Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klage richtet sich gegen die Ablehnung eines Änderungsantrags (Verschlimmerungsantrags) nach dem Schwerbehindertenrecht.
Bei der Klägerin waren durch Bescheid vom 26.02.1992 ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 bei den Behinderungen „Schwerhörigkeit nach chronischer Otitis media“ und „Cerebelläre Atrophie“ sowie das Merkzeichen G („erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr“) festgestellt worden. Mit dem diesem Bescheid zugrundeliegenden Neufeststellungsantrag (Verschlimmerungsantrag) hatte die Klägerin wegen „unberechenbarer Fallneigung“ auch die Feststellung des Merkzeichens B („Berechtigung für eine ständige Begleitung“) geltend gemacht. Ein kurz nach Bescheiderlass gestellter, erneuter Änderungsantrag war mit Bescheid vom 14.01.1993 abgelehnt worden.
Am 01.02.2020 stellte die Klägerin erneut einen Verschlimmerungsantrag und beantragte neben dem Merkzeichen aG („außergewöhnliche Gehbehinderung“) erneut das Merkzeichen B. Ihrem Antrag fügte sie das für die soziale Pflegeversicherung erstattete „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI“ der Pflegefachkraft D. vom 06.12.2019 bei, aus dem sich seit November 2019 der Pflegegrad 2 ergibt. Im Pflegegutachten heißt es, dass die Klägerin an folgenden Erkrankungen leide: „Cerebelläre Ataxie bei Kleinhirnatrophie ED 1990/1991 mit Sprachstörungen, Gleichgewichtsstörungen, Gangstörungen, Dysphagie, LWS- und HWS-Syndrom“. Im gutachtlichen Befund ist selbständiges Gehen der Klägerin mit Hilfsmittel (Rollator) dokumentiert. Das Gangbild sei unsicher. Der Pflegesachverständige vermerkte in diesem Zusammenhang, dass „tagesformabhängige Sicherheitsbeaufsichtigung beim Gehen und Treppensteigen“ nachvollziehbar sei. Das Verlassen des Bereichs der Wohnung erfolge überwiegend selbständig (mit Unterstützung, aber auch in Eigenaktivität). Die Fortbewegung außerhalb der Wohnung sei „auf allen Strecken nur mit personeller Hilfe möglich“, ebenso die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die Teilnahme an kulturellen, religiösen oder sportlichen Veranstaltungen sei der Klägerin auch nur mit unterstützender Begleitung möglich.
Ihrem Verschlimmerungsantrag legte die Klägerin außerdem den ärztlichen Entlassungsbericht der C.-klinik (Abteilung Neurologie, Dr. H.) über die stationäre Rehabilitationsbehandlung vom 02.10.2019 bis 06.11.2019 bei. Hier waren der Klägerin im Rahmen der Sozialberatung Informationen zur Beantragung von Leistungen der Pflegeversicherung gegeben worden. Die Klägerin bezieht seit Mai 1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Nach Einholung hno-ärztlicher und neurologischer Befundunterlagen sowie Vorlage des Anpass- und Abschlussberichts des Hörgeräte-Akustikers vom 24.06.2020 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 03.09.2020 den Antrag der Klägerin auf Neufeststellung nach § 152 SGB IX iVm § 48 Abs. 1 SGB X ab, weil eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, die zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheids vom 26.02.1992 vorgelegen hätten, nicht eingetreten sei. Eine Erhöhung des GdB und die Feststellung weiterer Merkzeichen seien nicht gerechtfertigt.
