1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35110 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.
2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen erfolgen.
1. Der Beschluss des Beklagten vom 5. August 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt 70% der Gerichtskosten, der Kläger 30%. Der Beklagte trägt 70% der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Gegenstand des Widerspruchsverfahrens sind die Honorarprüfungen für die Quartale I/2015 bis IV/2015 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (nachfolgend: FG) bei der GOP 35110 (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).
Der Kläger ist seit dem 2. Januar 1998 in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nimmt seither an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Das Prüfverfahren wurde von Amts wegen eingeleitet, weil der Kläger mit den angesetzten Leistungen in den geprüften Quartalen über dem Fachgruppendurchschnitt lag. Zunächst stellte die Prüfungsstelle (PS) fest, dass es sich um eine Praxis mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Fallzahl handele bei deutlich überdurchschnittlichem Rentneranteil. Für die GOP 35110 seien in den einzelnen Quartalen bezogen auf alle Fälle der Praxis zwischen 7,80 € je Fall und 10,57 € je Fall abgerechnet worden. Dies entspreche einer Überschreitung zu den ausführenden Ärzten der FG der vollzugelassenen Allgemeinärzte/Hausärztlichen Internisten in Hessen von 500 % bis 700 %. Die verbale Intervention nach GOP 35110 werde in den vier Quartalen des Jahres 2015 insgesamt 1.340-mal angesetzt. Die 1.340 Ansätze seien bei 263 Patienten erfolgt. Insgesamt sei hierfür ein Honorar von 21.145,20€ angefordert worden. Der häufigste Ansatz sei bei der Patientin C. versichert bei der Knappschaft mit 33 x GOP 35110, gefolgt von D. versichert bei der BARMER mit 26 x GOP 35110.
Auch in den Quartalen I/2016 bis IV/2016 seien die Durchschnittswerte der Fachgruppe zwischen 291% und 410% überschritten. Aufgrund eines niedrigeren Gesamtfallwertes bei der GOP 35110 gegenüber 2015 sei aber für 2016 auf die Einleitung eines Prüfverfahrens verzichtet worden.
Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 teilte die PS dem Kläger die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich seiner Leistungserbringung bezogen auf die Leistungsziffer GOP 35110 des EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten.
In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2018 führte der Kläger aus, dass sich eine Praxisbesonderheit aus dem besonderen Patientenklientel ergebe. Der Anteil der Mitbürger in A-Stadt mit Migrationshintergrund liege bei etwa einem Drittel der Bevölkerung. Der Ausländeranteil für A-Stadt belaufe sich auf circa 20-22,9%, was annähernd dem Doppelten des hessischen Anteils von 11,9 % entspreche. Hinzu komme, dass der Stadtteil A-Stadt-G. als sozialer Brennpunkt in A-Stadt gelte. Es liege auf der Hand, dass Bevölkerungsgruppen mit sozialen Problemen am ehesten anfällig für psychosomatische Erkrankungen seien. In diesem Stadtteil habe er bis 2011 seine Praxis gehabt. Daher habe er bis heute viele Patienten aus dem westlichen Teil A-Stadts. Die psychosomatischen Gesprächsziffern rechne er bereits seit seiner Niederlassung im Jahre 1998 ab. Die Versorgungssituation mit psychischen Erkrankungen verschärfe sich noch sehr deutlich dadurch, dass Patienten auf einen Therapieplatz bei einem Psychotherapeuten teilweise über sechs Monate lang warten müssten.
