I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2018 verurteilt, beim Kläger auf dessen Antrag vom 29.05.2018 die Kosten für Cannabinoide zu erstatten bzw. zu übernehmen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Der Kläger begehrt die Kostenübernahme für Cannabisblüten der Sorten Bedrocan und Green.
Der am XX.XX.XXXX geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich gegen Krankheit versichert. Mit am 29.05.2018 gesandten Schreiben beantragte der Kläger die Kostenübernahme für die Behandlung mit cannabishaltigen Medikamenten.
Unter dem 08.06.2018 wurde vom behandelnden Arzt des Klägers, Dr. E., der Arztfragebogen zu Cannabinoiden übersandt. Darin wird ausgeführt, die Behandlung solle aufgrund eines chronischen Schmerzsyndroms (abdominell) und Reizmagen erfolgen. Ziel sei die Schmerzreduktion sowie der Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Es beständen anhaltende Schmerzen sowie eine Einschränkung der Lebensqualität. Die Behandlung mit Sertralin habe wegen Nebenwirkungen abgesetzt werden müssen. Opiate würden zu Obstipation und zu einer Verschlimmerung der abdominellen Beschwerden führen. Cannabis sei auf Privatrezept verordnet worden bei gutem Ansprechen ohne Nebenwirkungen. Beigefügt waren fachärztliche Befundberichte.
Die Beklagte beteiligte den medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Dieser führte unter dem 13.06.2018 aus, dass sich eine schwerwiegende Erkrankung aus den vorliegenden Unterlagen bei Angabe von chronischen abdominellen Schmerzen unklarer Ursache nicht nachvollziehen lasse. Weiterhin würden Therapie und Diagnostik bisher nicht ausreichend erfolgt erscheinen. Empfohlen werde eine multimodale Schmerztherapie, ggf. gastroenterologische Reha sowie fachärztliche Mitbehandlung durch einen Facharzt für Gastroenterologie.
Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14.06.2018 den Antrag des Klägers ab.
Am 20.06.2018 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch.
Er teilte in der Folgezeit mit, dass er sich seit über 7 Jahren in dauerhafter Behandlung bei verschiedenen Gastroenterologen befinde, wobei alle Behandlungsmethoden/Medikamentationen, die in Frage kämen, getestet worden seien. Eine Ursache für die stark ausgeprägte Fructose- und Sorbitintoleranz und den Reizmagen mit dem daraus resultierenden chronischen Schmerzsyndrom seien nicht gefunden worden.
Mit Bescheid vom 30.10.2018 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers unter Zugrundelegung der Stellungnahme des MDK zurück. Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 30.11.2018 erhob der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht Nürnberg.
Der Kläger beantragt
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2018 zu verurteilen, beim Kläger auf dessen Antrag vom 29.05.2018 die Kosten für Cannabinoide zu erstatten bzw. zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.
Das Gericht forderte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers an. Danach erhob es Beweis durch ein internistisches Sachverständigengutachten durch Dr. D..
Dieser führte im Gutachten vom 01.06.2019 aus, der Kläger schildere seine Beschwerden wie folgt: Grundproblem sei sein komplett verkrampfter Magen-Darm-Bereich. Er leide gehäuft unter Durchfall und Übelkeit sowie Appetitlosigkeit. Minimal habe er nur noch 51kg gewogen. Nach seiner Einschätzung sei er so auch nicht arbeitsfähig. Er komme - wenn die Beschwerden ganz schlimm seien - gar nicht aus dem Bett und leide unter ständigem Stuhldrang. Versucht habe er verschiedenste Medikamentationen (Sab simplex, Buscopan plus, Ibuprofen, verschiedenste Darmaufbaukuren etc.). Sertralin habe wegen Panik, Herzrasen etc. wieder abgesetzt werden müssen. Opiate seien von den Behandlern immer wieder abgelehnt worden. Auch habe er diese Substanzgruppe wegen der schlechten Erfahrungen als Jugendlicher (Entzugssymptomatik) nicht erneut einsetzen wollen.
Seit zwei Jahren sei er bei seinem aktuellen Hausarzt in Behandlung. Dort sei über den Einsatz von medizinischem Cannabis gesprochen worden. Seit über einem Jahr nutze er dies nun inhalativ auf Privatrezept und habe hierunter eine massive Verbesserung seiner Problematik erfahren. Appetitlosigkeit und Übelkeit hätten abgenommen. Er habe so gut wie keine Durchfälle mehr.
