Ein Grad der Behinderung wegen einer Sehstörung setzt einen morphologischen (organischen) Befund voraus, der mit den subjektiven Angaben des Anspruchstellers übereinstimmt.
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
G r ü n d e :
I
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Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grads der Behinderung (GdB) als 40 wegen Einschränkungen ihrer Sehfähigkeit.
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Die 1997 geborene Klägerin erhielt während ihres Schulbesuchs wegen zunehmender Funktionsstörungen im Bereich des Sehens ua sonderpädagogische Förderung. Nach dem Realschulabschluss durchlief sie ab 2015 in einem Berufsförderungswerk eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Seit 2018 ist sie in diesem Beruf in Vollzeit tätig. Der Klägerin wurden mittlerweile ein Mobilitätstraining und Blindenstöcke verordnet.
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Mit Bescheid vom 28.1.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.3.2013 stellte die Beklagte einen GdB von 30 fest. Dabei bewertete sie die Sehminderung und eine Lernstörung/Entwicklungsverzögerung jeweils mit einem Einzel-GdB von 20. Die hiergegen gerichtete Klage nahm die Klägerin nach medizinischer Beweisaufnahme auf augenärztlichem Fachgebiet zurück.
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Am 16.9.2015 beantragte die Klägerin einen höheren GdB. Sie leide an einem Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, einer hohen Einschränkung des funktionalen Sehens, einer hohen Blendempfindlichkeit und einem stark reduzierten Nah‑/Fernvisus. Nach Auswertung eines augenärztlichen Befund- und Behandlungsberichts des Universitätsklinikums S vom 16.7.2015 hob die Beklagte den GdB mit Bescheid vom 17.11.2015 auf 40 an. Als Beeinträchtigungen legte sie ihrer Entscheidung nunmehr die Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und visuelle Wahrnehmungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 zugrunde. Der dagegen erhobene Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2.5.2016).
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Das SG hat ein Sachverständigengutachten des Augenarztes P vom 1.3.2017 eingeholt. Danach ließ sich das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung (Sehschärfe, Gesichtsfeldausfälle, Blendempfindlichkeit) bei unauffälligem Befund nicht erklären. Es bestehe der Verdacht auf eine über Jahre verfestigte psychogene Störung. Nach den aktenkundigen Fernvisuswerten sei der GdB bis zum 3.9.2016 mit 40, bis zum 12.9.2016 mit 50 und anschließend mit 70 anzusetzen.
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Das SG hat die Beklagte verurteilt, unter Änderung der angefochtenen Bescheide bei der Klägerin für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 einen GdB von 50 und danach von 70 festzustellen. Dieser GdB sei unter Zugrundelegung der bei ihr gemessenen Visuswerte nach Teil B Nr 4.3 der als Anlage 2 in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) gerechtfertigt. Das fehlende morphologische Korrelat für die Sehstörung stehe dem nicht entgegen. Der GdB sei unabhängig von der Ursache nach den Auswirkungen der Funktionsstörungen in allen Lebensbereichen zu bestimmen (Urteil vom 24.10.2017).
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Im Berufungsverfahren hat das LSG Sachverständigengutachten des Augenarztes W vom 22.11.2018, des Neurologen und Psychiaters B vom 4.2.2019 und des Diplompsychologen K vom 13.12.2018 eingeholt. Wie der bereits zuvor vor dem SG gehörte Sachverständigen P hat auch der Sachverständige W auf augenärztlichem Fachgebiet keine Befunde erhoben, die das Beschwerdebild erklären konnten. Das Verhalten der Klägerin sei mit den angegebenen Einschränkungen des Sehvermögens nur schwer bis überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Der Sachverständige B hat unter Einbeziehung des Gutachtens von K keine Einschränkungen oder Beschwerden auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet festgestellt.