Gegen den Bescheid vom 03.09.2020 legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie vortrug, dass allein die Zuerkennung des Pflegegrades 2 die wesentliche Änderung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse beweise. Sie leide auch nicht nur unter massiver Gangunsicherheit, sondern zusätzlich an Unsicherheit aller Gliedmaßen und des Rumpfes und an Unsicherheit aufgrund von Gleichgewichtsstörungen. Durch die ständige Fehlhaltung hinzugekommen sei ein Bandscheibenvorfall der Lendenwirbelsäule. Die cerebelläre Atrophie (Ataxie) habe einen fortschreitenden Verlauf genommen, was durch MRT-Aufnahmen von 2003 und 2008 bewiesen sei. Alle Symptome der Krankheit zeigten sich seitdem wesentlich ausgeprägter. Sie falle häufiger als früher und sei ohne Rollator und Begleitperson nicht in der Lage, sicher zu laufen. Jegliche Untergrundveränderung (Loch im Asphalt, Sand, Kies o. ä.) bringe sie ohne Vorwarnung zu Fall. Jeder Richtungswechsel bedeute erhöhte Schwindelgefahr. Die Klägerin benötige den Rollator sowohl im Haus als auch außerhalb des Hauses. „Alle täglichen Dinge“ erledige sie mit Rollator und Begleitperson. Wegen der Folgen ihrer Stürze habe sie sich schon monatelang in medizinische Behandlung begeben müssen. Seit Februar sei die Klägerin mit einem Hausnotruf ausgestattet und seit September seien ihre Hörgeräte mit einem Sturzsensor ausgestattet.
Das Merkzeichen B benötige sie, weil es ihr komplett unmöglich sei, selbständig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie könne den Rollator nicht (die Busstufen hoch) in den Bus tragen, geschweige denn während der Fahrt von ihrem Sitzplatz aufstehen und zur Tür gehen. Dasselbe gelte für Bahnfahrten und für Bahnhöfe ohne Aufzüge.
Das Merkzeichen aG beantrage die Klägerin, weil sie zum Ein- und Ausladen des Rollators ausreichend Platz benötige, um bei eventuellen „Torkelschritten“ oder anderen unkoordinierten Bewegungen keine anderen Fahrzeuge mit ihrem Rollator zu beschädigen.
Mit ihrem Widerspruchsschreiben legte die Klägerin den „Therapiebericht“ ihres Physiotherapeuten vom 01.10.2020 vor. In diesem heißt es, dass gezielte Übungen zur Förderung der Koordination durchgeführt würden sowie Kräftigungsübungen an Geräten, auf Matten und Gymnastikbällen in Kombination mit „unruhigen Untergründen“, um das Gleichgewicht zu fördern. Die Klägerin habe ein sehr wackeliges und unsicheres Gangbild, das sie dazu zwinge, sich fast ausschließlich mit Rollator oder am Rollstuhl ihres Mannes fortzubewegen. Sie selbst sei sehr motiviert und immer für neue Übungen offen, um ihre Beschwerden zu verbessern und gegen den progredienten Verlauf ihrer neurologischen Erkrankung anzukämpfen.
Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 03.09.2020 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2020 zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass an der Bescheiderteilung festgehalten werde. Aus den aktenkundigen Befundunterlagen gehe nicht hervor, dass infolge der Funktionseinbußen der Klägerin zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig fremde Hilfe erforderlich sei (Merkzeichen B). Auch die Ablehnung der Feststellung des Merkzeichens aG sei rechtmäßig, denn die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin erreiche nicht einmal einen GdB von 80. Die Behinderungen der Klägerin im Bereich des Bewegungsapparates seien nicht so gravierend, dass sie sich dauernd nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Auf die im Hinblick auf die Behinderung wünschenswerte Größe eines Parkplatzes komme es bei der Frage der außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht an, denn nicht die Schwierigkeit bei der Benutzung des gewöhnlichen Parkraumes, sondern die jeweilige Lage bestimmter Parkplätze zu bestimmten Zielen sei für die Erteilung der straßenverkehrsrechtlichen Parksonderrechte maßgeblich.
Die Klägerin hat durch ihren Prozessbevollmächtigten am 15.12.2020 Klage zum Sozialgericht Frankfurt erhoben.
Der Klägervertreter beruft sich zur Klagebegründung auf das Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren.
