Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 27. Januar 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben sich auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, ob der Kläger im Februar 2012 in A-Stadt Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person geworden ist.
Der damals 36-jährige Kläger erstattet am 9. Februar 2012 bei der Polizeistation A-Stadt Strafanzeige gegen Unbekannt, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung. Früher am Abend sei ein Fahrzeug langsam hinter ihm gefahren, habe dann in seine Richtung gelenkt und sei stehen geblieben. Zwei männliche Personen seien ausgestiegen, auf ihn zugestürzt und hätten „Hurensohn" gerufen. Einer habe ihn angegriffen, nämlich geschubst. Er, der Kläger habe sich sofort mit einem Faustschlag ins Gesicht des Gegenübers gewehrt, worauf dieser zu Boden gegangen sei. Die zweite Person habe dem Kläger dann Pfefferspray direkt in die Augen gesprüht. Der Kläger teilte der Polizeibehörde mit, er wolle Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) stellen. Nach Weiterleitung dieser Informationen an das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Wiesbaden (im Folgenden: HAVS) eröffnete diese Behörde ein Verwaltungsverfahren, übersandte dem Kläger ein Antragsformular und bat ihn, entsprechende Angaben zu machen. Nachdem sie ihn postalisch unter der von ihm gegenüber der Polizei mitgeteilten Adresse nicht erreichte, seine neue Anschrift von Amts wegen ermittelte und erneut den Versuch einer Kontaktaufnahme, nun unter Hinweis auf Mitwirkungsobliegenheiten, unternahm, reagierte der Kläger hierauf nicht. Das HAVS erließ daraufhin am 3. Juli 2012 einen Bescheid, mit dem sie die Gewährung von Versorgung nach dem OEG wegen mangelnder Mitwirkung versagte.
Unter dem Datum des 1. November 2018, eingegangen beim HAVS am 5. November 2018 stellt der Kläger sodann erneut einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG und reichte verschiedene Unterlagen ein. Das HAVS bemühte sich um die Beiziehung relevanter Informationen.
Mit Bescheid vom 26. April 2019 lehnte sie die beantragte Versorgung ab. Zur Begründung gab sie im Bescheid an, der Sachverhalt habe im Rahmen der Ermittlungen nicht abschließend bewiesen worden können. Weder bei der Polizei noch bei der Amtsanwaltschaft Frankfurt am Main lägen aufgrund des Zeitablaufs noch Unterlagen bezüglich der geltend gemachten Tat vor. Auch eine mögliche wechselseitige Körperverletzung hätte nicht ausgeschlossen werden können, weswegen die Tatbestandsmerkmale des OEG nicht erfüllt seien. Das Tatgeschehen lasse sich nicht mit der gebotenen Sicherheit klären. Eine andere Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung sei nicht gegeben.
Hiergegen erhob der Kläger am 16. Mai 2019 Widerspruch. Diesen begründete er damit, dass es nicht zutreffe, dass der Sachverhalt nicht abschließend habe bewiesen werden können. Lediglich seien die Täter nicht ermittelt worden. Dass aufgrund des Zeitablaufes keine Unterlagen mehr vorlägen, habe er nicht zu vertreten. Auch von einer wechselseitigen Körperverletzung könne keine Rede sein. Er, der Kläger, habe sich lediglich gegen den Angriff verteidigt.
Den Widerspruch wies das HAVS mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2020 zurück. Zur Begründung führte es im Bescheid aus, aus den aktenkundigen Unterlagen ließen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff belegten. Unterlagen von der Amtsanwaltschaft oder der Polizei waren nicht mehr beizuziehen. Es liege lediglich eine Kopie der Strafanzeige und der Aussage des Klägers vor. Trotz dieser Dokumente ließe sich der Sachverhalt nicht abschließend zur Überzeugung der Behörde aufklären. Auch die vom Kläger übersandte kurze Stellungnahme sei nicht dazu geeignet gewesen, eine andere Entscheidung herbeizuführen. Es bestehe daher keine Möglichkeit dem Widerspruch abzuhelfen.
