Ausländerrechtliche Wohnsitzregelungen nach § 12a AufenthG haben im sozialgerichtlichen Verfahren Tatbestandswirkung und sind deshalb vom Jobcenter und Sozialgerichten nicht auf Rechtmäßigkeit zu prüfen. Zur Feststellung der Beendigung der örtlichen Sonderzuständigkeit eines Jobcenters nach § 36 Abs. 2 SGB II ist aber der Regelungsgehalt einer Aufhebung der Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 5 AufenthG zu ermitteln, insbesondere, ob die Aufhebung rückwirkend erfolgte.
I. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 27. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. November 2021 verpflichtet, dem Kläger auch für die Zeit von 01.09.2021 bis 10.10.2021 Leistungen nach SGB II zu gewähren.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Der Kläger begehrt Leistungen nach SGB II für September und Anfang Oktober 2021 vom Beklagten. Streitpunkt ist, ab welchem Zeitpunkt die Wohnsitzzuweisung nach § 12a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) weggefallen ist.
Der 1984 geborene Kläger stammt aus dem Jemen. Ihm wurde durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.05.2019 der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 Asylgesetz (AsylG) zuerkannt. Das Asylverfahren war in Bayern durchgeführt worden. Mit Bescheid vom 26.07.2019 verpflichtete die Regierung von Oberbayern den Kläger gemäß § 12a Abs. 3 AufenthG, seinen Wohnsitz für drei Jahre ab Bekanntgabe des Bescheids vom 14.05.2019 im Landkreis T-Stadt zu nehmen.
Der Kläger wohnte zunächst im Landkreis T-Stadt und bezog vom dort zuständigen Jobcenter für die Zeit vom 01.06.2019 bis 31.05.2020 Arbeitslosengeld II. Zum 01.06.2020 zog der Kläger in eine Wohnung in der Stadt M3-Stadt. Vom dortigen Jobcenter (Beklagter) bezog der Kläger Arbeitslosengeld II für die Zeit von 01.06.2020 bis 31.08.2021.
Im Juni 2021 wurde der Beklagte von der Regierung darauf hingewiesen, dass der Kläger einer Wohnsitzverpflichtung im Landkreis T-Stadt unterliege. Der Kläger stellte anschließend einen Antrag bei der Ausländerbehörde des Landratsamtes T-Stadt auf Aufhebung der Wohnsitzzuweisung. Mit Schreiben vom 11.10.2021 teilte die Ausländerbehörde dem Kläger mit, dass bei ihm "eine Wohnsitznahmeverpflichtung gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf den Landkreis T-Stadt nicht gegeben" sei, "da zum Zeitpunkt der Prüfung am 17.08.2021 folgender Ausnahmefall nach § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorlag: Studienverhältnis, studienvorbereitender Sprachkurs, Studienkolleg-Vertrag abgeschlossen, Maßnahme bereits begonnen (Berufssprachkurs, bfz M3-Stadt)".
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 19.07.2021 hin bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 27.10.2021 Arbeitslosengeld II für die Zeit ab 11.10.2021 bis einschließlich April 2022 von 788,90 Euro für Oktober und anschließend monatlich 1127,- Euro. Der daraufhin erhobene Widerspruch, es seien Leistungen ab 01.09.2021 zu bewilligen, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Wegen der Wohnsitzauflage sei der Beklagte erst ab deren Aufhebung mit Schreiben vom 11.10.2021 örtlich zuständig.
Der Kläger hat am 28.12.2021 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Die Prüfung der Wohnsitzauflage sei bereits am 17.08.2021 erfolgt. Das Sozialgericht hat das Jobcenter des Landkreises T-Stadt als alternativ leistungspflichtig beigeladenen. Der Beigeladene hat darauf hingewiesen, wegen Aufenthalts des Klägers in M3-Stadt und damit außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs nach § 7 Abs. 4a SGB II nicht zu Leistungen verpflichtet zu sein.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 27.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2021 zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit von 01.09.2021 bis 10.10.2021 Leistungen nach SGB II zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch begründet, weil die Wohnsitzverpflichtung rückwirkend zum 17.08.2021 weggefallen ist und deshalb der Beklagte auch für die Zeit von 01.09.2021 bis 10.10.2021 zu Leistungen nach SGB II verpflichtet ist.
Der Beigeladene war dagegen nicht leistungspflichtig. Er war in der strittigen Zeit nicht mehr nach § 36 Abs. 2 SGB II örtlich zuständig. Im Übrigen hätte auch ein Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 4a SGB II bestanden, weil M3-Stadt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs des Landkreises T-Stadt liegt.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4, § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Es ergeht ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Im strittigen Zeitraum war er im einschlägigen Alter (geboren 1984), erwerbsfähig sowie hilfebedürftig und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
Ein Ausschlussgrund bestand nicht. Der Kläger war insbesondere auch nicht als Ausländer von Leistungen nach SGB II ausgeschlossen. Die strittige Zeit gehört nicht zu den ersten drei Monaten des Aufenthalts in Deutschland nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II. Der subsidiäre Schutz nach § 4 AsylG ist ein sonstiges Aufenthaltsrecht, so dass der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Zug kommt. Mit dem Status des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG erhält der Kläger gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis, die nicht im Katalog der Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG enthalten ist. Somit besteht auch kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II.
