Wird gutachterlich die Wegefähigkeit als Grund für eine Erwerbsminderungsrente verneint, schließt diese Einschätzung regelmäßig die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG aus
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 23.12.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) streitig.
Bei dem 1965 geborenen Kläger wurde, gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom August 2013 (Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks: Einzel-GdB 40; Depression: Einzel-GdB 80; Bronchialasthma: Einzel-GdB 10; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom: Einzel-GdB 40), mit Bescheid vom 09.09.2013 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100, das Merkzeichen B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) sowie das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festgestellt.
Der Kläger beantragte am 13.09.2018 die Feststellung des Merkzeichens aG und begründete seinen Antrag damit, dass er aufgrund seiner extrem starken Einschränkungen nun einen Rollstuhl nutze. In ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom Januar 2019 verneinte Z die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG und bewertete die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt:
Depression, chronisches Schmerzsyndrom:
Einzel-GdB 80
Funktionsbehinderung beider Kniegelenke,
Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke,
Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks: Einzel-GdB 50
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule,
Schulter-Arm-Syndrom, Bandscheibenschaden,
Nervenwurzelreizerscheinungen,
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule: Einzel-GdB 40
Bronchialasthma: Einzel-GdB 10.
Der Beklagte lehnte daraufhin den Antrag, gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme, mit Bescheid vom 07.02.2019 ab und wies den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.07.2019 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 05.08.2019 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, mit der er sein Begehren auf Feststellung des Merkzeichens aG weiterverfolgt und zu dessen Begründung er vorgetragen hat, aufgrund eines Behandlungsfehlers sei es zu einer schweren Funktionsstörung des Bewegungsapparats gekommen. Nachdem seine Wirbelsäule im Rahmen dieses Behandlungsfehlers derart geschädigt worden sei, sei er mitunter auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen und stürze auch des Öfteren. Eine ausreichende Mobilität sei nicht mehr gegeben.
Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung schriftlicher sachverständiger Zeugenauskünfte bei der F und beim B. F hat in ihrer sachverständigen Zeugenaussage vom Oktober 2019 über eine freie Gehstrecke von ca. 150 bis 200 m berichtet, wobei die Beschränkung schmerzbedingt sei. Der B hat in seiner Auskunft vom November 2019 über eine Gehstrecke zeitweilig unter 100 m berichtet. Der Kläger nutze einen Rollstuhl, zunächst als Rollatorersatz zum Schieben, und ab einigen 100 m dann zum Sitzen bei außerhalb des Hauses zurückzulegenden Strecken.
Das SG hat weiterhin die im Rahmen des vor dem SG geführten und auf die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gerichteten Verfahrens S 17 R 612/19 von Amts wegen eingeholten Gutachten des W vom April 2020 und des W1, vom März 2020 beigezogen, die beide eine Einschränkung der Wegefähigkeit (des Vermögens, viermal täglich eine Wegstrecke von 500 m zu Fuß unter 20 Minuten zurückzulegen) verneint haben.
Mit Gerichtsbescheid vom 23.12.2021 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass, abgesehen davon, dass beim Kläger kein Einzel-GdB von mindestens 80 für eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliege, bei diesem auch nicht festzustellen sei, dass er sich dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen könne, wie sich aus den sachverständigen Zeugenaussagen der im Gerichtsverfahren befragten Ärzte F und B sowie aus den beigezogenen Gutachten, insbesondere den beiden Rentengutachten, ergeben würde.
Gegen den dem Kläger am 31.12.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 03.01.2022 beim SG Berufung eingelegt, welches diese an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg weitergeleitet hat. Zur Begründung hat der Kläger vorgetragen, es sei nicht überzeugend, wenn das SG ohne persönlichen Eindruck davon ausgehe, dass der verordnete Rollstuhl als Rollatorersatz nur schiebend genutzt werde. Die Begutachtungen wiederum hätten sich auf ein Rentenverfahren bezogen und es sei fragwürdig, ob diese in dem hier streitgegenständlichen Verfahren Verwendung finden könnten.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 23.12.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter Aufhebung des Bescheids vom 07.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.07.2019 das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hat zur Begründung im Einzelnen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids verwiesen.