Die PS führte daraufhin im Bereich der psychosomatischen Versorgung Prävalenzprüfungen bei der GOP 35110 EBM gemäß den ICD-Verschlüsselungen durch. Nach § 22 Abs. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Durchführung der Psychotherapie (a. F.) sein die Indikationen zur Anwendung von Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung die ICD-Verschlüsselungen F32, F33, F34.1, F40-F45, F50-F52, F60-F69, F90-F98. Als Ergebnis dieser Prüfung sei ein Mehransatz gegenüber der FG festgestellt worden und Praxisbesonderheiten zwischen +79 % und ±114% zum Fachgruppendurchschnitt für die GOP 35110 EBM anerkannt worden. Neben der Prävalenzprüfung in allen Quartalen nahm die PS im Rahmen ihrer intellektuellen Prüfung eine orientierende Durchsicht der Behandlungsscheine vor und stellte fest, dass relativ wenige Fälle (29 in I/2015) keine Diagnosen aus § 22 Abs. 1 der Psychotherapie-Richtlinie (a. F.) enthielten.
Die PS errechnete ein finanzielles Ausmaß der Unwirtschaftlichkeit in Höhe von 14.693,94 € brutto. Im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens erkannte sie gegenüber dem durchschnittlichen Fallwert der FG nicht nur +20% (Streubreite), sondern +100% an.
Mit Bescheid vom 28. November 2018 setzte die PS hinsichtlich der GOP 35110 EBM eine Kürzungsmaßnahme in Höhe von 12.270,80 € (brutto) vor Quotierung für die Quartale I/2015 bis IV/2015 fest. Dies entspreche einer Honorarkürzung netto von insgesamt 11.193,88 €.
Mit seinem Widerspruch vom 21. Dezember 2018 beanstandete der Kläger die statistische Vergleichsgrundlage. Im Bescheid stehe, dass der Vergleich mit der Prüfgruppe 101-33 erfolgt sei. Es handele sich dabei um vollzugelassene Allgemeinärzte / hausärztliche Internisten in Hessen, nicht nur um diejenigen, die auch die GOP 35110 EBM abrechnen dürften. Der Kläger wendete sich zudem gegen die unzureichende Anerkennung bzw. die quantitative Feststellung von Praxisbesonderheiten. Nah der Rechtsprechung des SG Marburg sei zu berücksichtigen, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt werde, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit — die gerade keinen Fallbezug aufweise — richte. Dies führe unter der Prämisse, dass die GOP 35100 und 35110 EBM jeweils mehrfach im Quartal abrechnungsfähig seien, dazu, dass der aufgrund der Prävalenzprüfung festgestellte Mehrversorgungsgrad keinen unmittelbaren Rückschluss auf die im Rahmen der Prüfung einer Praxisbesonderheit zuzubilligenden Ansatzhäufigkeit der streitgegenständlichen GOP ermögliche. Vielmehr sei für einen derartigen Rückschluss zusätzlich zu ermitteln, inwiefern in jedem Quartal Vielfachansetzungen der streitgegenständlichen GOP erfolgt seien. Diese könnten prozentual den durch die Prävalenzprüfung bereits ermittelten Überschreitungsbetrag noch erhöhen. Die Mehrfachabrechnungen seien im fallbezogenen Mehrversorgungsgrad nach der Prävalenzprüfung aber nicht erfasst.
Mit Beschluss vom 5. August 2021 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und wies darauf hin, dass vorliegend der Vergleich der GOP 35110 EBM mit den Praxen der Vergleichsgruppe des Klägers (vollzugelassene Allgemeinärzte/Hausärztlichen Internisten) erfolgt sei.
Die ICD-Codierungen würden in der Prävalenzprüfung nicht fallbezogen ausgewertet, sondern es wird ihre Häufigkeit pro Quartal erfasst. Somit können sich mehrere F-Diagnosen, die bei einem Patienten codiert seien, in der Auswertung auch mehrfach niederschlagen. Damit werde, genau wie bei der Auswertung der GOP, die Ansatzhäufigkeit insgesamt erfasst. Damit trage das Argument der fallbezogenen Prävalenzprüfung nicht.
