Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. August 2022 aufgehoben. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Till Win, Königin-Elisabeth-Straße 58, 14059 Berlin, beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein vor dem Sozialgericht Berlin (SG) geführtes Verfahren (S 163 U 196/22).
In diesem wendet sich der Kläger gegen die Bescheide der Beklagten vom 4. Februar 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2022, mit dem die Beklagte die Gewährung von Verletztengeld wegen des Arbeitsunfalls vom 27. August 2015 - mit Arbeitsunfähigkeit bis zum 22. Januar 2016 - abgelehnt hatte. Dem war vorangegangen, dass die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 11. März 2016 die Anerkennung des Arbeitsunfalls abgelehnt hatte. Auf den Überprüfungsantrag des Klägers hin hatte die Beklagte dann zwar den Arbeitsunfall anerkannt, mit streitigem Bescheid vom 4. Februar 2022 die Gewährung von Verletztengeld jedoch unter Verweis auf die Verjährung abgelehnt. Im o. g. Widerspruchsbescheid berief sich die Beklagte dann auf § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), weshalb es auf die Verjährung nicht ankäme.
Hiergegen erhob der Kläger am 4. Juli 2022 Klage zum Sozialgericht Berlin und beantragte die Bewilligung von PKH. Die Beklagte verkenne, dass der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 4 SGB X vorliegend nicht eröffnet sei.
Den Antrag auf Bewilligung von PKH wies das SG mit Beschluss vom 30. August 2022 mit der Begründung zurück, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Beklagte habe zutreffend auf § 44 Abs. 4 SGB X verwiesen.
Am 6. September 2022 hat der Kläger gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt und unter Verweis auf sein bisheriges Vorbringen geltend gemacht, das Sozialgericht habe die Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage überspannt. Rechtsirrig meine das SG, aus der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2020, B 2 U 2/18 R, folge lediglich, dass kein Fall des § 44 Abs. 1 SGB X vorliege, weil noch keine Entscheidung über den Leistungsanspruch getroffen worden sei, sondern nur das Vorliegen eines Arbeitsunfalls verneint worden sei. Irrig gehe das SG weiter davon aus, dass dennoch ein Fall des § 44 Abs. 2 SGB X vorliege und daher § 44 Abs. 4 SGB X anwendbar sei.
Der Kläger ist der Ansicht, dass über seinen Antrag auf Verletztengeld überhaupt noch nicht entschieden worden und der Anwendungsbereich von § 44 Abs. 4 SGB X daher vorliegend nicht eröffnet sei.
Die Beklagte hat auf die angegriffene Entscheidung verwiesen, die sie für zutreffend hält.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen sind.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag PKH, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. An die Prüfung der Erfolgsaussicht dürfen dabei keine überspannten Anforderungen gestellt werden (Bundesverfassungsgericht, BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Oktober 1991, 1 BvR 1386/91, NJW 1992, 889).
Eine Rechtsverfolgung ist dann hinreichend erfolgversprechend, wenn das Gericht nach vorläufiger summarischer Prüfung den Rechtsstandpunkt des Antragstellers unter Berücksichtigung des Vortrages der anderen Beteiligten zumindest für vertretbar und den Prozesserfolg für wahrscheinlich hält. Eine Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache erfolgt im Rahmen der Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit im PKH-Verfahren nicht (BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, 2 BvR 94/98, NJW 1991, 413).
Der Klage kann im vorliegenden Fall nach den dargestellten Maßstäben eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit nicht abgesprochen werden.
Soweit an der Zulässigkeit der Klage keine Zweifel bestehen, bedarf die abschließende Prüfung ihrer Begründetheit im Hauptsacheverfahren vor dem SG einer weitergehenden Prüfung, als dies anhand der Rechtsausführungen des Sozialgericht im PKH-Verfahren bisher erkennbar ist.
Entgegen der Auffassung des SG ist die Zahlung des Verletztengeldes nicht bereits aufgrund einer Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen.
Ob die Beklagte sich bei der Ablehnung von Verletztengeld auf § 44 Abs. 4 SGB X stützen durfte, ist keine Frage allein der Heranziehung entweder von § 44 Abs. 1 oder § 44 Abs. 2 SGB X als Rechtsgrundlage, wie es das SG aus der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des BSG zu entnehmen meint.
Vielmehr ist zu klären, ob vorliegend der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 4 SGB X selbst überhaupt eröffnet ist, denn der Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X kann nicht der allgemeine Rechtsgrundsatz entnommen werden, dass Sozialleistungen regelmäßig nicht für einen länger als vier Jahre zurückliegenden Zeitraum zu erbringen sind (BSG, Urteil vom 16. März 2021 – B 2 U 12/19 R –, juris Rn. 31 f.). Insoweit setzt die Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X notwendig die Nichterbringung von Leistungen infolge einer unrichtigen Entscheidung voraus (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 44 SGB X, Stand: 23. Februar 2022, Rn 116). Denn Voraussetzung für seine Anwendbarkeit ist stets, dass infolge der unrichtigen, zu korrigierenden Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht wurden (vgl. BSGE 68, 180 = SozR 3-1300 § 44 Nr. 1).