Der Senat hat die Akten des Rentenverfahrens vor dem SG (S 17 R 612/19) sowie des Berufungsverfahrens (L 10 R 3259/20), in welchem mit Beschluss vom 21.12.2021 die Berufung des Klägers gegen die abschlägige Entscheidung des SG zurückgewiesen worden ist, beigezogen.
Der Kläger hat weitere medizinische Unterlagen, darunter ein MDK-Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) vom September 2022, den Entlassungsbericht der S Kliniken S1 über den dortigen Reha-Aufenthalt des Klägers vom Juli 2022 und den Entlassbrief des Uklinikums M vom September 2022, vorgelegt.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 21.07.2022 und der Kläger mit Schriftsatz vom 18.11.2022 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Prozessakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden kann, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber unbegründet.
Streitgegenständlich ist vorliegend der Gerichtsbescheid des SG vom 23.12.2021, mit dem die Klage des Klägers, gerichtet auf die Feststellung des Merkzeichens aG abgewiesen worden ist. Die Klage bleibt aber ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens aG, da dessen Voraussetzungen nicht vorliegen. Der von ihm angegriffene Bescheid vom 07.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.07.2019 ist rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG ist § 2 Abs. 1 und 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit § 152 Abs. 4 und 5 SGB IX sowie § 229 Abs. 3 SGB IX.
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen im Sinne des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Nach § 152 Abs. 4 SGB IX treffen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Merkzeichen sind, die erforderlichen Feststellungen. Nach § 152 Abs. 5 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die gesundheitlichen Merkmale aus.
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung war bis zum 29.12.2016 Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Nunmehr – und für den hier streitgegenständlichen Antrag allein maßgeblich – sind die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nach § 229 Abs. 3 SGB IX zu beurteilen. Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach § 229 Abs. 3 SGB IX Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen nach § 229 Abs. 3 Satz 3 SGB IX insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen ‑ aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Nach § 229 Abs. 3 Satz 4 SGB IX können verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind nach § 229 Abs. 3 Satz 5 SGB IX als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleich kommt.
In Abkehr von der bisherigen Rechtslage, die nach Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO durch die Differenzierung in Regelbeispiele und Gleichstellungsfälle geprägt war, fordert § 229 Abs. 3 SGB IX somit nunmehr, dass beim schwerbehinderten Menschen eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen muss, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Auf die Bestimmungen von Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO, welche bisher die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Berechtigung geregelt hat, kommt es dagegen nicht mehr grundlegend an. Denn § 229 Abs. 3 SGB IX hat als Gesetzesrecht Vorrang vor der bloßen Verwaltungsvorschrift (Masuch in: Hauck/Noftz, SGB, 08/18, § 229 SGB IX, Rn. 134). Teil D Nr. 3 der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), in welchem bisher ebenfalls – fast wortgleich wie in der straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsvorschrift – nähere Vorgaben zum Merkzeichen aG gemacht wurden, ist durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) zum 30.12.2016 aufgehoben worden (Art. 18 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b BTHG).
Allerdings übernimmt die Legaldefinition der erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung in § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX für die weitere Konkretisierung der notwendigen Schwere der Beeinträchtigung den Wortlaut der zuvor geltenden VG, Teil D Nr. 3 Buchst. b und knüpft auch ausdrücklich an die bisherige Regelung in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO an (vgl. hierzu im Einzelnen BSG, Urteil vom 16.03.2016, B 9 SB 1/15 R, juris). Zurückgehend auf die in der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, vgl. Urteil vom 11.03.1998, B 9 SB 1/97 R, juris, mit weiteren Nachweisen) verwendete Formulierung wird weiterhin gefordert, dass sich die schwerbehinderten Menschen dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Die gesetzliche Definition des neuen Begriffs der erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung knüpft damit sehr eng an die vorherige Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis an (Masuch in Hauck/Noftz, a.a.O., § 229 SGB IX, Rn. 140). Demnach kann insbesondere auf die bisherigen Grundsätze aufgebaut werden, die die Rechtsprechung für die Prüfung herangezogen hat, ob der schwerbehinderte Mensch nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung gehen kann.