8 |
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Den Sehstörungen der Klägerin sei mit einem GdB von 50 für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 und danach von 70 in entsprechender Anwendung der Vorschriften der VMG über das Funktionssystem "Sehorgan" Rechnung zu tragen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weiche das Sehvermögen der Klägerin erheblich von dem für ihr Alter typischen ab. Durch dieses eingeschränkte Sehvermögen sei sie in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erkennbar beeinträchtigt. Zwar liefere das Verhalten der Klägerin in der Untersuchungssituation auch Anhaltspunkte für ein besseres Sehvermögen. Auch falle es schwer anzunehmen, dass blinde Menschen Turmspringen als Leistungssport wählen und betreiben könnten, wie es die Klägerin in der Schulzeit getan habe. Andererseits ziehe sich das Krankheitsbild konsistent und insofern widerspruchsfrei durch die Biografie der Klägerin. Die geltend gemachten Sehstörungen bestimmten ihren Alltag in allen Lebensbereichen und ‑abschnitten. Angesichts der weit über zehn Jahre gelebten weiteren Verschlechterung der Augenfunktion bestünden keine gewichtigen Zweifel, dass die Sehstörungen entweder organisch bestünden oder sie von der Klägerin so erlebt würden.
9 |
Dem stehe nicht entgegen, dass die bislang erhobenen Befunde kein morphologisches Korrelat für die von der Klägerin angegebenen Einschränkungen des Sehvermögens lieferten und anhand der bisher erhobenen Befunde keine Diagnose auf augenärztlichem Fachgebiet für die dargestellten Beschwerden gestellt werden könne. Beides sei für die Berücksichtigung der Sehstörungen und der durch sie bedingten Beeinträchtigung bei der Festsetzung des GdB entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erforderlich. Für die Einordnung als Behinderung sei es ohne Bedeutung, welcher Diagnose die Beeinträchtigung zuzuordnen sei. Die VMG untersagten es nicht, Sehstörungen aus rechtlichen Gründen ohne entsprechendes organisches Korrelat zu berücksichtigen. Insbesondere Teil B Nr 4 VMG sei schon vom Wortlaut her kein Ausschlusskriterium, sondern nur ein Qualitätsmerkmal als Prüfposten für die sozialmedizinische Beurteilung. Nichts anderes ergebe sich aus der Rechtsprechung des BSG zum Begriff der Blindheit. Streitgegenstand und Argumentation lieferten im Fall der Klägerin keine Handhabe, nur Störungen des Sehapparats im organischen Sinn bei der Festsetzung des GdB zu berücksichtigen (Urteil vom 7.10.2020).
10 |
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte, das LSG habe seine Amtsermittlungspflicht verletzt, die Vorgaben der VMG sowie zum Vollbeweis und zur Beweislast missachtet. Eine sachgerechte Beurteilung des Gesundheitszustands der Klägerin sei unmöglich; zumindest könne nicht von einem höheren GdB als 40 ausgegangen werden. Dem Berufungsgericht hätte sich ein weiteres Sachverständigengutachten aufdrängen müssen, insbesondere um eine Aggravation oder Simulation sicher ausschließen zu können. Entgegen der Ansicht des LSG verlangten die VMG bei der Beurteilung von Sehstörungen zwingend ein morphologisches Korrelat. Wenn zudem das BSG in seiner Rechtsprechung zum Nachteilsausgleich "Blindheit" (Merkzeichen Bl) Störungen des Sehapparats im organischen Sinn voraussetze, müsse dies auch bei anderen schweren Einschränkungen dieses Funktionssystems gelten. Danach könnten die Beschwerden der Klägerin allenfalls dem Funktionssystem "Nervensystem u. Psyche" zugeordnet werden.
11 |
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein Westfalen vom 7. Oktober 2020 und das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24. Oktober 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
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Der Senat hat eine Auskunft des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 2.8.2022 zu Teil B Nr 4 VMG eingeholt.
II
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Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
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A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG mit der darin enthaltenen Bestätigung der vom SG ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten, bei der Klägerin für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 einen GdB von 50 und danach von 70 festzustellen.
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B. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG tragen nicht die Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines GdB der Klägerin von mehr als 40.