Nach Kenntnisnahme vom Inhalt des nach § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachtens (s. u.), das zu dem Ergebnis gekommen ist, dass bei der Klägerin weder die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG noch die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens B vorliegen, trägt der Klägervertreter vor,
der Klägerin sei „mindestens das Merkzeichen B zuzubilligen“. Das Sachverständigengutachten sei nicht zutreffend. Die Klägerin habe Koordinationsstörungen und der Rollator könne ihr nicht allein die erforderliche Sicherheit geben. Es werde beantragt, den Sachverständigen ergänzend zur Beantwortung folgender Frage aufzufordern: „Wie soll die Klägerin denn mit einem Rollator Treppen ohne Hilfe überwinden?“
Der anschließenden Aufforderung (im Anhörungsschreiben zur beabsichtigten Entscheidung nach § 105 SGG), mitzuteilen, ob angesichts des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens zum Merkzeichen aG der Antrag auf Feststellung des Merkzeichens aG dennoch aufrechterhalten bleibe, ist der Klägervertreter nicht nachgekommen.
Der Klägervertreter hat in der Klageschrift beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 03.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.12.2020 zu verurteilen, bei der Klägerin die Merkzeichen B und aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält seine Entscheidung für rechtmäßig und beruft sich hierzu auch auf das im Klageverfahren eingeholte Sachverständigengutachten.
Das Gericht hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen die Verwaltungsakte des Beklagten zu dem Rechtstreit beigezogen und medizinische Unterlagen eingeholt. Zur Gerichtsakte sind so gelangt: der Befundbericht des Orthopäden Dr. E. vom 08.11.2021, der Befundbericht des Hausarztes des Klägers, des Internisten Dr. S., vom 02.12.2021 nebst Ausdruck aus der Patientenakte und Fremdbefunden sowie der Bericht des HNO-Arztes G. vom 21.12.2021. Auf Antrag des Klägervertreters nach § 109 SGG hat das Gericht bei Dr. M., Facharzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Betriebsmedizin, Geriatrie, Psychosomatische Grundversorgung (KV) ein Sachverständigengutachten nach ambulanter Untersuchung der Klägerin in Auftrag gegeben, das dieser unter dem 23.08.2022 vorgelegt hat. Die Inhalte des Sachverständigengutachtens und der Befundunterlagen werden, soweit erforderlich, im Rahmen der Entscheidungsgründe wiedergegeben.
Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten wird auch auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden vorher gehört (§ 105 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGG). Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil (§ 105 Abs. 3 erster Halbsatz SGG).
Die Klage ist form- und fristgerecht bei dem sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Frankfurt/Main eingelegt worden und als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) statthaft. Die auf Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens B gerichtete Klage ist insgesamt zulässig.
Unzulässig ist hingegen die in der Klageschrift formulierte Klage auf Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens aG, weil trotz gerichtlicher Aufforderung zur Erklärung (s. Tatbestand) unklar geblieben ist, ob eine gerichtliche Entscheidung hierüber noch begehrt wird oder nicht:
Nach Eingang des vom Klägervertreter nach § 109 SGG beantragten Sachverständigengutachtens des Dr. M. vom 23.08.2022 hat der Klägervertreter eine ergänzende Beweisfrage formuliert (s. Tatbestand), die sich auf die Ausführungen des Sachverständigen zu den Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens B bezog, denn der Sachverständige hat in seinem Gutachten angegeben, dass die Klägerin in der Lage sei, „Treppen wie es zum Erreichen von S- bzw. U-Bahn-Haltestellen erforderlich ist, ohne Hinzuziehung einer Begleitperson zu überwinden“, „Stufen beim Einsteigen in Fahrzeuge der öffentlichen Verkehrsmittel alleine zu überwinden“ und „Stufen beim Aussteigen aus Fahrzeugen der öffentlichen Verkehrsmittel alleine zu überwinden“ und dass „tagesformabhängig“, „allerdings nicht ständig“, eine Begleitperson zum Hineinheben bzw. Herausheben des Rollators erforderlich sei.
Dass sich der Beweisantrag des Klägervertreters nur auf Tatsachen bezog, die für die Feststellung des Merkzeichen B erheblich sind, geht auch aus dem anschließenden Anhörungsschreiben der Kammervorsitzenden zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hervor, in dem sie dem Klägervertreter einen rechtlichen Hinweis erteilt hat, soweit er „im Hinblick auf die begehrte Feststellung des Merkzeichens B eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme des Sachverständigen beantragt“. Der Klägervertreter hat dieser Auslegung seines Beweisantrags nicht widersprochen und ist der Aufforderung im Anhörungsschreiben, binnen der Anhörungsfrist mitzuteilen, „ob er angesichts des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens des Dr. M. vom 23.08.2022 zum Merkzeichen aG (Seite 52) dennoch den Antrag auf Feststellung des Merkzeichens aG aufrechterhält“, nicht nachgekommen; die Aufforderung ist aus dem übrigen Text durch Unterstreichung hervorgehoben. Der Klägervertreter hat anschließend lediglich erklärt, mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden zu sein.