Mehrfachansätze der GOP 35110 EBM bei einem Patienten in einem Quartal rechtfertigten keine höhere Prävalenz. Zum einen würde es damit zu der Situation kommen, dass für den Kläger die mehrfache Abrechnung der GOP 35110 EBM bei einem Patienten vorteilhafter wäre, als die einzelne Abrechnung bei mehreren Patienten. Zum anderen werde in die Prävalenzprüfung jeder Patient mit einer anerkannten F-Diagnose nach § 22 der Psychotherapie-Richtlinie (a. F.) einbezogen, somit auch Patienten, bei denen die GOP 35110 EBM überhaupt nicht angesetzt worden sei. Dies erhöhe die Prävalenz. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 10. Mai 2000, B 6 KA 25/99) stelle ein hoher Anteil von Patienten mit Migrationshintergrund keine Praxisbesonderheit dar, weil hieraus kein spezieller Versorgungsbedarf abgeleitet werden könne. Es gebe keinen Erfahrungssatz, dass bei Migranten generell ein erhöhter Behandlungsbedarf bestehe. Zahlreiche Migranten, die schon lange in Deutschland lebten, seien integriert und unterschieden sich im Krankheitsverhalten deshalb nicht von anderen Patienten.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 7. September 2021 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage.
Der Kläger wendet sich insbesondere dagegen, dass die Beklagte als Vergleichsmaßstab die fallbezogene Ansatzhäufigkeit ohne fallbezogene Prävalenzprüfung gewählt habe. Das sei, wie gerichtlich mehrfach festgestellt, rechtswidrig. Die Auffassung des Beklagten, Mehrfachansätze der GOP 35110 EBM bei einem Patienten rechtfertigten keine höhere Prävalenz, sei unzutreffend. Denn eine patientenfallbezogene Betrachtung werde verfälscht, wenn die Mehrfachansetzung einer GOP bei einem Patienten so gewertet werde, als sei diese bei einer höheren Patientenanzahl angesetzt worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 05.08.2021 abzuändern und die darin ausgesprochene Honorarkürzung wegen Unwirtschaftlichkeit für die Quartale I-IV/2015 aufzuheben;
hilfsweise,
unter Abänderung des Bescheids des Beklagten vom 05.08.2021 diesen zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er nimmt auf die Gründe seines Beschlusses Bezug und trägt ergänzend vor, dass der Mehrfachansatz der GOP 35110 EBM bei einem Patienten werde in der Prävalenzberechnung nicht berücksichtigt, da dieser keine höhere Prävalenz begründen könne. Die Prävalenzprüfung habe im Quartal I/2015 den Ansatz von 214 F-Diagnosen bei 147 Patienten mit Ansatz der GOP 35110 EBM ergeben. Somit seien durchschnittlich 1,45 F-Diagnosen pro Patient codiert und auch anerkannt worden. Im Quartal II/2015 seien es 236 F-Diagnosen bei 156 Patienten, somit 1,51 Diagnosen pro Patient gewesen. In den Quartalen III/2015 und IV/2015 hätten die Werte bei 2,01 (258 Diagnosen bei 128 Patienten) und 2,4 (264 Diagnosen bei 110 Patienten) gelegen. Würde eine Vielfachansetzung der GOP 35110 EBM in der Prävalenzberechnung berücksichtigt und die Prävalenzen dadurch erhöht, würden zwei Bewertungssysteme miteinander vermischt werden. Die Prävalenzprüfung hinsichtlich der ICD-Codierungen würde fallübergreifend und die Prüfung der Ansätze der GOP 35110 EBM fallbezogen erfolgen.
Der Kläger bringe die patientenfallbezogene Prüfung der GOP 35110 EBM ein, da er durch diese Auswertung auf geringere Überschreitungswerte bzw. höhere Prävalenzen hoffe. Die Prävalenzprüfung würde bei einer Berücksichtigung der Mehrfachansätze der GOP 35110 EBM nur auf Faktoren abstellen, die sich zugunsten des Klägers auswirkten. Als Ausgleich müsste die Prävalenzprüfung insgesamt fallbezogen durchgeführt werden, sodass ICD-Codierungen ebenfalls nur einmal pro Patient und Quartal gewertet werden könnten. Dadurch würden die Prävalenzen im Bereich der F-Diagnosen deutlich sinken. Im Ergebnis glichen sich diese Faktoren wohl aus.