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Da die Klägerin erfolgreich Anfechtungs‑ und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB erhoben und die Beklagte dagegen Revision eingelegt hat, ist der Rechtsstreit nach der Sach‑ und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu entscheiden (vgl stRspr; zB BSG Urteil vom 2.12.2010 ‑ B 9 SB 3/09 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 12 RdNr 24; BSG Urteil vom 12.4.2000 ‑ B 9 SB 3/99 R ‑ SozR 3‑3870 § 3 Nr 9 S 22 = juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 9.12.2019 - B 9 SB 48/19 B - juris RdNr 8). Maßgeblich ist somit das SGB IX (in der ab dem 1.1.2018 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl I 3234).
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1. Rechtsgrundlage für die begehrte Erhöhung des GdB der Klägerin ist § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um zu beurteilen, ob die Beklagte es zutreffend abgelehnt hat, den GdB der Klägerin wegen einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ‑ ihrer Sehfähigkeit ‑ ab dem 3.9.2016 auf mehr als 40 zu erhöhen.
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Gemäß § 152 Abs 1 Satz 1 SGB IX stellen die nach Landesrecht zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen (vgl § 2 Abs 1 SGB IX) das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Liegen wie bei der Klägerin mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 152 Abs 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Dies hat in drei Schritten zu erfolgen (stRspr; zB BSG Urteil vom 16.12.2021 ‑ B 9 SB 6/19 R ‑ SozR 4‑1300 § 48 Nr 40 <vorgesehen> ‑ juris RdNr 37; BSG Urteil vom 17.4.2013 ‑ B 9 SB 3/12 R ‑ juris RdNr 29; BSG Urteil vom 2.12.2010 ‑ B 9 SB 4/10 R ‑ juris RdNr 25; BSG Urteil vom 30.9.2009 ‑ B 9 SB 4/08 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 10 RdNr 18; BSG Beschluss vom 11.5.2022 ‑ B 9 SB 73/21 B ‑ juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 8.5.2017 ‑ B 9 SB 74/16 B ‑ juris RdNr 7): Im ersten Schritt sind die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (vgl § 2 Abs 1 Satz 2 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festzustellen. Im zweiten Schritt sind diese den in der Anlage zu § 2 VersMedV ‑ Anlage "VMG" ‑ genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Im dritten Schritt ist ‑ in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel‑GdB (Teil A Nr 3 Buchst c VMG) ‑ in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt‑GdB zu bilden (Teil A Nr 3 Buchst d VMG).
21 |
Die auf diese Weise vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (stRspr; zB BSG Urteil vom 30.9.2009 ‑ B 9 SB 4/08 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 10 RdNr 23; BSG Beschluss vom 14.8.2020 ‑ B 9 SB 25/20 B ‑ juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 3.7.2019 ‑ B 9 SB 37/19 B ‑ juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 9.12.2010 ‑ B 9 SB 35/10 B ‑ juris RdNr 5). Dabei müssen die Tatsachengerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 24.2.2021 ‑ B 9 SB 39/20 B ‑ juris RdNr 11 mwN). Bei der Bemessung der Einzel‑GdB und des Gesamt‑GdB kommt es indessen nach § 152 Abs 1 Satz 5 und Abs 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Prüfungsschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere in den VMG einbezogene Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (stRspr; zB BSG Urteil vom 16.12.2021 ‑ B 9 SB 6/19 R ‑ SozR 4‑1300 § 48 Nr 40 <vorgesehen> RdNr 38; BSG Beschluss vom 18.4.2019 ‑ B 9 SB 2/19 BH ‑ juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 1.6.2017 ‑ B 9 SB 20/17 B ‑ juris RdNr 7).
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2. Von diesen Vorgaben ist das LSG mehrfach in entscheidungserheblicher Hinsicht abgewichen. Es hat bei der Bewertung des GdB für die angenommenen Sehbeeinträchtigungen der Klägerin die in den VMG bindend vorgegebene Zuordnung nach Funktionssystemen nicht hinreichend berücksichtigt (dazu unter a). Darüber hinaus hat das Berufungsgericht die von ihm entsprechend herangezogenen speziellen Vorgaben der VMG für das Funktionssystem "Sehorgan" (Teil B Nr 4 VMG) nur unvollständig berücksichtigt (dazu unter b).