Der Kläger hat daraufhin am 31. Juli 2020 Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden erhoben.
Das hat im Rahmen der Amtsermittlung Akten bei der Amtsanwaltschaft Frankfurt, der AOK Hessen, der C. Versicherung AG, der Rechtsanwältin E. (ehemals J., E., D-Stadt) und der Rechtsanwälte H. und Kollegen angefordert bzw. beigezogen.
Sodann hat das Sozialgericht Wiesbaden die Klage, nach entsprechender Anhörung, mit Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2022 als unbegründet abgewiesen.
Im Einzelnen hat das Gericht ausgeführt, der Bescheid vom 26. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2020 sei rechtmäßig, der Kläger werde durch die Bescheide nicht in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente bei einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 v.H.
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setze zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG gegeben seien (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2009, Az. B 9 VG 1/08 R). Gemäß § 1 Abs. 1 OEG erhalte eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe, wegen der gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs stehe zur Überzeugung des Gerichts vorliegend nicht mit hinreichender Gewissheit fest. Der vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff müsse als eine der anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein. Grundsätzlich bedürfe es hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen des Vollbeweises, womit aber nicht eine absolute Gewissheit hinsichtlich der festzustellenden Tatsachen gemeint sei. Beweis geführt sei über eine Tatsache, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich sei, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Beweisverfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet seien, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 5. Juni 2008, Az. L 13 VG 1/05). Fehle es daran, geht dies zu Lasten des Antragstellers (Gelhausen/Weiner/Weiner, OEG § 1, Rn. 165).
Ausgehend von diesen Grundsätzen fehle es bereits entgegen der Auffassung des Klägers an dem Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs mittels Pfefferspray durch Unbekannte. Unmittelbarer Zeuge des geschilderten Tathergangs seien neben dem Kläger nur die unbekannten Täter selbst gewesen. Diese hätten von den Ermittlungsbehörden nicht festgestellt werden können. Auch das erkennende Gericht habe trotz eigener Ermittlungsbemühungen die Täter nicht ermitteln können. Die AOK Hessen habe mit Schreiben vom 10. Mai 2021 Auszüge aus der Ermittlungsakte übermittelt. Diese hätten im Wesentlichen die Strafanzeige vom 9. Februar 2012 mit Zeugenvernehmung und Schlussvermerk enthalten, zudem einen seitens des Klägers ausgefüllten Unfallfragebogen vom 24. Oktober 2012. Hieraus hätten sich keine neuen Erkenntnisse ergeben. Die Amtsanwaltschaft Frankfurt am Main hätte mit Verfügung vom 17. Mai 2021 mitgeteilt, die Akten seien nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist ausgesondert worden. Es könne somit keine Auskunft mehr über das Verfahren gegeben werden. Auch aus den Auskünften der in dem Ermittlungsverfahren tätigen Rechtsanwältin E. (ehemals J., E., D-Stadt) und der Rechtsanwälte H. und Kollegen hätten sich keine neuen Anhaltspunkte ergeben. Insoweit stünden dem Gericht nur die Aussagen des Klägers zur Verfügung. ln der Tat würden diese Angaben, wie von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausgeführt, durch den Inhalt der amtlichen Ermittlungsakte bestätigt. Diese enthielten aber auch ausschließlich die Zeugenaussage des Klägers. Insoweit könne im Ergebnis nur auf Aussagen des Klägers zurückgegriffen werden. Allein die Angaben des Klägers reichten vorliegend nicht aus, den erforderlichen Beweis zu führen.