Der Klägervertreter hat damit trotz ausdrücklicher gerichtlicher Aufforderung bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht kenntlich gemacht, was er (noch) als gerichtliche Entscheidung anstrebt und was nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 20.10.2010, B 13 R 63/10 B, juris RdNr 22, siehe auch BSG, Urteil vom 28.09.2006, B 3 KR 20/05 R, juris RdNr 14; beide zitiert nach Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. April 2015 – L 32 AS 2447/14 –, juris), ob er also, trotz seines nur auf das Merkzeichen B bezogenen Beweisantrags, obwohl der nach § 109 SGG ausgewählte Sachverständige nicht nur die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens B, sondern auch die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG verneint hat, auch noch eine gerichtliche Entscheidung über das Merkzeichen aG anstrebt. Dies ist für das erkennende Gericht noch zusätzlich wegen der unklaren Formulierung des Klägervertreters, dass der Klägerin „mindestens“ das Merkzeichen B zuzubilligen sei, zweifelhaft.
Da das mit der Klage Gewollte nicht eindeutig und zweifelsfrei erklärt ist (siehe BSG, Urteil vom 09.08.2006, B 12 KR 22/05 R, RdNr 19; zitiert nach Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. April 2015, aa0), was aber wegen der Dispositionsbefugnis der klagenden Partei über den Umfang der gerichtlichen Entscheidung und des Verbotes des Hinausgehens hierüber („ne ultra petita“) erforderlich ist, fehlen für eine gerichtliche Entscheidung über den Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Merkzeichens aG die Sachurteilsvoraussetzungen. Die Klage ist hinsichtlich des Merkzeichens aG unzulässig (§ 92 Abs. 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 SGG, hierzu BT-Drs 16/7716 S. 18; zitiert nach Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. April 2015, aa0; zu alldem auch ausführlich Föllmer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 92 SGG, Stand: 02.02.2023, Rn. 37).
Die zulässige Klage führt in der Sache nicht zum Erfolg.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens B (§§ 152 Abs. 4 iVm Abs. 1, 229 Abs. 2 SGB IX iVm § 48 Abs. 1 SGB X). Dieses berechtigt schwerbehinderte Menschen mit Merkzeichen G, H oder Gl (§ 228 Abs. 6 Nr. 1, Abs. 1 Satz 1 SGB IX) zur Mitnahme einer Begleitperson, wenn sie bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind (§ 229 Abs. 2 SGB IX); die Beförderung erfolgt auch für die Begleitperson unentgeltlich.
Dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin gegenüber dem Gesundheitszustand, der zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheids vom 26.02.1992 vorgelegen hat, wesentlich geändert hat, so dass nunmehr die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens B gegeben sind, ist nicht zu ihren Gunsten nachgewiesen.
Schon bei ihrem stationären Aufenthalt im Krankenhaus Nordwest (Neurologie) im Jahr 1991 hatte die Klägerin berichtet, seit etwa 10 Jahren unter zunehmenden Gleichgewichtsstörungen mit Gangunsicherheit und Fallneigung zu leiden (Krankenhausbericht vom 27.08.1991). Hier war ein breitbeinig wirkendes und diffus unsicheres Gangbild ohne gerichtete Fallneigung erhoben worden, der Romberg-Versuch sei „stark schwankend“ erfolgt (der Romberg-Versuch ist eine orientierende klinische Untersuchung zur Überprüfung der Standsicherheit. Hierbei steht der Patient mit aneinanderliegenden Füßen, vorgestreckten Armen und geschlossenen Augen aufrecht im Raum. Der Untersucher achtet dabei auf (vor allem Schwank-) Bewegungen des Körpers; https: //flexikon.docchek.com/de/Romberg-Versuch; Internetrecherche der Kammervorsitzenden vom 22.02.2023). Gangunsicherheit und Sturzgefahr sind auch schon im ärztlichen Entlassungsbericht der Neurologischen Klinik Bad Salzhausen vom 29.10.1991 dokumentiert („Das Gangbild ist mäßig ataktisch, die Patientin geht einige Meter frei, muss sich dann wegen plötzlich verstärkter Ataxie immer wieder festhalten, um nicht hinzustürzen. Der Seiltänzergang sehr ataktisch und unsicher, im Romberg mit geschlossenen Augen deutliches Wackeln“; neurologischer Befund aa0). Vermehrten Schwindel, verstärkte Fallneigung und stärkere Gangunsicherheit hatte die Klägerin bereits im Verschlimmerungsantrag vom 08.09.1992 geltend gemacht.