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a) Zu Unrecht hat das Berufungsgericht offengelassen, welchem Funktionssystem ‑ "Nervensystem und Psyche" (Teil B Nr 3 VMG) oder "Sehorgan" (Teil B Nr 4 VMG) ‑ die bei der Klägerin angenommenen Sehbeeinträchtigungen zuzuordnen sind.
24 |
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 24.10.2019 (B 9 SB 1/18 R ‑ BSGE 129, 211 = SozR 4‑3250 § 152 Nr 2) zur Systematik der VMG ausgeführt, dass die dortige Trennung nach Funktionssystemen der sachgerechten und bei gleichen Sachverhalten einheitlichen Bewertung der verschiedensten Auswirkungen von Gesundheitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung einer sachgerechten Relation untereinander dient. Sie stimmt mit dem Anliegen des Schwerbehindertenrechts überein, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch einen möglichst zielgenauen und weitgehenden Ausgleich ihrer Funktionsbeeinträchtigungen zu ermöglichen (vgl § 1 Satz 1 SGB IX). Zu diesem Zweck werden in den VMG Behinderungen getrennt nach Funktionssystemen erfasst und anschließend einzeln und sodann insgesamt in ihren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bewertet (aaO, RdNr 16 f). Entgegen der Ansicht der Klägerin gilt diese gleichheitswahrende Systematik nicht nur für die Zuerkennung von Merkzeichen, sondern gleichermaßen für die Feststellung des GdB. Der dadurch bezweckte zielgerichtete Behinderungsausgleich schließt es aus, die Zuordnung von Gesundheitsstörungen zu einem Funktionssystem offenzulassen.
25 |
b) Soweit das LSG die Folgen der von ihm festgestellten Einschränkungen der Klägerin im Sehvermögen in entsprechender Anwendung der Vorgaben für das Funktionssystem "Sehorgan" (Teil B Nr 4 VMG) bewertet hat (vgl Teil B Nr 1 Buchst b VMG), hat es die speziellen Vorgaben der VMG für dieses System nur unvollständig berücksichtigt.
26 |
Nach Teil B Nr 4 VMG umfasst die Sehbehinderung alle Störungen des Sehvermögens. Für ihre Beurteilung sind in erster Linie die korrigierte Sehschärfe, daneben ua Ausfälle des Gesichts‑ und Blickfeldes zu berücksichtigen. Dabei ist darauf zu achten, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt.
27 |
Wegen der Rechtsnatur der VMG auch als antizipierte Sachverständigengutachten sind Zweifel an ihrem durch besondere medizinische Sachkunde geprägten Inhalt vorzugsweise durch Nachfrage bei dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin als dem fachlich verantwortlichen Urheber zu klären (dazu unter aa). Nach dessen vom Senat eingeholten Auskunft vom 2.8.2022 verstößt es gegen Teil B Nr 4 VMG, einen GdB für das Funktionssystem "Sehorgan" ausschließlich aufgrund subjektiver Angaben des Untersuchten ohne korrelierenden morphologischen Befund festzustellen (dazu unter bb). Dieses Erfordernis eines morphologischen Befunds für Sehstörungen korrespondiert mit der Rechtsprechung des BSG zum Nachteilsausgleich "Blindheit" (Merkzeichen Bl) (dazu unter cc). Die Anforderungen an die Bewertung von Sehstörungen nach den Vorgaben des Funktionssystems "Sehorgan" lassen sich nicht durch eine analoge Anwendung dieser Vorschriften nach Maßgabe der Regelung in Teil B Nr 1 Buchst b VMG umgehen (dazu unter dd). Die teilweise anderslautenden tatsächlichen Feststellungen des LSG binden den Senat nicht und stehen deshalb dem von ihm gefundenen Ergebnis nicht entgegen (dazu unter ee).
