der Kläger, durch seine Eltern als Betreuer sowie anwaltlich vertreten, Klage gegen den Bescheid vom 26. August 2014 und den Widerspruchsbescheid vom 18. März 2015 zum Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Die Klage ist nicht näher begründet worden.   

 

Mit Gerichtsbescheid vom 23. Juni 2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dem Vorbringen des Klägers sei der Antrag zu entnehmen, den Bescheid vom 26. August 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. März 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Leistungen der Pflegestufe III zu gewähren. Seine Entscheidung hat das SG wie folgt begründet: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Höherstufung in die Pflegestufe III und auf Gewährung entsprechender Leistungen. Die Voraussetzungen hierfür seien nicht erfüllt, da der Kläger keinen täglichen Grundpflegebedarf von mindestens 240 Minuten habe. Das Gericht folge den vom MDK erstellten Gutachten vom 10. Juli 2014 und 10. November 2014, die nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt seien, dass mit 206 bzw. 220 Minuten Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege die Pflegestufe III noch nicht erreicht werde. Die von den Betreuern des Klägers geschilderte komplette Hilfebedürftigkeit sei ausführlich dargestellt und gesehen worden. Weitere Einwände seien nicht erhoben worden.

 

Der Kläger hat gegen den seinem Bevollmächtigten am 13. Juli 2016 zugestellten Gerichtsbescheid am 15. August 2016 (einem Montag) Berufung eingelegt. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden: Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Das SG hätte sich bei sachgemäßer Auseinandersetzung mit dem Akteninhalt zu weiteren Ermittlungen, insbesondere zur Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG), genötigt fühlen müssen, auch wenn eine Klagebegründung nicht erfolgt sei. Der nunmehr mit der Sache befasste Senat werde die gebotene gerichtliche Aufklärung durch eigene Ermittlungen, aber auch durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen nachholen müssen. Es sei schon laienhaft nicht nachvollziehbar, wie jemand, der nicht aufstehen, nicht laufen, nicht sprechen und wahrscheinlich auch nicht hören könne, der in einer besonderen Einrichtung rund um die Uhr betreut und regelmäßig an Beatmungsgeräte angeschlossen werden müsse, in der Lage sein solle, auch nur geringste Verrichtungen des täglichen Lebens selbst vorzunehmen.

 

Die Beklagte hat erwidert, das SG habe die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger habe ab Antragstellung keinen Anspruch auf die beantragten Leistungen der Pflegestufe III. Der Vollständigkeit halber werde darauf hingewiesen, dass die Pflegestufe II für den Zeitraum vom 21. Mai 2014 bis zum 31. Dezember 2016, der Pflegegrad 4 für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 (im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Überleitung) bis zum 31. Dezember 2017 und der Pflegegrad 5 seit dem 1. Januar 2018 (nach Höherstufung) anerkannt worden seien. Dem Schreiben sind folgende Nachweise beigefügt gewesen:

- Der Bescheid vom 23. März 2018, mit dem dem Kläger auf einen Höherstufungsantrag vom 24. Januar 2018 und nach Einholung eines MDK-Gutachtens mit Hausbesuch am 15. März 2018, bei dem Pflegebedürftigkeit nach dem Pflegegrad 5 seit dem 1. Januar 2018 festgestellt worden sei, entsprechende Pflegesachleistungen ab dem 1. Januar 2018 bis zu einem Betrag von 1995,- € sowie Entlastungsleistungen bewilligt wurden.

- Das Schreiben der Ehefrau des Klägers vom 24. Januar 2018, bei der Beklagten eingegangen am 26. Januar 2018, mit dem sie für ihn einen Antrag auf Pflegeleistungen nach dem Pflegegrad 5 gestellt hatte.

- Ein Schreiben der Beklagten an den Kläger bzw. dessen Ehefrau vom 14. November 2016, mit dem allgemein über den Systemwechsel in der Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 informiert und konkret dem Kläger mitgeteilt worden war, dass er zu diesem Zeitpunkt von der Pflegestufe II mit eingeschränkter Alltagskompetenz automatisch in den Pflegegrad 4 übergeleitet werde (mit Übersicht über die ihm nunmehr zustehenden Leistungen bzw. Beträge).