Gutachterlicherseits stelle das Reizdarmsyndrom ohne jeden Zweifel eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Gesundheitsstörung dar. Insbesondere die beständigen krampfartigen abdominellen Schmerzen sowie die postprandial imperativen Stuhlentleerungen würden beim Kläger zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität führen.
Die Behandlung des Reizdarmsyndroms stelle bekanntermaßen ein großes medizinisches Dilemma dar. Den meisten Patienten könne durch die derzeit zur Verfügung stehenden Präparate allenfalls ansatzweise geholfen werden. Die üblicherweise eingesetzten Substanzklassen (Prokinetika, Antidiarrhoika, Analgetika, Quellmittel, Psychopharmaka, Probiotika, etc.) habe der Kläger sämtlich ohne hinreichende Besserung versucht. Betreut worden sei er hierbei von mehreren gastroenterologischen Praxen. Auch habe eine schmerztherapeutische Begleitung stattgefunden. Allerdings hätten mehrere Präparate nicht nur wegen Ineffektivität sondern nebenwirkungsbedingt wieder abgesetzt werden müssen. Psychopharmaka hätten zu Panikattacken und Palpitationen geführt, Opiate zu relevanter Obstipation. Insofern könne der Einschätzung des MDK nicht zugestimmt werden, dass im vorliegenden Fall noch relevanter diagnostischer bzw. therapeutischer Nachholbedarf bestünde. Vielmehr sehe der Gutachter die klassischen therapeutischen Optionen als ausgeschöpft an.
Die derzeit gültige nationale Leitlinie zum Reizdarmsyndrom stamme aus dem Jahr 2009 und werde derzeit überarbeitet. Entsprechend seien Aussagen zu medizinischem Cannabis noch nicht enthalten. Es würden jedoch aktuell kleinere Studien und Fallberichte existieren, die teils extrem günstige Wirkungen von medizinischem Cannabis insbesondere auf die krampfartigen Bauchbeschwerden bei Reizdarmpatienten zeigen würden. Vor diesem Hintergrund sei damit zu rechnen, dass die Fachgesellschaften in der zu erwartenden Neufassung auch diese Option (günstig) bewerten würden.
Die Beklagte beteiligte nochmals den MDK.
Dieser führte unter dem 03.09.2019 aus, dass bereits nicht nachgewiesen sei, dass eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliegen würde. Darüber hinaus sei jedoch auch nicht nachgewiesen, dass die klassischen Therapieoptionen ausgeschöpft seien. An bisherigen Therapien seien dokumentiert die Arzneimittel Ibuprofen, Pantoprazol und Sertralin, wobei für letzteres in den Unterlagen keine konkrete Indikation angegeben worden sei. Nach einmaliger Verordnung sei die Therapie wegen Nebenwirkungen abgebrochen worden. Über nichtmedikamentöse Behandlungsmethoden der offenbar nichtorganischen Beschwerden fänden sich keine Informationen, sie wären jedoch angesichts der ableitbaren psychosomatischen Komponente zu empfehlen. Der Kläger habe sich einmal in einer Schmerztherapie-Praxis vorgestellt, hier sei zu einer Opiat-Therapie geraten worden, die der Versicherte jedoch ablehne.
Die Datenlage zur Anwendung von Cannabinoiden bei funktionellen Magen-Darm-Beschwerden ergebe keine Hinweise, die im Sinne einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. schwerwiegende Symptome interpretiert werden könnten.
Das Gutachten nenne kleiner Studien und Fallberichte. Positive Berichte über Einzelfälle oder in kleinen Fallzahlen würden praktisch für jede Erkrankung existieren, bei der probatorisch Cannabis angewandt worden sei. Die Ergebnisse würden meist subjektive Eindrücke der Cannabispatienten wiedergeben.
In der Folgezeit machte die Vorsitzende den Fachaufsatz "Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabinoiden in der Gastroenterologie" (Der Schmerz 2016, S. 37-46) zum Gegenstand des Verfahrens und bat Dr. D. um ergänzende Stellungnahme unter Berücksichtigung der Stellungnahme des MDK sowie des o.g. Fachaufsatzes.
Dieser führte unter dem 13.04.2020 aus, dass der Kläger vor der aktuellen Untersuchung unter beständigen krampfartigen Abdominalschmerzen gelitten habe, er habe schwere, imperative Durchfälle gehabt und sei auf minimal 51kg abgemagert gewesen (bei einer Körpergröße von 165cm). Nach seiner gutachterlichen Einschätzung seien hier die Voraussetzungen für eine schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig auf Dauer beeinträchtigende Erkrankung ohne jeden Zweifel gegeben. Der MDK-Gutachter irre, wenn er (in Folge des fehlenden persönlichen Klägerkontakts) in diesem Zusammenhang von unspezifischen Bauchbeschwerden spreche.