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BSG handelte es sich schon bei den vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin erarbeiteten und ständig weiterentwickelten "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" um sogenannte antizipierte Sachverständigengutachten. Sie bildeten ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB (BSG Urteil vom 24.4.2008 ‑ B 9/9a SB 10/06 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 9 RdNr 25; BVerfG <Kammer> Beschluss vom 6.3.1995 ‑ 1 BvR 60/95 ‑ SozR 3‑3870 § 3 Nr 6 S 11 = juris RdNr 7). An dieser Funktion als antizipierte Sachverständigengutachten und ihrem Inhalt hat sich durch ihre zum 1.1.2009 erfolgte Umbenennung in VMG und ihre Überführung in die Rechtsform einer Verordnung im Kern nichts geändert (BSG Urteil vom 25.10.2012 ‑ B 9 SB 2/12 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 16 RdNr 26; BSG Urteil vom 30.9.2009 ‑ B 9 SB 4/08 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 10 RdNr 17; Goebel in Schlegel/Voelzke, jurisPK‑SGB IX, 3. Aufl 2018, § 152 RdNr 31, Stand der Einzelkommentierung: 25.7.2022; Dau in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl 2022, § 151 RdNr 21 ff).
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Wegen ihrer hierdurch weiterbestehenden Rechtsnatur auch als antizipierte Sachverständigengutachten ist der Inhalt der VMG jedenfalls nicht ausschließlich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden zu ermitteln, wie es das LSG versucht hat. Vielmehr sind inhaltliche Zweifel an ihrem durch besondere medizinische Sachkunde geprägten Inhalt vorzugsweise durch Nachfrage bei dem fachlich verantwortlichen Urheber, hier also bei dem beim BMAS gebildeten unabhängigen Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin (§ 3 VersMedV), zu klären (BSG Urteil vom 25.10.2012 ‑ B 9 SB 2/12 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 16 RdNr 27; BSG Urteil vom 2.12.2010 ‑ B 9 SB 3/09 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 12 RdNr 14; BSG Urteil vom 2.12.2010 ‑ B 9 SB 4/10 R ‑ juris RdNr 20; BSG Beschluss vom 2.12.2010 ‑ B 9 VH 2/10 B ‑ juris RdNr 21).
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bb) Wie eine entsprechende Nachfrage des Senats beim Beirat ergeben hat, verstößt es gegen Teil B Nr 4 VMG, einen GdB ausschließlich aufgrund subjektiver Angaben des Untersuchten bei einer Sehschärfeprüfung oder einer Gesichtsfeldbestimmung festzustellen, wenn sich kein dazu korrelierender morphologischer Befund nachweisen lässt. Denn die allgemeine augenärztliche Erfahrung schließt es laut Auskunft des Beirats vom 2.8.2022 aus, dass sich eine morphologische Veränderung am Auge, die zu einer begutachtungsrelevanten Visusminderung oder Gesichtsfeldeinschränkung führt, nicht auch durch entsprechende Untersuchungsverfahren nachweisen lässt (vgl auch Wilhelm, Klinische Monatsblätter der Augenheilkunde 2012, 1103, 1106).
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Anders als das LSG angenommen hat, formuliert Teil B Nr 4 VMG daher mit der Forderung, auf eine Erklärung der Sehstörungen durch das morphologische Korrelat "zu achten", eine zwingende Voraussetzung für eine GdB‑Feststellung und nicht lediglich einen - unverbindlichen - Prüfposten als Qualitätsmerkmal für die sozialmedizinische Beurteilung (vgl in diesem Sinne ebenso bereits Bayerisches LSG Urteil vom 18.6.2013 ‑ L 15 BL 6/10 ‑ juris RdNr 69).
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Vielmehr verlangt nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Beirats die augenärztliche Erfahrung gerade eine Übereinstimmung von morphologischem Korrelat und angegebener Sehstörung. Dieses Erfordernis entspricht zugleich der rechtlich verbindlichen systematischen Gliederung der VMG nach Funktionssystemen, auf welche die GdB‑Feststellung ‑ wie oben ausgeführt ‑ aufbaut. Diese Gliederung dient insbesondere auch der hier maßgeblichen Unterscheidung zwischen organisch und psychisch bedingten Sehstörungen sowie deren sachgerechten und auch in Relation zueinander angemessenen Bewertung (vgl BSG Urteil vom 24.10.2019 ‑ B 9 SB 1/18 R ‑ BSGE 129, 211 = SozR 4‑3250 § 152 Nr 2, RdNr 16 f). Sie ist damit letztlich auch Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) von Menschen mit entsprechenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Gleichzeitig schließen die VMG ‑ wie aufgezeigt ‑ eine Zuordnung einer Sehstörung zum Funktionssystem "Sehorgan" (Teil B Nr 4 VMG) ohne eine ausreichende organische Erklärung dieser Sehstörung aus.