Dass die Klägerin mittlerweile einen Rollator benutzt, es nach anamnestischen Angaben schon zu mehreren Stürzen gekommen ist und die Klägerin Sturzangst hat, geht sowohl aus dem „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI“ vom 06.12.2019 hervor, in dem die Pflegefachkraft Herr D. auch angegeben hat, dass der Klägerin die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel „auf allen Strecken nur mit personeller Hilfe möglich“ sei, als auch aus dem Entlassungsbericht der C.-klinik vom 12.11.2019. In Letzterem wird allerdings auch angegeben, dass die Klägerin infolge der stationären Rehabilitationsbehandlung von einem verbesserten Körpergefühl und Gleichgewicht und einer höheren Rumpfstabilität berichtet habe, weswegen sie sich im Alltag mehr zutraue. Gleichzeitig sei von der Klägerin eine bessere Akzeptanz ihrer Gehhilfe (Rollator) beschrieben worden. Sie wolle sich zukünftig durch ihren je nach Tagesform unsicheren Gang nicht weiter einschränken lassen (Bericht aa0, Seite 5 letzter Absatz). Zum Abschlussbefund und Reha-Ergebnis ist in dem Bericht (Seite 7) festgehalten, dass die Klägerin auch von einer Verbesserung der Ausdauer und der Kraft berichtet habe und dass sie sich getraut habe, auf Stationsebene ohne Rollator zu gehen. Dass die Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen ist, geht aus dem Bericht nicht hervor.
Dasselbe gilt für die aktenkundigen Befundberichte des Orthopäden Dr. E. vom 23.10.2020 und 08.11.2021, den die Klägerin wegen Oberschenkelbeschwerden links aufsuchte, den Befundbericht der Neurologin Dr. K. vom 03.11.2021, die mitteilte, dass der Romberg-Versuch alleine nicht möglich gewesen sei und dass Gleichgewichtsstörungen bestünden, die die Gehfähigkeit beeinträchtigen könnten und dass die Klägerin seit September 2019 nicht mehr vorstellig gewesen sei und auch für den von der Klägerin selbst vorgelegten Therapiebericht ihres Physiotherapeuten vom 01.10.2020 (s. Tatbestand). (Der HNO-Arzt G. hat lediglich die von ihm gestellten Diagnosen mitgeteilt und Audiogramme vorgelegt.)
Nur der Hausarzt der Klägerin, Dr. S., hat in seinem Bericht vom 02.12.2021 mitgeteilt: „Meines Erachtens besteht der Nachteilsausgleich B, da ohne Hilfsmittel keine eigenständigen Wegstrecken zurückgelegt werden können und bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ein Einstieg sonst nicht möglich ist.“
Indes verneint auch der Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 23.08.2022 die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens B, wie sich bereits aus dem oben (zur vom Klägervertreter gestellten Beweisfrage im Hinblick auf das Merkzeichen B) Ausgeführten ergibt. Den Vortrag der Klägerin zur „kompletten Unmöglichkeit, selbständig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen“ im Widerspruchsverfahren, auf den sich auch der Klägervertreter zur Klagebegründung bezieht, bestätigt der Sachverständige mit diesen Ausführungen nicht. Aus dem Gutachten geht außerdem hervor, dass bei der Klägerin im Vergleich zum Bescheid vom 26.02.1992 zwar weitere Gesundheitsstörungen hinzugekommen seien („Hörminderung, Polyarthrose der Fingergelenke ohne relevante Bewegungsstörungen, Verschleiß der Wirbelsäule, Bandscheibenleiden, Wirbelsäulenverbiegung der Brust- und Lendenwirbelsäule, Hüftgelenkverschleiß beiderseits, Fußfehlform beiderseits, Bluthochdruck, Operierter Leistenbruch rechts, Nabelbruch ohne Beschwerden, Verlust der Gebärmutter, Harnhalteschwäche“), dass diese aber in ihren funktionellen Auswirkungen so gering seien, dass sich Einzel-GdB-Werte von 10 oder höher nicht begründen ließen, so dass der Gesamt-GdB weiterhin 70 betrage.