Als tätlicher Angriff sei nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende, gewaltsame Einwirkung zu sehen (BSG, Urteil vom 10. September 1997, Az. 9 RVg 1/96; Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R). Das Gericht habe sich von dem geschilderten Tathergang nicht überzeugen können. Bereits nach den Schilderungen des Klägers ergebe sich kein einheitliches Tatgeschehen. Der Kläger habe im Rahmen seiner Zeugenvernehmung am 9. Februar 2012 erklärt, er habe sich umgedreht, das Fahrzeug sei kurz hinter ihm stehen geblieben. Plötzlich seien aus dem Wagen zwei männliche Personen auf ihn zugestürzt und hätten „Hurensohn“ gerufen. Einer der Täter habe ihn angegriffen, er habe ihn geschubst. Der Kläger habe sich sofort gewehrt und ihm einen Faustschlag ins Gesicht gegeben. Die zweite Person habe ihm mit einem Pfefferspray direkt in die Augen gesprüht. Auf dem Unfallfragebogen der AOK Hessen vom 24. Oktober 2012 gebe der Kläger hingegen an, er sei auf dem Bürgersteig gelaufen, als er völlig unerwartet von hinten mit einem Gegenstand auf den Kopf geschlagen worden sei.
Im Weiteren sei für das Gericht nicht in dem erforderlichen Maße bewiesen, dass der Angriff, insbesondere der Einsatz des Pfeffersprays, der nach Ansicht des Klägers zu der gesundheitlichen Schädigung führte, vorsätzlich erfolgt sei. Der rechtswidrige Angriff müsse aber vorsätzlich erfolgen. Damit sollten Fahrlässigkeitstaten, auch solch grober Fahrlässigkeit, ausgeschlossen werden. Wie es zu dem Einsatz des Pfeffersprays gekommen sei, ob dies bewusst und wissentlich auf den Kläger gerichtet oder fahrlässig ausgelöst worden sei, lasse sich nicht ermitteln.
Das Gericht habe sich auch nicht von der erforderlichen Rechtswidrigkeit des Angriffs überzeugen können. Ein Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfülle, sei grundsätzlich rechtswidrig. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziere die Rechtswidrigkeit: Davon sei auszugehen, soweit nicht ein Rechtfertigungsgrund gegeben sei. Das Gericht habe sich nicht überzeugen können, dass die auf den Kläger gerichteten Handlungen nicht aufgrund eines Rechtfertigungsgrundes gerechtfertigt gewesen seien. Wie sich das Geschehen tatsächlich abgespielt habe, lasse sich, wie bereits ausgeführt, nicht zur Überzeugung des Gerichts eruieren. Der Kläger habe den Tathergang selbst widersprüchlich beschrieben. Es sei nicht ermittelbar, ob den beschriebenen Einwirkungen der Täter ein Angriff des Klägers vorausgegangen sei, sodass die Handlungen der Täter aufgrund von Rechtfertigungsgründen nicht rechtswidrig wären.
Das Gericht habe von der Vernehmung der Zeugin G., Mutter des Klägers, absehen können. Es sei bereits unklar, ob die Mutter den Kläger am Tatort aufgefunden habe (Widerspruchsschreiben vom 10. Mai 2019, Bl. 71 BA; Schriftsatz vom 19. August 2021, Bl. 109 GA) oder ob der Kläger zu seiner in der Nähe wohnenden Mutter gegangen sei (Zeugenvernehmung, Bl. 64 BA). Unabhängig davon vermöge die Zeugin zu der Frage, wie sich das Tatgeschehen abgespielt habe, keine Aussagen zu treffen, da sie nach dem Vortrag der Klägerseite jedenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt, als die Täter bereits den Tatort verlassen gehabt hätten, auf den Kläger getroffen sei. Im Hinblick darauf, dass sich auch die benannten Polizeibeamten K. und N. nicht am Tatort befunden und von dem Tatgeschehen nur durch die Zeugenvernehmung des Klägers Kenntnis erlangt hätten, können sie als Zeugen vom Hörensagen letztlich keine eigenen Wahrnehmungen zum Tathergang mitteilen. Ihre Zeugenvernehmung sei zur Sachverhaltsaufklärung nicht erforderlich gewesen.