Zur Ausgeschöpftheit der vorhandenen, gängigen Therapieoptionen sei zu sagen, dass neben den bei der Krankenkasse ersichtlichen Medikamenten selbstverständlich auch noch jede Menge OTC-Medikamente zum Einsatz gekommen seien. Eine antidepressive medikamentöse Therapie sei nicht vertragen worden (Palpitationen auf die Einnahme von Sertralin), eine Opiattherapie sei sowohl von den Behandlern als auch vom Kläger nachvollziehbar kritisch gesehen worden.
Schließlich gelte es noch, die derzeitige wissenschaftliche Evidenz zum Einsatz von Cannabinoiden in der Gastroenterologie zu diskutieren. Die aktuell gültige S3-Leitlinie der DGVS zum Thema Reizdarmsyndrom datiere aus dem Jahr 2011 und enthalte naturgemäß noch keine Aussage zu medizinischem Cannabis. Diese werde jedoch derzeit bearbeitet. Insofern könne nur auf kleinere Studien und Beobachtungen zurückgegriffen werden. In der Übersichtsarbeit von Volz et al. (Anmerkung: der o.g. Fachaufsatz) werde über drei kleinere Studien berichtet, von denen in zwei Studien kein positiver Effekt gesehen habe werden können. In der Studie mit der größten Patientenzahl (75) habe durchaus ein positiver Aspekt auf das diarrhoedominante Reizdarmsyndrom gezeigt werden. Dies veranlasse den Autor dazu, keine Empfehlung für Cannabinoide beim Reizdarmsyndrom auszusprechen, sondern "methodisch hochwertige Studien mit ausreichender Patientenzahl und Studiendauer" zu fordern.
In der Einzelfallbetrachtung des Klägers habe sich unter Cannabis-Einsatz eine extrem positive Entwicklung des Krankheitsbildes gezeigt. Insofern sehe der Gutachter weiterhin keinen Grund, von der bisher geäußerten gutachterlichen Meinung abzuweichen.
Mit Schreiben vom 29.05.2020 wurden die Beteiligten zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid gem. § 105 SGG zu entscheiden, angehört.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Das Gericht konnte durch Gerichtsbescheid gem. § 105 SGG entscheiden, weil die Sache keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden vorher gehört (§ 105 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Der Bescheid der Beklagten vom 20.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Dem Kläger steht ein Anspruch auf Kostenübernahme der Behandlung mit Cannabis zu.
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V.
Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Es ist davon auszugehen, dass der Kläger unter einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V leidet.
Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung wird in § 31 SGB V nicht definiert. Auch die Gesetzesbegründung verhält sich hierzu nicht. Ihr kann nur entnommen werden, dass der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln in "eng begrenzten Ausnahmefällen" gegeben sein soll (Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 18/8965 S. 2 und S. 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung eingeführt worden ist, erscheint es sachgerecht, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung ebenso wie den in § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V beim sogenannten Off-Label-Use verwendeten Erkrankungsbegriff zu verstehen (s. LSG Thüringen, Beschluss vom 10.11.2017 - L 6 KR 1092/17 B ER -). Auch bei dieser Bestimmung geht es um die Verwendung von Arzneimitteln als Alternative zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten, ohne dass bereits ausreichendes wissenschaftliches Erkenntnismaterial in Bezug auf einen Wirksamkeitsnachweis zur Verfügung steht. Es muss sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R -; Urteil vom 08.11.2011 - B 1 KR 19/10 R -; Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R -).
Die Vorsitzende folgt hier den nachvollziehbaren Ausführungen Dr. D., der den Kläger persönlich untersucht und seine Einschätzung in der ergänzenden Stellungnahme vom 13.04.2020 nochmals bekräftigt hat. Abzustellen ist hier vor allem auf die imperativen Durchfälle, die den Kläger in seiner Lebensführung sicher massiv einschränken. Deren Vorhandensein wird bekräftigt durch die Gewichtsabnahme, der BMI des Klägers bewegt sich mittlerweile an der Grenze zum Untergewicht (18,7 kg/m²). Die Stellungnahmen und Berichte der behandelnden Ärzte bestätigen dies.