 

Der Senat hat die Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. M B mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens aufgrund einer ambulanten Untersuchung des Klägers in dessen Wohnumfeld beauftragt, wobei die Beweisanordnung insofern eingeschränkt gewesen ist, als die Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14, 15, 45a f. SGB XI in der Fassung bis zum 31. Dezember 2016 zu prüfen gewesen ist (unter Hinweis auf § 140 Abs. 1 SGB XI aktueller Fassung). Dr. B hat das Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 28. August 2018 unter dem 1. September 2018 erstellt. Sie hat bei im Wesentlichen gegenüber den MDK-Gutachten unveränderten Diagnosen bei der Körperpflege einen Hilfebedarf von 134 Minuten, bei der Ernährung von 20 Minuten und bei der Mobilität von 110 Minuten, mithin bei der Grundpflege insgesamt 264 Minuten täglich, und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten täglich (die maximal berücksichtigungsfähige Zeit) ermittelt. Hinzu kämen 20 Minuten für verrichtungsbezogene Behandlungspflege. Aus diesen Werten ergebe sich die Pflegestufe III. Dieser Pflegebedarf bestehe mindestens seit Aufnahme in die Wohngemeinschaft. Die Alltagskompetenz sei jedenfalls seit dem im Jahr 2013 erlittenen schweren Schub in erhöhtem Maße eingeschränkt.

 

Die Beklagte hat darauf mitgeteilt, gleichwohl einen Anspruch auf Pflegestufe III nicht anzuerkennen, und sich auf ein auf das gerichtliche Sachverständigengutachten eingeholtes weiteres Gutachten des MDK vom 2. November 2018, erstellt nach Aktenlage von Dr. I N, bezogen. Darin hat sich die Gutachterin mit den Ausführungen von Frau Dr. B kritisch auseinandergesetzt, ist jedoch wie das Vorgutachten des MDK zu einem Gesamtpflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 220 Minuten (Körperpflege 140 Minuten, einschl. krankheitsspezifischer Pflegemaßnahmen, Ernährung 20 Minuten und Mobilität 60 Minuten) gelangt, womit die Pflegestufe III nicht erreicht sei. Auch die Einschätzung einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz sei nicht zu beanstanden. Für eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz lägen keine Kriterien vor. Hingegen ist die Gutachterin zu dem Schluss gekommen, dass die Leistungsvoraussetzungen für den Pflegegrad 5 bereits mit dem 1. Januar 2017 erfüllt gewesen seien.

 

Um Stellungnahme hierzu gebeten, ist die Gerichtsgutachterin unter dem 1. Dezember 2018 bei ihrer Einschätzung geblieben. Der Auffassung, dass die Voraussetzungen des Pflegegrades 5 bereits ab dem 1. Januar 2017 vorgelegen hätten, hat sie zugestimmt.

 

Die Beklagte hat daraufhin ein weiteres MDK-Gutachten vom 7. Januar 2019 eingeholt,  erstellt nach Aktenlage von der Fachpflegekraft A R-K. Die Gutachterin ist unter Auseinandersetzung mit der Stellungnahme von Frau Dr. B vom 1. Dezember 2018 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht erfüllt gewesen seien. Nach den einschlägigen Richtlinien habe ab 2014 die Pflegestufe II bestanden. Auch die Einschätzung einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz sei nicht zu beanstanden. Hingegen hätten die Leistungsvoraussetzungen für den Pflegegrad 5 bereits am 1. Januar 2017 vorgelegen. Diesem Gutachten hat sich die Beklagte angeschlossen.

 

Zu diesem MDK-Gutachten angehört, hat die Gerichtssachverständige Dr. B in ihrer Stellungnahme vom 25. Januar 2019 wiederum an ihrer bisherigen Einschätzung festgehalten.

 

Im Anschluss hat sich die Beklagte erneut an den MDK gewandt, für den die Fachpflegekraft R-K im Aktenlage-Gutachten vom 28. Februar 2019 die bisherige dortige Auffassung bestätigt hat.

 

Mit Schreiben vom 16. Mai 2019 hat der damalige Berichterstatter des Senats die Beteiligten zunächst darauf hingewiesen, dass Leistungen nach der Pflegestufe III zulässigerweise nur bis zum 31. Dezember 2016 in Streit stünden, weil die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts erfolge und sich dieses ab dem 1. Januar 2017 geändert habe. Allerdings seien diese Feststellungen zur Pflegestufe außerhalb des Rechtsstreits auch für die Zeit ab dem 1. Januar 2017 und die dann geltenden Pflegegrade relevant, weil nach den festgestellten Pflegestufen die gesetzlich vorgesehene Überleitung in das ab dem 1. Januar 2017 geltende Recht zu erfolgen habe (unter Hinweis auf § 140 SGB XI). Nach weiteren Ausführungen zur Sach- und Rechtslage hat der damalige Berichterstatter den Beteiligten sodann einen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Diesen hat die Beklagte abgelehnt.