Auch der hilfsweise gestellte Antrag auf Bewilligung von Versorgungsleistungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts sei unbegründet. Voraussetzung sei auch hierfür das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 1 OEG. Da diese nicht zur Überzeugung des Gerichts bejaht werden könnten, sei der hilfsweise gestellte Antrag auf Bewilligung von Versorgungsleistungen ebenfalls abzuweisen.
Der Kläger hat am 23. Februar 2022 Berufung gegen den ihm am 31. Januar 2022 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts eingelegt.
Er trägt wiederum vor, er sei am 9. Februar 2021 in A-Stadt in der C-Straße von zwei Personen angegriffen worden. Er sei auf dem Bürgersteig gegangen, um seine in der Nähe wohnende Mutter zu besuchen, als er von zwei Männern, die aus einem BMW ausgestiegen seien, verbal beleidigt und sofort körperlich angegriffen worden sei. Der Kläger sei von einem Täter geschubst worden, habe einen Faustschlag ins Gesicht erlitten und sei daraufhin zu Boden gestürzt. Der andere Täter habe dem Kläger Pfefferspray direkt in die Augen gesprüht. Er regt an Beweis zu erheben durch Beiziehung der amtlichen Ermittlungsakte, durch persönliche Anhörung des Klägers sowie durch Zeugenvernehmungen, wobei der Kläger keine Zeugen zu benennen vermag. Der Kläger trägt weiter vor, dass er sich infolge dieses Angriffs nicht unerhebliche Verletzungen zugezogen habe. Unter anderem habe er eine traumatische Kopfverletzung erlitten. Infolgedessen habe er die Sehfähigkeit auf dem rechten Auge sowie die Hörfähigkeit rechts verloren. Daneben träten permanent Schwindelattacken, insbesondere bei Belastung oder Stress, auf. Hinzu kämen massive psychische Beschwerden, Magenprobleme sowie Kopfschmerzen. Er vertritt sinngemäß die Auffassung, dass es bei den hier zu beurteilenden Fragen nicht auf die Identität des Täters ankomme, das Gericht hierzu aber auch keine Ermittlungsmaßnahmen vorgenommen, insbesondere den Kläger nicht gehört habe. Schließlich sei der Widerspruch zwischen dem Protokoll zur Zeugenvernehmung vom 9. Februar 2012 und den Angaben im Unfallfragebogen der AOK vom 24. Oktober 2012 erklärlich. Die Angaben bei der Polizei habe der Kläger möglichst präzise machen wollen, bei den Angaben ggü. der AOK, ca. 8 Monate später, handele es sich lediglich um eine Kurzfassung in einem Formularfragebogen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 27. Januar 2022 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 26. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 zu gewähren,
hilfsweise,
Versorgungsleistungen unter der Rechtsauffassung des Gerichts zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 5. Juli 2022 auf den Berichterstatter übertragen. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Der Berichterstatter des Senats konnte gemeinsam mit den ehrenamtlichen Richtern über die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 27. Januar 2022 entscheiden, da ihm mit dem erwähnten Beschluss vom 5. Juli 2022 der Rechtsstreit übertragen worden ist, § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung ist zulässig aber unbegründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2022 abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 26. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides, ergänzt nach durchgeführter persönlicher Anhörung des Klägers und eigener Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugin G. jedoch zur Beweiserhebung und Beweiswürdigung wie folgt:
Das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen die Person des Klägers am 9. Februar 2012 ist nicht bewiesen. Dies geht zu seinen Lasten.
Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises (allg. Meinung, vgl. statt vieler: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 2. Juni 2022, L 6 VG 2800/21). Für den zu beurteilenden Sachverhalt gilt allerdings die Beweiserleichterung von § 15 S. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG). Demnach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Nach § 6 Abs. 3, 1. HS OEG ist das KOVVfG insoweit anzuwenden. Die genannte Vorschrift des KOVVfG betrifft nicht nur das Verwaltungsverfahren, sondern auch das sozialgerichtliche Verfahren und beschränkt sich nicht auf Fälle, in denen die Beweisnot auf fehlenden Unterlagen beruht (Opferentschädigungsgesetz/Rademaker, OEG § 1 Rn. 172). Die Rechtsprechung hat den Anwendungsbereich über den Wortlaut hinaus auf solche Fälle erweitert, in denen für das schädigende Ereignis keine Zeugen vorhanden sind (Landessozialgericht BadenWürttemberg, Urteil vom 18. November 2021, L 6 VG 815/20; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. Mai 2021, L 10 VE 67/18; BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R; alle zurückgehend auf BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89). Die Beweisnot durch fehlende Unterlagen, die das KOVVfG bei Kriegsopfern unterstellt, trifft im Ergebnis gleichermaßen Opfer von Straftaten, wenn die Tat ohne Zeuge geschieht (BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89).
Ein solcher Fall liegt vor. Die Existenz bzw. Vernehmung der Zeugin G. ändert daran nichts, weil sie nicht Zeugin des behaupteten Angriffs war, sondern lediglich Zeugin der nachfolgenden Geschehnisse bzw. Zeugin vom Hörensagen, bezogen auf den behaupteten Angriff. Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S. 1 KOVVfG greift dessen Beweiserleichterung bereits, wenn jedwede Tatzeugen, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen könnten, fehlen (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R), worauf der Berichterstatter die Beteiligten zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung in der mündlichen Verhandlung auch hingewiesen hat.
Es fehlt vorliegend aber an der hinreichenden Glaubhaftmachung des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen die Person des Klägers am 9. Februar 2012 durch ihn selbst.
Bei der Glaubhaftmachung handelt es sich, neben dem Vollbeweis und dem Vorliegen von Wahrscheinlichkeit (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG), um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts (BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BSG, Urteile vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R und B 9 V 3/12 R), das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, das heißt es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (BSG, Urteile vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss eine den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl. BSG, Urteile vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R; BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B -- Zitat dieses gesamten Absatzes nach: BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016, B 9 V 3/15 R).
Zur Überzeugung des Senats sind diese Beweisanforderungen vorliegend nicht erfüllt. Die Angaben des Klägers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, waren in sich schon nicht hinreichend konsistent, um eine Tatsachengrundlage anzunehmen, die der Entscheidung zugrunde hätte gelegt werden können. Zur Überzeugung des Senats steht zwar fest, dass der Kläger am 9. Februar 2012 abends die Wohnung seiner Mutter, der Zeugin, verlassen hat, um die Tankstelle in der D-Straße in A-Stadt aufzusuchen und dass er zwischen diesem Zeitpunkt und dem erneuten Zusammentreffen mit seiner Mutter unter anderem Gesundheitsschäden durch Reizgasexposition erlitt. Die Abläufe in dem sich hieraus ergebenden Zeitraum, insbesondere die Umstände der Reizgasexposition, ließen sich für den Senat aber weder aufklären noch hinreichend plausibel nachvollziehen, so dass Angaben des Klägers als glaubhaft eingeordnet werden könnten. Insbesondere ließen sich seine Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht widerspruchsfrei in Deckung mit seinen früheren Aussagen bringen.