Konkret erforderlich ist ein unmittelbarer Bezug zur Erbringung von Sozialleistungen (bzw. zur hier nicht einschlägigen) Erhebung von Beiträgen. Nicht ausreichend ist, dass der bestandskräftige (fehlerhafte) Bescheid im weiteren Sinne mit Sozialleistungen (oder Beiträgen) zusammenhängt. Vielmehr muss er eine unmittelbare Regelung zu Sozialleistungen treffen (Merten in: Hauck/Noftz SGB X, § 44, Stand 2022, Rn. 47 unter Verweis auf BSG vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 -, juris Rn. 18).
So fallen z. B. nicht unter den Anwendungsbereich des § 44 Abs. 4 SGB X – sind allerdings mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbar - die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft (BSG vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 -, juris Rn. 19) oder die Feststellung der Versicherteneigenschaft (Hessisches LSG vom 15. März 2010 - L 1 KR 47/08 -, juris Rn. 33). In diesen Fällen bedarf es – auf der Basis der positiven Feststellung des jeweiligen Rechtsstatus - weiterer Voraussetzungen für die Erfüllung entsprechender Sozialleistungen und der abschließenden Festsetzung durch Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X), um sodann aus der Feststellung des Rechtsverhältnisses zum Sozialleistungsträger auch einen Leistungsanspruch gegenüber diesem zu generieren.
Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BSG im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung bei Feststellung eins Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit. Danach traf die Beklagte mit dem (fehlerhaften) Bescheid über die Ablehnung des Arbeitsunfalls vom 11. März 2016 keine anfechtbare Regelung durch Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X über die Gewährung konkreter Entschädigungsleistungen, wie hier über das Verletztengeld. Zwischen der Anerkennung eines Arbeitsunfalls und der Gewährung der verschiedenen, auf dieser Anerkennung beruhenden Leistungen ist jedoch zu unterscheiden.
Diese Unterscheidung zwischen Versicherungsfall und Leistungsfall liegt auch dem Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) - Gesetzliche Unfallversicherung - zugrunde, wie schon dessen Systematik hinsichtlich der Definition der Versicherungsfälle in §§ 7 ff SGB VII einerseits und den darauf aufbauenden Regelungen über die Leistungen nach Eintritt des Versicherungsfalles in §§ 26 ff SGB VII andererseits deutlich macht. Für diese Unterscheidung sprechen außerdem die je nach Leistungsfall ggf. unterschiedlichen Zeitpunkte für die Berechnung der Leistungen (vgl. §§ 48, 84 SGB VII), die Vielfalt des Leistungsrechts des SGB VII und die zum Teil sehr differenzierten Anforderungen an die einzelnen Leistungen, zumal den Unfallversicherungsträgern bei einigen Leistungen ein Ermessen eingeräumt ist (BSG in st. Rspr.: u.a. vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R –, juris Rn. 13, BSG vom 16. November 2005 - B 2 U 28/04 R -, juris).
Auf diese Differenzierung – dort entsprechend für die Eröffnung des Anwendungsbereiches des § 44 Abs. 1 SGB X, der dem des § 44 Abs. 4 SGB X entspricht (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 44 SGB X, Stand: 23. Februar 2022, Rn. 117) – stellt ausdrücklich auch die vom Kläger zitierte Entscheidung des BSG vom 30. Januar 2020, B 2 U 2/18 R, juris Rn. 15 ab, indem sie die Eröffnung des Anwendungsbereiches damit begründet, dass der dortige Unfallversicherungsträger „nicht nur das Vorliegen eines Arbeitsunfalls verneint, sondern zugleich auch die Verletztengeldzahlung ... eingestellt hat“.
Hat der Beklagte mit dem (fehlerhaften) Bescheid vom 11. März 2016 hier jedoch nur über die Ablehnung des Arbeitsunfalls und nicht zugleich - konkret – über die Ablehnung von Sozialleistungen in Form von Verletztengeld entschieden, so findet auch § 44 Abs. 4 SGB X keine Anwendung.
In allen Fällen, die nicht dem Anwendungsbereich des § 44 Abs. 4 SGB X unterliegen, kann sich der Sozialleistungsträger bei Leistungen für länger zurückliegende Zeiträume unter Ausübung seines insoweit bestehenden Ermessens auf Verjährung gemäß § 45 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) berufen.
Zwar verjähren gemäß § 45 Abs. 1 SGB I Ansprüche auf Sozialleistungen auch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Ob jedoch die Beklagte die Einrede der Verjährung – so zunächst im Bescheid vom 4. Februar 2022, dann jedoch nicht mehr im Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2022 - gemäß § 45 Abs. 1 SGB I wirksam erhoben hat, obliegt der weiteren sozialgerichtlichen Prüfung. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass die Erhebung der Einrede der Verjährung grundsätzlich im Ermessen des Sozialleistungsträgers steht und daher vom Beklagten Ermessenserwägungen entsprechend seiner Begründungspflicht gemäß § 35 SGB X anzustellen und in die gerichtliche Prüfung einzubeziehen sind (vgl. z.B. BSG Urteil vom 8. Dezember 2005 - B 13 RJ 41/04 R - BSGE 95, 300).
Vor diesem Hintergrund kann der Rechtsverfolgung eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit nicht abgesprochen werden und war diese auch nicht mutwillig.
PKH war, da auch die weiteren Voraussetzungen für die Bewilligung vorliegen, daher zu bewilligen.
Die Kostenentscheidung findet folgt aus § 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Lietzmann Mehdorn Dr. Werner