Die Feststellung des Sachverständigen Dr. M., dass „tagesformabhängig“, allerdings „nicht ständig“ eine Begleitperson zum Hineinheben des Rollators in bzw. Herausheben des Rollators aus öffentlichen Verkehrsmitteln erforderlich sei, ist zudem stimmig zur Angabe des Pflegesachverständigen D., dass „tagesformabhängig eine Sicherheitsbeaufsichtigung der Klägerin beim Gehen und Treppensteigen“ nachvollziehbar sei (s. Tatbestand) sowie zur Angabe der Klägerin selbst am Ende ihres stationären Aufenthalt in der C.-klinik (s. o.), dass sie „je nach Tagesform“ einen unsicheren Gang habe. Die vom Klägervertreter nachträglich gestellte Beweisfrage (s. o.) wird schon im Gutachten selbst beantwortet. Denn die Klägerin ist nach den Feststellungen des Sachverständigen mit ihrer tagesformabhängigen Gangunsicherheit eben nicht regelmäßig auf Hilfe durch eine Begleitperson zur Überwindung von Treppenstufen mit dem Rollator im Zusammenhang mit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und von Stufen in öffentlichen Verkehrsmitteln mit dem Rollator angewiesen, abgesehen davon, dass (worauf das Landessozialgericht Essen in seinem Urteil vom 13. März 2020, L 13 SB 115/18, Rn. 64 juris, schon für das Jahr 2011 abgestellt hat) angesichts verbreiteter, wenn auch nicht flächendeckender, Barrierefreiheit im öffentlichen Personen-Nahverkehr nicht positiv festgestellt werden kann, dass regelmäßig bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Stufen zu überwinden sind.
Außerdem ist der Klagevortrag nicht stimmig zur „Krankheitsspezifischen Anamnese“ im Gutachten des Sachverständigen Dr. M., wonach die Klägerin angegeben hat, durch die stationäre Rehabilitationsbehandlung in der C.-klinik Ende 2019 eine andere, viel bessere Lebensqualität zu haben, als zuvor, als sie häufiger gestürzt sei. Seit sie den Rollator habe, gehe sie auch wieder allein nach draußen, wenn sie „gut drauf“ sei. Zum Neurologen gehe sie eigentlich überhaupt nicht; das sei nicht erforderlich.
Der Sachverständige führt zudem in seinem Gutachten aus, dass zwar der Romberg-Versuch (s. o.) von der Klägerin mit erheblichen Schwankungen demonstriert worden sei, dass aber der Stoß-Test („die Klägerin steht mit geschlossenen Augen und wird von hinten leicht angestoßen“) unauffällig gewesen sei, denn die Klägerin sei in der Lage gewesen, diesen Stoß ohne Ausfallschritt vollständig zu kompensieren. Als positiv zu bewerten sei auch, so der Sachverständige, dass sich beim Romberg-Versuch zwar ein erhebliches Schwanken gezeigt habe, sich indes beim Finger-Nase-Versuch, der ebenfalls im Stehen mit geschlossenen Augen durchgeführt werde, keinerlei Schwanken gezeigt habe. Der Sachverständige schließt daraus, dass „die Funktionsstörung des Kleinhirns durch die bahnenden Impulse weitestgehend zu kompensieren“ sei.
Da nach alledem nicht nachgewiesen ist, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin so verschlechtert hat, dass sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen ist, konnte die zulässige Klage keinen Erfolg haben.
Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG trägt diesem Ergebnis Rechnung.
Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 105 Abs. 2, 143, 144 SGG.