Die Ansatzhäufigkeit der GOP müsse bei der Berechnung der Überschreitungswerte zugrunde gelegt werden, da es dem Vertragsarzt sonst möglich wäre, die GOP bei Patienten beliebig häufig anzusetzen, ohne Konsequenzen in der Wirtschaftlichkeitsprüfung befürchten zu müssen.
Die Darlegungs- und Nachweislast hinsichtlich einer wirtschaftlichen Behandlungsweise liege beim Arzt. Er muss das Vorliegen von besonderen, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigenden Umstände, die für die zum Vergleich herangezogene Fachgruppe untypisch seien, darlegen und nachweisen.
Dass eine hoher Migrationsanteil im Patientenklientel keine Praxisbesonderheit zu begründen vermöge, sei vom SG Marburg bereits entschieden worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Die Kammer hat in der Besetzung mit einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.
Die Klage ist zulässig.
Gegenstand des Verfahrens ist nur der Beschluss des Beklagten, nicht auch der der PS. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.
Die Klage ist auch überwiegend begründet.
Der Beschluss des Beklagten vom 5. August 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und obsiegt insoweit.
Im Übrigen – im Hinblick auf den Hauptantrag – war die Klage abzuweisen.
Soweit sowohl aus dem Bescheid der Prüfungsstelle als auch aus dem streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten die der Berechnung zugrunde gelegte nicht eindeutig hervorgeht, begründet dies erhebliche Zweifel der Kammer an der ordnungsgemäßen Begründung der Bescheide nach den Vorgaben von § 35 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Im Rahmen der – infolge von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der Gremien eingeschränkten – sozialgerichtlichen Überprüfung ist nämlich erforderlich, dass zumindest die zutreffende Anwendung der einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe im Einzelfall erkennbar und auch nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 16.7.2003, B 6 KA 14/02 R). Die PS und auch der Beklagte nennen in ihren Bescheiden die Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinmediziner/hausärztlich tätige Internisten). Der Beklagte führt dann weiter aus, dass nur die „ausführenden“ Ärzte der Prüfgruppe in die Betrachtung einbezogen worden seien. Dies genügt den Anforderungen des § 35 SGB X, wenn auch eine deutlichere Darstellung zur Vermeidung von Missverständnissen wünschenswert erscheint.
Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt – Vertragsarzt – die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (§ 12 Abs. 1 SGB V) nicht erbringen.
Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV).
Der Beklagte hat vorliegend – entgegen der Auffassung des Klägers – im Rahmen seiner Zuständigkeit auch eine Wirtschaftlichkeitsprüfung und keine Abrechnungsprüfung durchgeführt.
Die durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) durchzuführende Abrechnungsprüfung beziehungsweise sachlich rechnerische Richtigstellung ist auf die Übereinstimmung der vertragsärztlichen Abrechnung mit dem Regelwerk des EBM und der Honorarverteilungsregelungen sowie auf die Korrektheit der Abrechnung bezogen auf die Leistungserbringung und ihrer Zuordnung zu den Leistungspositionen des EBM gerichtet. Ein Unterfall der Abrechnungsprüfung ist auch die fehlende ICD Kodierung. Die Abrechnungsprüfung unterscheidet sich von der Wirtschaftlichkeitsprüfung, die für korrekt erbrachte und zugeordnete Leistungen deren medizinische Notwendigkeit und Effizienz auch im Verhältnis zu alternativen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden prüft (Hess: in Kasseler Kommentar, 80. EL 2013 § 106a, Rn. 4). Die Wirtschaftlichkeitsprüfung beinhaltet die Prüfung, ob die abgerechneten Leistungen ausreichend, zweckmäßig, für die Erzielung des Heilerfolgs notwendig und wirtschaftlich waren und ob das Maß des Notwendigen überschritten wird (Hess: in Kasseler Kommentar 101. EL 2018 § 106, Rn. 3). Regelmäßig ist die sachlich-rechnerische Richtigstellung durch die KVen vorrangig. Denn eine Honorarforderung eines Arztes kann nur dann sinnvoller Weise auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft werden, wenn sie sachlich-rechnerisch richtig und rechtmäßig ist. Honorarforderungen für fehlerhaft erbrachte Leistungen unterfallen nicht der Wirtschaftlichkeitsprüfung (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R).
Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind die Prüfgremien, die Prüfungsstelle und dann der Beklagte zuständig. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung erkennt das BSG eine so genannte Annexkompetenz der Prüfgremien zur Durchführung von sachlich-rechnerischen Honorarberichtigungen an. Diese ist nach der Rechtsprechung aber nur dann gegeben, wenn sich die Notwendigkeit der sachlich-rechnerischen Richtigstellung im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nachträglich ergibt und der Frage der Berechnungsfähigkeit einer Leistung im Verhältnis zur Wirtschaftlichkeit keine so überragende Bedeutung zukommt, dass eine Abgabe an die KV geboten wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2005, B 6 KA 39/04 R). Wenn der Schwerpunkt der Beanstandungen bei einer fehlerhaften Anwendung der Gebührenordnung liegt, müssten die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung das Prüfverfahren abschließen und der KV Gelegenheit geben, eine sachlich-rechnerische Richtigstellung durchzuführen (BSG, Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R). Die Prüfungseinrichtungen müssen im Umkehrschluss bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung davon ausgehen, dass der Vertrags(zahn)arzt die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht hat, und diese Leistungen ihrer Beurteilung zugrunde legen (vgl. BSG, Urt. v. 28. Oktober 1992 - 6 RKa 3/92). Eine sachlich-rechnerische Berichtigung der Honorarabrechnung hat der Wirtschaftlichkeitsprüfung nur dann zwingend vorauszugehen, wenn es sich um Abrechnungsunrichtigkeiten handelt, die offenkundig und aus den Behandlungsunterlagen ohne weiteres zu ersehen sind. Eine scharfe Trennung zwischen Wirtschaftlichkeitsprüfung und Abrechnungskontrolle ist weder praktisch durchführbar noch rechtlich geboten (vgl. BSG, Urt. v. 9. März 1994, 6 RKa 18/92; so auch SG Marburg, Urteil vom 27. März 2019, S 17 KA 71/18). Im Einzelfall können sich daher Überlappungen bzw. konkurrierende Zuständigkeiten der Prüfgremien und der KV ergeben, je nachdem, ob aus der fehlenden oder unzureichenden Dokumentation auf den fehlenden Nachweis der Leistungserbringung oder auf die Unwirtschaftlichkeit geschlossen wird. Dies gilt auch für Qualitätsmängel der Leistung, die jedenfalls auch zur sachlich-rechnerischen Berichtigung berechtigen (vgl. Clemens in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 106d SGB V, Rdnr. 169 ff.). Im Rückgriff auf die genannte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Grenze der Prüfgremien für die Annahme einer vollständigen Leistungserbringung in den Fällen zu ziehen, in denen es sich um offenkundige, aus den Behandlungsunterlagen ohne weiteres zu ersehende Abrechnungsunrichtigkeiten handelt, die keines vertiefenden Prüfaufwands bedürfen. In diesen Fällen ist eine ausschließliche Zuständigkeit der KV gegeben, soweit sich die Prüfgremien nicht auf eine Randzuständigkeit (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 18. August 2010, B 6 KA 14/09 R) berufen können.