Dabei ist weiterhin zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen schwerbehinderten Menschen geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BT-Drucks. 8/3150, S. 9 und 10 in der Begründung zu § 6 StVG). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind weiterhin hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (so zuletzt BSG, Urteil vom 16.03.2016, B 9 SB 1/15 R, juris).
Für die Beurteilung der erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung ist bei dem Restgehvermögen des schwerbehinderten Menschen anzusetzen. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 16.03.2016, a.a.O., juris; BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 SB 7/01 R, juris). Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn § 229 Abs. 3 SGB IX stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, bei dem liegt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch dann vor, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt, so jetzt ausdrücklich § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.
Auch soweit diese großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv fehlerfrei und verwertbar festzustellen, ist die Tatsache, dass ein schwerbehinderter Mensch nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Gradmesser für einen Erschöpfungszustand, der die Zuerkennung des Merkzeichens aG unter den weiteren Voraussetzungen des § 229 Abs. 3 SGB IX rechtfertigt, kann die Intensität der Schmerzen beziehungsweise der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich unter anderem aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der schwerbehinderte Mensch nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist dagegen zumutbar (BSG, Urteil vom 05.07.2007, B 9/9a SB 5/06 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, juris).
Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Gerade bei multimorbiden schwerbehinderten Menschen liegt auf der Hand, dass allein das Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert. Gerade die Anwendung eines einzelnen starren Kriteriums birgt die Gefahr eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 05.07.2007, B 9/9a SB 5/06 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, juris).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen aG gelten gegenüber dem Merkzeichen G nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 13.12.1994, 9 RVs 3/94, juris).
Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten. Insofern kommt es nicht auf die üblicherweise auf Großparkplätzen zurückzulegende Strecke zwischen allgemein nutzbaren Parkplätzen und Gebäudeeingängen an. Das Merkzeichen aG soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (so zuletzt BSG, Urteil vom 16.03.2016, B 9 SB 1/15 R, juris). Ein bestimmtes Wegstreckenkriterium erschiene nur dann als sachgerecht, wenn die betreffende Wegstrecke grundsätzlich geeignet wäre, den bestehenden Nachteil auszugleichen. Das könnte es nahelegen, auf die Platzierung gesondert ausgewiesener Behindertenparkplätze abzustellen. Aber auch diesem Ansatz ist nicht zuzustimmen. Abgesehen davon, dass es keine empirischen Untersuchungen zur durchschnittlichen Entfernung zwischen gesondert ausgewiesenen Behindertenparkplätzen und den Eingängen zu Einrichtungen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, greift die alleinige Ausrichtung auf Behindertenparkplätze (Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) zu kurz. Denn daneben werden nach Abschnitt I Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zum Beispiel die Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot, gewährt (BSG, Urteil vom 05.07.2007, B 9/9a SB 5/06 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, juris; BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, juris).
An dieser oben dargestellten Rechtslage für die Zuerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat sich auch durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (UN-Behindertenrechtskonvention [UN-BRK]) nichts geändert. Allerdings kann die UN-BRK als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden. Insoweit ist entsprechend Art. 1 der UN-BRK, wie bereits in § 2 Abs. 1 SGB IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des behinderten Menschen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 11.08.2015, B 9 SB 2/14 R, juris).
Nach diesen Maßstäben liegt beim Kläger keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, weil er sich nicht dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Dies ergibt sich zunächst, wie das SG zu Recht ausgeführt hat, aus den zeugenschaftlichen Stellungnahmen der behandelnden Ärzte. So ist der Auskunft der F zu entnehmen, dass schmerzbedingt die freie Gehstrecke auf etwa 150 bis 200 m begrenzt ist. In diesem Rahmen kann der Kläger danach ohne Hilfsmittel laufen und die Praxis aufsuchen und sind insbesondere Unterarmgehstützen nicht erforderlich. Dementsprechend hat F nachvollziehbar verneint, dass sich der Kläger im Sinne einer außergewöhnlichen Gehbehinderung wegen der Schwere der Behinderungen dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann und hat allenfalls die Voraussetzungen für das bereits zuerkannte Merkzeichen G für gegeben angesehen. Im Einklang hiermit steht auch die Auskunft des B, wonach bei hinkendem Gang die Gehstrecke des Klägers nur zeitweilig unter 100 m liegt und der Rollstuhl dem Kläger zunächst nur zum Schieben – im Sinne eines Rollatorersatzes – dient und erst ab einigen hundert Metern im eigentlichen Sinne zum Einsatz kommt. Seiner Auskunft im Verwaltungsverfahren vom 02.07.2019 ist dabei eine Gehstrecke von sogar 500 m zu entnehmen. Es besteht somit gerade keine Rollstuhlpflichtigkeit und der Kläger ist nicht dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen.