Da Standardtherapien für diese Erkrankung generell zur Verfügung stehen, ist nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V erforderlich, dass diese im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands des Versicherten nicht zur Anwendung kommen können. Dabei verweist schon die Gesetzesbegründung darauf, dass ein Versicherter nicht langjährig schwere Nebenwirkungen ertragen muss, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden kann (Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 18/8965 S 24). Mit der Einfügung des Buchst. b) im Gesetzgebungsverfahren sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass auch dann von fehlenden Behandlungsalternativen auszugehen ist, wenn im konkreten Fall zwar abstrakt noch andere dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen in Erwägung gezogen werden können, der behandelnde Vertragsarzt im konkreten Fall aber zu der begründeten Einschätzung kommt, dass diese anderen Maßnahmen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen können (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drucks. 18/10902 S. 19 und Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 18/8965 S. 24). Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche, konkret zu erwartenden Nebenwirkungen der Standardtherapie und Nebenwirkungen der Cannabinoidtherapie (BT-Drucks. 18/10902 S. 19; BT-Drucks. 18/8965 S. 24; vgl. auch hierzu LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.10.2018 - L 11 KR 3114/18 ER-B -).
Diesen Maßstäben genügt der vom Facharzt unterzeichnete Antrag vom 06.06.2018. Der Behandler setzt sich mit den Alternativen auseinander und führt aus, dass diese jeweils relevante Nebenwirkungen hervorgerufen haben, insbesondere Opiate, durch welche sich die bestehenden abdominellen Beschwerden des Klägers noch verstärkt haben.
Der gerichtlich bestellte Gutachter, der selbst eine besondere Expertise auf dem Gebiet der Gastroenterologie besitzt, führt zu den Standardtherapien noch aus, dass die Behandlung des Reizdarmsyndroms bekanntermaßen ein großes medizinisches Dilemma darstelle. Den meisten Patienten könne durch die derzeit zur Verfügung stehenden Präparate allenfalls ansatzweise geholfen werden.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Erläuterung des Behandlers plausibel, dass dem Kläger hierdurch nicht in ausreichendem Umfang habe geholfen werden können. Für die Vorsitzende ist es auch nachvollziehbar, wenn Dr. D. darauf hinweist, dass es sich bei den einzusetzenden Präparaten oft um OTC-Präparate handelt, die in den Leistungsübersichten der Krankenkasse nicht aufgeführt werden. Daraus kann nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass Behandlungen überhaupt nicht ausprobiert worden sind.
Schließlich besteht auch "eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome" i.S.v. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V.
Erforderlich ist hierfür eine "Mindestevidenz", das bedeutet, es müssen erste wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die die Schlussfolgerung zulassen, dass bei dem konkreten Krankheitsbild durch den Einsatz von Cannabinoiden ein therapeutischer Erfolg zu erwarten ist. Alleine das subjektive Empfinden des Patienten, auch wenn es durch eine Einschätzung seines behandelnden Arztes unterstützt wird, reicht hierfür nicht aus.
Die Vorsitzende geht davon aus, dass vorliegend diese Mindestevidenz erreicht ist. Zwar wird seitens der MDK zutreffend darauf hingewiesen, dass letztlich für praktisch jede Erkrankung positive Berichte über Einzelfälle oder positive kleinere Studien vorliegen würden. In diesem Kontext kommt auch der o.g. Fachaufsatz zu dem Ergebnis, dass es zur Beurteilung weiterer hochwertiger Studien mit ausreichender Patientenzahl und Studiendauer bedürfe. Fordert man jedoch zunächst einmal eine "Mindestevidenz", so weist Dr. D. darauf hin, dass zwar zwei kleiner Studien keinen positiven Effekt gezeigt hätten (bei 36 bzw. 11 Patienten), bei der Studie mit der größten Patientenzahl (75 Patienten) durchaus ein positiver Effekt festgestellt worden sei. "Erste wissenschaftliche Erkenntnisse" liegen nach Ansicht der Vorsitzenden somit durchaus vor und es ist auch nicht nur auf die subjektive Einschätzung des Klägers, der die Behandlung im vorliegenden Fall als positiv einschätzt, abzustellen.
Die Vorsitzende kommt im hier zu beurteilenden Einzelfall in Übereinstimmung mit der gutachterlichen Meinung von Dr. D. daher zu dem Ergebnis, dass beim Kläger die Behandlung mit Cannabis den letztmöglichen Therapieversuch zur Linderung der Erkrankung des Klägers darstellt.
Gemessen an den Vorgaben des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V besteht daher ein Anspruch auf Kostenübernahme der Behandlung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.