Diese Vorgaben beachtet, hat der Beklagte eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgeführt, da er die Honorarkürzung auf das seiner Ansicht nach bestehende Missverhältnis zwischen Indikationen nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie in der Fassung vom 19. Februar 2009 (PT-RL) und abgerechneter Leistungsmenge bei der GOP 3110 EBM stützt. Insoweit ist auch in der Rechtsprechung zur Wirtschaftlichkeitsprüfung in der zahnärztlichen Versorgung anerkannt, dass die Prüfung der Übereinstimmung der Leistungen mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der Wirtschaftlichkeitsprüfung unterliegt (vgl. Hess: in Kasseler Kommentar, 80. EL 2013 § 106, Rn. 5f, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31. August 2011, L 7 KA 157/07). Dies gilt auch für die Prüfung der Voraussetzungen der PT-RL (SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18).
Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt.
Vorliegend hat der Beklagte den Kläger mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden, soweit diese die GOP 35110 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden.
Auch bestand keine vorrangige Beratungspflicht (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 2010, B 6 KA 37/08 R).
Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen.
Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat der Kläger in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.
Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.
Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).
Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit des Klägers anerkannt.
Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des „Ob“ der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden.
Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat.
Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen.
Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel des Klägers aus und ermittelt die Praxisbesonderheit auch quartalsweise.
Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch – worauf der Kläger völlig zu Recht hinweist – nicht 1:1 möglich. Soweit der Beklagte die Praxisbesonderheit ausschließlich in Bezug auf eine im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Diagnosehäufung bei der GOP 35110 EBM stützt, ist dies zur Überzeugung der Kammer zu beanstanden.
Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15). Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Nicht berücksichtigt wird hingegen die Anzahl der pro Diagnose abgerechneten GOP. Dies führt dazu, dass die Prävalenzwerte in zwei Richtungen eine Unschärfe aufweisen. Einerseits werden Patienten mit einer Diagnosehäufung (von zwei und mehr F-Diagnosen) mehrfach erfasst. Andererseits werden Mehrfachabrechnungen der Ziffer – bei nur einer Diagnose – nicht erfasst. Es ist davon auszugehen, dass diese Streubreite grundsätzlich in der gesamten Vergleichsgruppe vertreten ist, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass – gerade in Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – aufgrund der Schwere der dort behandelten Erkrankungen eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungsziffern auftritt, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt ist. Insofern hält die Kammer an der Auffassung fest, dass der Wert der Prävalenzen ein bedeutender Orientierungswert für das Ausmaß einer Praxisbesonderheit ist, keinesfalls aber für die betroffenen Kläger*innen der Weg verschlossen ist, darüberhinausgehend eine überdurchschnittliche Abrechnungshäufigkeit zu belegen.
Dass die Betrachtung des Beklagten unscharf ist, belegt gerade die klägerische Praxis exemplarisch. Die Prüfgremien haben selber festgestellt, dass nahezu jeder Patient/jede Patientin mit einer F-Diagnose kodiert wurde. Dies zu hinterfragen erscheint sinnvoll, ist jedoch nicht Aufgabe der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Unter den von der Beklagten getroffenen Prämissen der Prävalenzprüfung, dass das Vorliegen einer F-Diagnose die Abrechnung der GOP 35110 EBM rechtfertigt, ist eine Regressierung des Klägers in diesem Zusammenhang denklogisch ausgeschlossen.
Darüber hinaus haben die Prüfgremien ermittelt, dass der Kläger bei einzelnen Patient*innen in einem Quartal exemplarisch 33x bzw. 26x die GOP 35110 EBM zum Ansatz gebracht hat. Diese Extremwerte verzerren einen Vergleich.
Zur Überzeugung kann eine Vergleichbarkeit mit der Fachgruppe nur dann hergestellt werden, wenn sowohl bei der Ermittlung der F-Diagnosen als auch bei der Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 patientenbezogen vorgegangen wird. So lassen sich die Unschärfen, die sowohl durch eine Häufung von F-Diagnosen bei einzelnen Patient*innen auftreten als auch durch eine Mehrfachabrechnung bei einzelnen Patient*innen auftreten vollständig vermeiden.