Eindrücklich bestätigt wird diese Einschätzung der behandelnden Ärzte durch die beiden im Rentenverfahren eingeholten Gutachten auf nervenärztlichem und orthopädischem Gebiet, jeweils beruhend auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers im März 2020. Der W hat für sein Fachgebiet eine Einschränkung hinsichtlich der Wegefähigkeit ausgeschlossen und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Kläger die behaupteten Leiden zum Teil simuliert oder wenigstens aggraviert. W1 hat auf orthopädischem Fachgebiet lediglich die beiden Kniegelenksarthrosen, links mehr als rechts, aktuell aber ohne Reizerscheinungen und mit Bewegungseinschränkung nur links, als für das Gehvermögen relevante Gesundheitsstörungen festgestellt, womit eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspricht, ausgeschlossen ist. Die vom Kläger vorgetragenen Rückenschmerzen am Übergang der Brustwirbelsäule zur Lendenwirbelsäule sind dagegen, so der Sachverständige, ohne Funktionseinschränkungen. Er ist zum Schluss gekommen, dass der Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz der beklagten Beschwerden imstande ist, viermal täglich eine Wegstrecke von 500 m zu Fuß unter 20 Minuten zurückzulegen. Denn das Gehvermögen des Klägers ist, so der Sachverständige, sehr viel besser, als es dieser demonstriert, wenngleich es sich bei fehlender Mitarbeit des Klägers nur abschätzen lässt. Dies ist auch für den Senat überzeugend, denn der Sachverständige hat die Simulierung der behaupteten Wegeeinschränkung durch den Kläger schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. So weist der Kläger sowohl links wie auch rechts eine auffällig gut definierte, eher überdurchschnittlich kräftige Beinmuskulatur am Oberschenkel wie auch am Unterschenkel auf. Würde der Kläger dagegen, wie behauptet, Wegstrecken weitgehend im Rollstuhl zurücklegen, so wäre eine erhebliche Muskelminderung im Sinne einer Atrophie an beiden Beinen zwingend zu erwarten, zumal nach Angaben des Klägers auch keine Krankengymnastik durchgeführt wird. Die regelmäßige Belastung beider Füße wird darüber hinaus zwingend durch die normalkräftige Fußsohlenbeschwielung belegt, die im Übrigen nahezu symmetrisch ist und damit nicht zu dem demonstrierten linkshinkenden Gangbild mit stark gestörtem Abrollverhalten links passt. Auch in den Röntgenaufnahmen haben sich, so der Sachverständige, keine Hinweise für eine bei der behaupteten Einschränkung des klägerischen Gehvermögens unvermeidlich zu erwartende Inaktivitäts-Knochenmasseminderung gezeigt.
Gegen die Verwertung dieser beiden Gutachten im vorliegenden Rechtsstreit im Wege des Urkundenbeweises bestehen keine rechtlichen Bedenken (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 117 Rn. 6, § 128 Rn. 8b). Ebenso wenig kann es überzeugen, wenn der Kläger den in den beiden Gutachten von Amts wegen erhobenen Befunden und Diagnosen deswegen keine Aussagekraft zuerkennen will, weil sie in einem Verfahren wegen der Anerkennung einer Erwerbsminderungsrente erstellt worden sind; denn die zu erhebenden Befunde wie auch Diagnosen sind unabhängig vom Streitgegenstand. Da aber im Rentenverfahren auch der Wegfall der sogenannten Wegefähigkeit als Grund für eine Erwerbsminderungsrente in Betracht kommt, kann vorliegend sogar weitergehend auch die diesbezügliche Einschätzung der Sachverständigen herangezogen werden. Denn die Anforderungen an den Wegfall der Wegefähigkeit als einen möglichen Grund für eine Erwerbsminderungsrente sind deutlich geringer als für eine Beeinträchtigung im Sinne des Merkzeichens aG, weshalb die Bejahung der Wegefähigkeit, sofern sie nicht unter Einschluss zusätzlicher Hilfsmittel, wie einem rollstuhlgerechten Kfz, erfolgt, regelmäßig die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ausschließt.