 

Mit Schreiben vom 2. Juni 2020 hat der nunmehrige Berichterstatter den Bevollmächtigten vor dem Hintergrund, dass Pflegesachleistungen (hier nach der Pflegestufe III) für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht mehr nachgeholt werden könnten, um Klarstellung des klägerischen Begehrens gebeten. Der Senat gehe weiterhin davon aus, dass im vorliegenden Verfahren nur Pflegeversicherungsleistungen nach der Pflegestufe III für die Zeit ab dem 21. Mai 2014, dem Tag der Aufnahme des Klägers in die Wohngemeinschaft, bis zum 31. Dezember 2016 (Umstellung auf Pflegegrade ab 1. Januar 2017) in Streit stünden, zumal auch das SG mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 23. Juni 2016 lediglich über die Höherstufung in die Pflegestufe III entschieden habe. Im Übrigen, auch darauf habe der frühere Berichterstatter bereits hingewiesen, ergebe sich die Einstufung in die seinerzeit neuen Pflegegrade und damit der Leistungsumfang ab dem 1. Januar 2017 aus der Überleitungsvorschrift des § 140 Abs. 2 SGB XI auf der Grundlage der Einstufung am 31. Dezember 2016. Für den Inhalt des klägerischen Begehrens bis zum 31. Dezember 2016 dürfte es maßgeblich darauf ankommen, was die Pflegeeinrichtung bis dahin an Pflegesachleistungen für ihn erbracht habe. Habe sie nur Leistungen nach der zuerkannten Pflegestufe II erbracht, dürfte die Berufung „ins Leere“ gehen, da wie dargelegt Pflegesachleistungen nicht nachgeholt werden könnten. Habe sie hingegen tatsächlich Leistungen entsprechend der begehrten Pflegestufe III erbracht, stellten sich wohl folgende weitere Fragen: Sei die Pflegeeinrichtung insoweit in Vorleistung getreten und seien insofern noch Forderungen der Pflegeeinrichtung offen? Oder sei etwa die Ehefrau bezüglich tatsächlich erbrachter Pflegeversicherungsleistungen nach der Pflegestufe III in Vorleistung gegangen und gehe es letztlich um die Erstattung dieser Kosten? Oder habe womöglich der SGB XII-Leistungsträger ergänzende Pflegesachleistungen erbracht? Es werde gebeten, die Angaben zu den aufgeworfenen Fragen soweit möglich durch schriftliche Unterlagen (Unterlagen/Forderungsaufstellungen der Pflegeeinrichtung, Pflegevertrag u.ä.) zu belegen.      

Die Beklagte hat darauf mitgeteilt, zu den aufgeworfenen Fragen keine Angaben machen zu können.

 

Der Bevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 21. Dezember 2020 ausgeführt, man habe noch keine hinreichenden Auskünfte der Pflegeeinrichtung einholen können, in welchem Umfang in der Vergangenheit Leistungen erbracht worden seien. Da der Senat zu Recht darauf hingewiesen habe, dass Pflegeleistungen nicht nachgeholt werden könnten, dies aber erforderlich sei, um (auch) das klägerische Begehren präzisieren zu können, bedürfe es noch weiterer Ermittlungen. Man werde hierauf in einem weiteren Schriftsatz Anfang des nächsten Jahres zurückkommen.

 

Mit Schreiben vom 31. August 2021 hat der Bevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, das Interesse des Klägers an der Fortführung des Verfahrens sei nicht entfallen, obwohl die vom Senat angeforderten Informationen noch nicht zusammengetragen worden seien. Die Einholung der vom Gericht verlangten Informationen bei dem selbst nicht ansprechbaren, unter gesetzlicher Betreuung stehenden Kläger gestalte sich besonders schwierig. In diesem Zusammenhang weise er daraufhin, dass der Senat, sollte er es wie von ihm dargetan für entscheidungserheblich halten, nach § 106 SGG gehalten sei, im Wege der Amtsermittlung die nach seiner Auffassung erforderlichen Ermittlungen anzustellen. Für den Fall, dass der Senat die von ihm verlangten Informationen nicht im Wege der Amtsermittlung selbst einhole, kündige er an, einen entsprechenden Beweisbeschluss zu beantragen. Im Übrigen erscheine es zumindest erwägenswert, dass die Beklagte im Umfang der vom Senat angeforderten Informationen über Umstände der erbrachten Pflegeleistungen (objektiv) beweisbelastet sein dürfte, zumindest aber auskunftspflichtig.