Dass sich diese Faktoren im Ergebnis „wohl“ ausgleichen – wie der Beklagte vorträgt – erscheint der Kammer zwar möglich, ist jedoch eine nicht belegte Hypothese, die insofern für eine hinreichende Ermessensausübung nicht genügt.
Grundsätzlich hält die Kammer zudem an ihrer Rechtsprechung (Urteil vom 19. Juni 2019, S 17 KA 409/17) dahingehend fest, dass es an einer Vorschrift fehlt, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35110 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35110 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor.
Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:
„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“
Die hier streitige Leistung der GOP 35110 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Es erscheint zur Überzeugung der Kammer denkbar, dass die GOP 35110 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatienten angesetzt wird. Beispielhaft kommt dies auch im Rahmen der Reproduktionsmedizin in Betracht (vgl. Urteile vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18 und S 17 KA 13/18). Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen.
Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische
Hingegen vermag die Kammer eine Praxisbesonderheit aufgrund eines hohen Migrationsanteils im Patientenklientel des Klägers nicht anzuerkennen (vgl. SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 12. Juni 2020, S 17 KA 548/16). Sofern der Vortrag des Klägers zutrifft, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland deutlich häufiger unter psychischen Erkrankungen als der Bevölkerungsdurchschnitt leiden, so wäre diesem Umstand durch die von der Beklagten durchgeführte Prävalenzprüfung bereits vollumfänglich Rechnung getragen worden. Denn gerade mit dieser Prüfung hat sie die Patienten mit psychischen Erkrankungen als Praxisbesonderheit des Klägers erfasst.
In nicht zu beanstandender Weise hat der Beklagte auch kompensatorische Ersparnisse verneint. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann ein Mehraufwand in einem Bereich der ärztlichen Behandlung/Verordnung nur dann durch anderweitige Einsparungen als kompensiert angesehen werden, wenn belegt bzw. nachgewiesen ist, dass gerade durch den Mehraufwand die Einsparungen erzielt werden und dass diese Behandlungsart medizinisch gleichwertig sowie auch insgesamt kostensparend und damit wirtschaftlich ist (BSG, Urteil vom 28. Januar 1998 - B 6 KA 69/96 R).
Nach alledem musste die Klage überwiegend Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Buchst. a SGG i.V.m. § 154 VwGO. Die Kostenquote hat das Gericht auf der Grundlage des Verhältnisses des Obsiegens/Unterliegens nach Ermessen ermittelt.
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Berichtigungsbeschluss
Das Urteil der Kammer vom 16. November 2022 wird auf Antrag des Beklagten vom 12. Januar 2023 wie folgt gemäß § 138 S. 1 SGG wegen offenbarer Unrichtigkeit berichtigt:
1. Auf Seite 14 wird der erste Satz des letzten Absatzes mit dem Verb „richtet“ vervollständigt. Der vollständige Absatz lautet nunmehr wie folgt: Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15) – richtet.
2. Auf Seite 17 wird der zweite Absatz mit den Worten „Grundversorgung bestand, substantiiert darzulegen.“ Der vollständige Absatz lautet nunmehr wie folgt: Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, substantiiert darzulegen.
Gründe
Nach § 138 SGG sind offenbare Unrichtigkeiten im Urteil durch Beschluss zu berichtigen. Bei beiden von dem Beklagten vorgetragenen Beanstandungen des Urteils der Kammer vom 16. November 2022 handelt es sich um solche offenbaren Unrichtigkeiten. In Nr. 1 des Beschlusses wurde das offenkundig fehlende Verb ergänzt.
Auch die zweite Beanstandung beruht auf einer offenbaren Unrichtigkeit. Die vorgenommene Ergänzung entspricht dem Wortlaut der Entscheidung S 17 KA 476/17, aus der der Absatz entnommen wurde. Es handelt sich insofern um einen offensichtlichen „copy-paste-Fehler“.