Der Beklagte ist für die strittige Zeit gemäß § 36 Abs. 1 SGB II das örtlich zuständige Jobcenter, weil der gewöhnliche Aufenthalt (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) des Klägers in der Stadt M3-Stadt lag. Eine abweichende örtliche Zuständigkeit des Beigeladenen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II wegen einer Wohnsitzzuweisung nach § 12a Abs. 1 bis 3 AufenthG für den Landkreis T-Stadt bestand nicht mehr. Die Wohnsitzzuweisung wurde durch Bescheid der Ausländerbehörde vom 11.10.2021 rückwirkend zum 17.08.2021 aufgehoben.
Ausländerrechtliche Entscheidungen haben für die Leistungsträger nach SGB II und die Sozialgerichte Tatbestandswirkung, sie haben bindende Wirkung ohne Rücksicht auf ihre auf materielle Richtigkeit (BSG, Urteil vom 02.12.2014, B 14 AS 8/13 R; dort Rn. 12). Der Bescheid vom 11.10.2021 der Ausländerbehörde ist also nicht auf Rechtmäßigkeit zu prüfen. Es ist aber dessen Regelungsgehalt festzustellen, insbesondere der Zeitraum, für den dieser Bescheid eine Regelung trifft.
Bei den Wohnsitzregelungen des § 12a AufenthG ist die Landeszuordnung nach §12a Abs. 1 AufenthG und die Ortszuweisung nach § 12a Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG zu unterscheiden.
Die Landeszuordnung entsteht gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kraft Gesetzes für drei Jahre ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für das Bundesland, in das der Ausländer zur Durchführung des Asylverfahrens oder Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden war. Nach § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht in bestimmten Fällen, wiederum kraft Gesetzes, eine Landeszuordnung nicht. Zu § 12a Abs. 1 AufenthG ist ein deklaratorischer Verwaltungsakt möglich, der den gesetzlichen Zustand lediglich feststellt.
Eine Ortszuweisung nach § 12a Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG entsteht dagegen durch einen Verwaltungsakt der Ausländerbehörde, der jeweils im Ermessen der Behörde steht.
Nach § 12a Abs. 5 AufenthG ist eine Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 bis 4 AufenthG auf Antrag des Ausländers aufzuheben. Dies gilt auch für die Fälle des § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG, in denen die Landeszuordnung kraft Gesetzes weggefallen ist, weil der betroffene Ausländer ein schützenswertes Interesse an dieser Klarstellung hat (Maor in Beck OK Ausländerrecht, Stand 01.10.2022, AufenthG § 12a Rn. 14c und 32a).
Vor diesem rechtlichen Hintergrund stellt sich das Schreiben der Ausländerbehörde vom 11.10.2021 zunächst als Verwaltungsakt dar, der das Nichtbestehen einer Landeszuordnung nach § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG feststellte. Tatsächlich ging es aber um eine Ortszuweisung nach § 12 Abs. 3 AufenthG. Es ging darum, ob der Kläger nach wie vor seinen Wohnsitz im Landkreis T-Stadt zu nehmen hatte. Hierfür wäre ein konstitutiver gebundener Verwaltungsakt nach § 12a Abs. 5 AufenthG nötig gewesen.
Die Frage, ob hier eine Auslegung des Verwaltungsaktes, diese betrifft nur die äußere Erscheinung und das Verständnis des Verwaltungsaktes, oder eine Umdeutung nach Art. 47 BayVwVfG, diese verändert den Verfügungssatz, erforderlich ist, kann offenbleiben (vgl. zu dieser Unterscheidung Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 43 Rn. 3). Das Schreiben vom 11.10.2021 ist jedenfalls so zu verstehen, dass damit die Ortszuweisung für den Landkreis T-Stadt zum 17.08.2021 beendet sein sollte. Für den feststellenden Verwaltungsakt ergibt sich das bereits aus der Formulierung, dass zum Zeitpunkt der Prüfung am 17.08.2021 ein Ausnahmefall vorlag. Für einen konstitutiven Verwaltungsakt wäre dies durch eine rückwirkende Aufhebung des ursprünglichen Verwaltungsaktes vom 26.07.2019 zu verfügen gewesen. Weil es - wie oben erwähnt - nicht um die Frage der Rechtmäßigkeit der ausländerrechtlichen Entscheidung nach § 12a Abs. 5 AufenthG, sondern nur um die Feststellung des Regelungsgehalts des Schreibens vom 11.10.2021 geht, sind weitere rechtliche Prüfungen nicht veranlasst. Damit steht fest, dass der Beklagte für die strittige Zeit örtlich zuständiger Leistungsträger nach SGB II ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.