 

Der Berichterstatter des Senats hat mit Schreiben vom 15. September 2021 erwidert, der Senat sehe auch in Anbetracht der Ausführungen vom 31. August 2021 derzeit keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen. Es sei zunächst Sache der Klägerseite, das Klagebegehren zu konkretisieren und die tatsächlichen Voraussetzungen für den konkret geltend gemachten Anspruch darzulegen. Bislang bestünden keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass im streitgegenständlichen Zeitraum (Mai 2014 bis Dezember 2016) Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt nach der Pflegestufe II erbracht worden seien, insofern gegebenenfalls jemand in Vorleistung gegangen sei und folglich gegebenenfalls Erstattung verlangen könne. Nur auf diesem Wege dürfte das vorliegende Verfahren für die Klägerseite zum Erfolg führen können. Auf die diesbezüglichen Hinweise des Senats vom 2. Juni 2020 werde Bezug genommen.

 

Nachdem hierauf keine Reaktion erfolgt war, hat der Senat die vorliegende Sache für den 20. Januar 2022 terminiert. Auf die Ladung hat der Bevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass ihm eine Teilnahme nicht möglich sein werde und er für den Kläger das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erkläre. Daraufhin hat der Senat den Verhandlungstermin aufgehoben. Die Beklagte hat mitgeteilt, es bestehe ebenfalls Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.

 

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2021 hat der Berichterstatter dem Bevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, es sei beabsichtigt, am 20. Januar 2022 ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Sofern er (der Bevollmächtigte) sich nicht gegenteilig äußere, werde der Senat auf Grundlage des mit Schriftsatz vom 10. Mai 2017 angekündigten Antrags davon ausgehen, dass der Kläger beantrage,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2016 aufzuheben  und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2015 zu verurteilen, ihm vom 21. Mai 2014 bis zum 31. Dezember 2016 Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt der Pflegestufe II sowie zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b Abs. 1 SGB XI a.F. nach dem erhöhten Betrag zu gewähren.

 

Dieser Antrag berücksichtige die von der Klägerseite nicht in Abrede gestellten Hinweise des Senats vom 16. Mai 2019 und 2. Juni 2020, wonach zulässiger Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens nur die Zeit bis zum grundlegenden Systemwechsel in der Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 sei (m.H.a. das Urteil des Senats vom 12. August 2021 – L 30 P 71/18 –, veröffentlicht in juris zur entsprechenden Beschränkung des Streitgegenstandes), zumal auch das SG mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid lediglich über die Höherstufung in die Pflege  entschieden habe. Er berücksichtige ferner, dass mit dem angefochtenen Bescheid auch zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b Abs. 1 SGB XI in der seinerzeit gültigen Fassung in Höhe des damaligen Grundbetrages von 100,- € bewilligt worden seien und mit dem Widerspruch der erhöhte Betrag von damals 200,- € geltend gemacht worden sei. Die Frage der zusätzlichen Betreuungsleistungen sei auch Gegenstand der eingeholten Gutachten gewesen.

 

Hierauf hat der Bevollmächtigte des Klägers nicht mehr reagiert.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2016 aufzuheben  und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2015 zu verurteilen, ihm vom 21. Mai 2014 bis zum 31. Dezember 2016 Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt der Pflegestufe II sowie zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b Abs. 1 SGB XI a.F. nach dem erhöhten Betrag zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 

 

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

 

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht für den Zeitraum bis 31. Dezember 2016 abgewiesen.

 

Gegenstand des Berufungsverfahrens sind der vorinstanzliche Gerichtsbescheid des SG vom 23. Juni 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 26. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2015 und die damit erfolgte Entscheidung über den von der Klägerseite geltend gemachten Anspruch auf Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt der Pflegestufe II gemäß §§ 14 ff. SGB XI in der vom 11. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 2016 geltenden und hier anzuwendenden Fassungen des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 2014 – im Folgenden a.F.) sowie auf zusätzliche Betreuungsleistungen nach dem erhöhten statt dem Grundbetrag gemäß § 45b Abs. 1 SGB XI a.F.

 

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat für den Zeitraum ab der Aufnahme in die ambulant betreute Intensivpflege-Wohngemeinschaft am 21. Mai 2014 bis zum 31. Dezember 2016 weder Anspruch auf Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III statt II noch auf zusätzliche Betreuungsleistungen nach dem erhöhten statt dem Grundbetrag gemäß § 45b Abs. 1 SGB XI a.F.