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Der Senat hat keinen Anlass anzunehmen, dieses Verständnis der VMG könnte den Vorgaben der §§ 1, 2, 152 SGB IX, anderen höherrangigen Normen oder auch dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft widersprechen. Denn § 3 VersMedV verpflichtet den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin, die Fortentwicklung der VMG vorzubereiten, wie es dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 ‑ B 9/9a SB 10/06 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 9 RdNr 25; BSG Beschluss vom 27.5.2020 ‑ B 9 SB 67/19 B ‑ juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 9.12.2010 ‑ B 9 SB 35/10 B ‑ juris RdNr 8).
34 |
cc) Dieses Ergebnis zu den Vorgaben für das Funktionssystem "Sehorgan" korrespondiert auch mit der Rechtsprechung des Senats zum Nachteilsausgleich "Blindheit" (Merkzeichen Bl). Hier ist der Senat in seiner Entscheidung vom 24.10.2019 (B 9 SB 1/18 R ‑ BSGE 129, 211 = SozR 4‑3250 § 152 Nr 2) zum Ergebnis gelangt, dass Teil A Nr 6 Buchst a bis c VMG nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der VMG ausschließlich ophthalmologische Erkrankungen unter Ausschluss neurologischer Störungen erfassen (aaO, RdNr 14 ff). Dem Anliegen entsprechend, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch möglichst zielgenauen und weitgehenden Ausgleich ihrer Funktionsbeeinträchtigungen zu ermöglichen, enthält das Schwerbehindertenrecht ua eine Vielzahl von Nachteilsausgleichen (aaO, RdNr 17 f). Das Merkzeichen Bl bietet den Ausgleich für Störungen des Sehapparats im organischen Sinn. Für gnostische ‑ neuropsychologische ‑ Störungen des visuellen Erkennens, die schwerpunktmäßig anderen Bereichen zuzuordnen sind, stehen hingegen andere Nachteilsausgleiche passgenau zur Verfügung (aaO, RdNr 19).
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dd) Die Anforderungen an die Bewertung von Sehstörungen nach den Vorgaben des Funktionssystems "Sehorgan" in Teil B Nr 4 VMG lassen sich ‑ entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ‑ auch nicht durch eine analoge Anwendung dieser Vorschriften nach Maßgabe der Regelung in Teil B Nr 1 Buchst b VMG umgehen. Diese Bestimmung ermöglicht es zwar, bei Gesundheitsstörungen, die in der in Teil B enthaltenen GdB-Tabelle nicht aufgeführt sind, den GdB "in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen". Teil B Nr 4 VMG sieht aber für die Beurteilung von Störungen des Sehvermögens vor, dass ein morphologischer Befund diese Sehstörungen erklärt. Ohne einen solchen Befund erlauben die VMG keine zuverlässige Feststellung einer Sehstörung, die sich mit den in Teil B Nr 4 VMG aufgeführten Störungen am Funktionssystem "Sehorgan" vergleichen und deren GdB sich analog bewerten ließe.
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ee) Die teilweise anderslautenden tatsächlichen Feststellungen des LSG stehen dem vom Senat gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Das Revisionsgericht ist zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden (§ 163 SGG), soweit dagegen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben sind. Ob Letzteres der Fall ist ‑ die Beklagte hat in ihrer Revisionsbegründung eine Verletzung des § 103 SGG gerügt ‑, kann dahinstehen. Denn sind die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen unklar, widersprüchlich und/oder verwerten sie die tatsächlichen Umstände ersichtlich unvollständig, muss das Revisionsgericht ‑ auch ohne Rüge eines Beteiligten ‑ die Sache zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen in die Tatsacheninstanz zurückverweisen, wenn sie sich nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (BSG Urteil vom 25.6.2020 - B 10 EG 1/19 R - SozR 4‑7837 § 2c Nr 9 RdNr 34 mwN).