Auch die zuletzt im Berufungsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen rechtfertigen keine abweichende Beurteilung.
Im Reha-Entlassungsbericht der S Kliniken S1 vom Juli 2022 über die dortige stationäre Heilbehandlung im Anschluss an den operativen Eingriff im Mai 2022 wegen eines Bandscheibenvorfalls der Halswirbelsäule (VDE auf Höhe HWK 3/4 mit Implantation Zero-P CAGE 7 lordodic am 13.05.2022) wird über den Abschlussbefund berichtet, dass der Kläger sicher ohne Hilfsmittel laufen und bei zwar ataktischem Gangbild gleichwohl eine Gehstrecke von 100 bis 150 m zurücklegen konnte. Im Entlassbrief des Uklinikums M vom September 2022 über eine notfallmäßige Behandlung des Klägers wegen Kreuzschmerzen wird gleichermaßen ein sicherer und nur leicht ataktischer Stand und Gang beschrieben. Anhand dieser Befunde kann weiterhin ausgeschlossen werden, dass sich der Kläger dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Zwar hat der Kläger zugleich ein MDK-Gutachten vom September 2022, in welchem ein schlechteres Gehvermögen beschrieben ist, vorgelegt. Allerdings ist dieses Gutachten, wie dort auf Seite 3 festgehalten ist, von einer Pflegefachkraft, also keinem Arzt, und darüber hinaus nur nach Aktenlage ohne persönliche Begutachtung erstellt worden. Angesichts der in den Gutachten des W und vor allem des W1 beschriebenen, doch recht ausgeprägten Aggravation und sogar Simulation von Funktionsbeeinträchtigungen in Bezug auf das Gehvermögen kann eine Begutachtung nach Aktenlage von vornherein nicht den von den behandelnden Ärzten und den beiden Sachverständigen nach ambulanter Begutachtung gewonnenen Eindruck und Befund widerlegen. Die Beurteilung einer Pflegefachkraft, die sich ausschließlich auf die Auswertung komplexer, in großen Teilen neurochirurgischer ärztlicher Unterlagen stützt, zu denen eine solche Pflegefachkraft allerdings von der Ausbildung her fraglich befähigt sein dürfte, mag gegebenenfalls den Anforderungen der Krankenkassen im Verfahren wegen der Feststellung des Pflegegrads genügen, ist aber nicht im Ansatz geeignet, die auf deren eigenen Untersuchungen beruhenden Feststellungen der behandelnden Ärzten und der beiden Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.
Die Frage, ob darüber hinaus eine besonders ausgeprägte Depression für sich genommen geeignet ist, im Einzelfall und unter besonderen Umständen das Merkzeichen aG zu begründen, braucht hier nicht geklärt werden. Denn W konnte im Rahmen seiner Begutachtung nur eine anhaltende Anpassungsstörung mit dysthymer Stimmungslage im Zusammenhang mit den orthopädischen Leiden feststellen und hat eine manifeste Depression oder wenigstens eine schwere depressive Verstimmung ausgeschlossen. Im bereits genannten Reha-Entlassungsbericht vom Juli 2022 wird ebenfalls nur von einer leichten depressiven Episode berichtet. Die überraschende Bewertung der seelischen Erkrankung des Klägers mit einem Einzel-GdB von 80 aufgrund der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom August 2013, einzig beruhend auf einem Kurzbericht des B (!), ist angesichts der vorstehenden Einschätzungen jedenfalls für den hier streitgegenständlichen Zeitraum ohne Belang.
Dem Kläger steht somit für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum das Merkzeichen aG nicht zu, weshalb die Berufung als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.