 

Die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI a.F. erfolgt jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung (hier Mai 2014) geltenden Rechts. Der Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich ebenfalls nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht (vgl. § 140 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XI in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung des 2. Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung zur Änderung weiterer Vorschriften <2. Pflegestärkungsgesetz – PSG II vom 21. Dezember 2015 – BGBl. I, S. 2424>). Dies gilt nach der Gesetzesbegründung für das gesamte Verfahren von der Antragstellung über das Widerspruchs- bis zum sozialgerichtlichen Verfahren (BT-Drs. 18/5926, S. 140). Daraus folgt, dass Entscheidungen, die die ab 1. Januar 2017 geltende Rechtslage betreffen, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits geworden sind, weil sie einen anderen Streitgegenstand betreffen, nämlich Leistungen nach der ab 1. Januar 2017 geltenden Rechtslage (vgl. Urteile des Senats vom 12. August 2021 – L 30 P 71/18 – und vom 22. April 2021 – L 30 P 12/18 und 66/19; ferner Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. November 2017 – L 1 P 8/15 –, alle veröffentlicht in juris).

 

Dem geltend gemachten Anspruch auf höhere Pflegesachleistungen, die durch geeignete Pflegekräfte zu erbringen sind, steht bereits entgegen, dass sie für einen zurückliegenden Zeitraum geltend gemacht werden und – anders etwa als das Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach § 37 SGB XI a.F. – nicht nachholbar sind. Davon geht auch die Klägerseite aus. Eine antragsgemäße Verurteilung der Beklagten zu mehr Pflegesachleistungen (nach der Pflegestufe III statt der Pflegestufe II) kommt daher von vornherein nicht in Betracht.

 

Zwar können sich Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen im Falle einer Vorfinanzierung durch den Berechtigten oder durch Dritte sowie einer Vorleistung des Leistungserbringers in Kostenerstattungs- oder Freistellungsansprüche umwandeln. Dies beruht auf einer analogen Anwendung von § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), wonach, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten sind, soweit die Leistung notwendig war; diese Vorschrift ist auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung entsprechend anwendbar (vgl. etwa Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 25. Februar 2015 – B 3 KR 13/13 R -, juris Rn. 12; Koch in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 116. Erg.-Lfg. 2021, § 4 SGB XI Rn. 4). Ein auf Kostenerstattung gerichteter Antrag wurde indes weder erstinstanzlich noch im Berufungsverfahren gestellt. Im Übrigen ist trotz mit Schreiben vom 2. Juni 2020 erfolgtem gerichtlichen Hinweis von der Klägerseite auch nicht ansatzweise darlegt worden, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich mehr Pflegesachleistungen erhalten hat als von der Beklagten bewilligt und diese in einer Weise vorfinanziert wurden, dass nunmehr die Umwandlung in einen Kostenerstattungsanspruch in Betracht gekommen wäre (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 30. Juli 2019 – B 3 P 18/18 B – juris Rn. 9 mit weiterem Nachweis), oder hierdurch gegenüber dem Leistungserbringer Verbindlichkeiten entstanden, von denen der Kläger nachträglich freigestellt werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 20. April 2016 – B 3 P 1/15 R – juris Rn. 14; Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 4/19 R – juris Rn. 14). Vor diesem Hintergrund bestand auch für den Senat keine Veranlassung, den Fragen des Umfangs der im streitigen Zeitraum erbrachten Pflegesachleistungen und etwaiger Vorfinanzierung insoweit nicht bewilligter Leistungen oder Vorleistung im Wege der Amtsermittlung näher nachzugehen. Ohne konkrete Anhaltspunkte ist das Gericht zu Ermittlungen („ins Blaue hinein") nicht verpflichtet (vgl. BSG, Beschluss vom 5. Februar 2009 – B 13 RS 85/08 B – juris Rn. 18 mit weiteren Nachweisen). Den diesbezüglich angekündigten Beweisantrag hat die Klägerseite letztlich auch nicht gestellt.

 

Entsprechendes gilt im Ergebnis auch für die geltend gemachten höheren Leistungen nach § 45b Abs. 1 SGB XI a.F., die zwar (grundsätzlich nachholbar) in Geld erbracht werden, dies jedoch stets nur im Kostenerstattungswege (vgl. die Formulierung in Satz 1: „Die Kosten hierfür werden ersetzt,…“), d.h. sie werden immer nur dann erbracht, wenn tatsächlich (mehr) zusätzliche Betreuungsleistungen in Anspruch genommen wurden (vgl. Klie in LPK-SGB XI, 4. Aufl. 2014, § 45b Rn. 5). Hier ist nicht ansatzweise erkennbar, dass für den Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum zusätzliche Betreuungsleistungen erbracht wurden, deren Wert über die von der Beklagten seinerzeit diesbezüglich bewilligten Beträge von monatlich 100,- € bzw. 104,- € hinausgingen.       

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt.

Rechtskraft
Aus
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