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Dies schließt eine Bindung des Senats an die Feststellungen des LSG hier aus. Wie das LSG in dem angefochtenen Urteil selbst ausgeführt hat, konnten die gehörten Sachverständigen aufgrund der bisher erhobenen Befunde keine Diagnose auf augenärztlichem Gebiet stellen, weil objektive und nachprüfbare Befunde entweder fehlten, den Angaben der Klägerin über ihre Sehbeeinträchtigungen ganz oder teilweise widersprachen oder diese jedenfalls nicht vollständig erklären konnten. Trotzdem hat sich das Berufungsgericht über diese von den medizinischen Sachverständigen aufgezeigten Widersprüche zwischen den Angaben der Klägerin und den objektiven Befunden hinweggesetzt. Damit hat das LSG die zwingende Vorgabe von Teil B Nr 4 VMG nach einem medizinischen Korrelat für Sehstörungen und auch die allgemeine Systematik der VMG nicht beachtet. Allein das Abstellen des Berufungsgerichts auf die jahrelang gelebte Einschränkung der Augenfunktion der Klägerin kann keine widerspruchsfreien und vollständigen sachverständigen Feststellungen auf medizinischem Gebiet ersetzen.
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Zwar sind für den GdB, wie das LSG zutreffend angenommen hat, nach § 1 Satz 1, § 2 Abs 1 SGB IX nicht die Ursachen, sondern die Auswirkungen der festgestellten Behinderungen auf die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgeblich. Der GdB ist daher ausschließlich nach einer von Kausalitätserwägungen freien finalen Betrachtung orientiert an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu bestimmen (BSG Urteil vom 30.9.2009 ‑ B 9 SB 4/08 R ‑ SozR 4‑3250 § 69 Nr 10 RdNr 20 mwN). Berücksichtigt werden können dabei allerdings nur solche Behinderungen, die nach den Vorgaben der VMG ordnungsgemäß festgestellt worden sind. Das hat das LSG nicht hinreichend beachtet.
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Im Übrigen muss es der medizinischen Wissenschaft überlassen bleiben festzulegen, ob und gegebenenfalls wie sich außerhalb des Funktionssystems "Sehorgan" (Teil B Nr 4 VMG) eine ‑ möglicherweise ‑ rein psychogene Sehstörung ohne korrespondierenden morphologischen Befund zuverlässig feststellen und dann gegebenenfalls auf der Grundlage der Vorgaben des Funktionssystems "Nervensystem und Psyche" (Teil B Nr 3 VMG) bewerten lässt.
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Dahinstehen kann nach alledem, ob die bislang von der Beklagten und den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bei der Klägerin einen GdB von 40 rechtfertigen, weil die Beklagte als alleinige Revisionsführerin sich lediglich gegen ihre darüber hinausgehende Verurteilung zur Feststellung eines höheren GdB wendet.
41 |
C. Das LSG wird nach der Wiedereröffnung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu ermitteln haben, ob die von der Klägerin angegebenen Sehbeeinträchtigungen mangels morphologischer Befunde möglicherweise durch ein Leiden aus dem Bereich des Funktionssystems "Nervensystem und Psyche" (Teil B Nr 3 VMG) erklärt und nach den dortigen Vorgaben bewertet werden können oder ob sich die Widersprüche zwischen den Angaben der Klägerin und den objektivierbaren medizinischen Befunden unter Berücksichtigung der zwingenden Vorgaben der VMG auf andere Weise überzeugend auflösen lassen. Misslingt beides, geht dies nach den Regeln der objektiven Beweislast zulasten der Klägerin (vgl Mushoff in Schlegel/Voelzke in jurisPK‑SGG, 2. Aufl 2022, § 103 RdNr 160, Stand der Einzelkommentierung: 26.9.2022; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 20. Aufl 2020, § 103 RdNr 19a, jeweils mwN).
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D. Dem LSG bleibt auch die Endentscheidung über die Kosten vorbehalten.