Im Rahmen der polizeilichen Vernehmung gab der Kläger, wie im Tatbestand bereits knapp dargestellt, seinerzeit unter anderem an, dass er in der C-Straße plötzlich ein Fahrzeug bemerkt habe, das langsam hinter ihm auf der Fahrbahn gefahren sei und dann in seine Richtung gelenkt habe. Das Fahrzeug sei stehen geblieben. Plötzlich seien aus dem Fahrzeug zwei männliche Personen auf ihn zugestürzt und hätten ihn beschimpft. Einer der beiden habe ihn angegriffen. Er habe ihn geschubst. Er, der Kläger, habe sich sofort gewehrt und dem Angreifer einen Faustschlag ins Gesicht gegeben. Dieser sei zu Boden gegangen. Die zweite Person habe ihm dann mit einem Pfefferspray direkt in die Augen gesprüht, so dass er nichts mehr habe sehen können. Alles sei sehr schnell gegangen und habe nur einige Sekunden gedauert. Im Fahrzeug habe noch eine weitere Person am Steuer gesessen, die nicht ausgestiegen sei. Zu dieser Person könne er gar nichts sagen, noch nicht einmal, ob es sich um eine Frau oder einen Mann gehandelt habe. Nach der Attacke mit dem Pfefferspray seien die Personen schnell in das Fahrzeug gestiegen und das Fahrzeug sei weggefahren. Der Kläger sei dann zu seiner Mutter gegangen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zwar ebenfalls angegeben, zwei Personen seien aus dem Auto ausgestiegen. Einer habe ihn geschlagen. Der Kläger habe sich verteidigt. Einer der beiden habe eine große Flasche Pfefferspray dabeigehabt. Dieser habe ihm Pfefferspray ins Gesicht gespritzt, woraufhin er, der Kläger, nichts mehr gesehen und auf dem Boden gelegen habe. Er sei von den beiden Personen auch geschlagen worden. Eine Nachbarin habe Kenntnis von dem Vorfall bekommen und habe seine Mutter informiert. Diese sei dann mit ihrem Ehemann zu ihm gekommen. Im Laufe der Befragung hat der Kläger dann jedoch ausgeführt, der Pfeffersprayangriff sei durch eine dritte Person erfolgt, die ebenfalls in diesem PKW gesessen habe.
Die Diskrepanz in den beiden Schilderungen des Klägers im Hinblick auf die Abläufe, bei der Polizei einerseits und in der mündlichen Verhandlung andererseits, ließen sich in der sich an die Beweisaufnahme anschließende Erörterung nicht hinreichend ausräumen. Die Behauptung des Vorhandenseins einer dritten Person am hypothetischen Tatort ist vom Kläger in der Verhandlung weiterhin aufrechterhalten worden. Gleichwohl konnte er die sich hieraus ergebende Diskrepanz zu seiner vorherigen Angabe in der Verhandlung, aber auch bei der Polizei, nicht plausibel erklären. Er ist in der mündlichen Verhandlung auch nicht in der Lage gewesen, eine stringente Abfolge von Angriff (Schubsen oder Schlagen) durch die unbekannten Personen, Abwehrmaßnahmen durch ihn und den Einsatz des Pfeffersprays durch die Angreifer und ggf. weitere Angriffe durch diese Personen zu schildern, geschweige denn eine Zuordnung der einzelnen Handlungen durch die ersten zwei Personen einerseits und die dritte Person andererseits. Mit fortschreitender Erörterung ist die mögliche Abfolge zunehmend diffus geworden.
Auch der hypothetische Tatort konnte weder durch den Kläger noch durch die Zeugin, auch nicht nach jeweiliger Vorlage eines Kartenauszugs der Stadt A-Stadt und des Farbausdrucks eines Satellitenbildes (Quelle: Google Maps), konkretisiert werden. Schließlich ließ sich weder durch den Kläger noch durch die Zeugin eine für den Senat glaubhafte Darstellung über die Auffindesituation des Klägers durch die Mutter nach dem behaupteten Angriff erbringen. Während der Kläger am Tattag gegenüber der Polizei angegeben hatte, dass er nach dem Angriff seine Mutter aufgesucht hatte, gab er, nun übereinstimmend mit seiner Mutter, der Zeugin, an, er sei dort aufgefunden worden, nachdem Passanten seine Mutter persönlich darauf aufmerksam gemacht hatten, dass ihr Sohn auf der Straße liege. Es ließ sich in der Erörterung dann wiederum nicht plausibel erklären, warum den Passanten einerseits die Identität des Klägers, die seiner Mutter und auch deren Wohnung bekannt gewesen sein soll, andererseits aber weder Kläger noch Mutter angeben konnten, um wen es sich hierbei gehandelt habe. Auch das behauptete sofortige Entfernen der Passanten vom hypothetischen Tatort nach Information gegenüber der Mutter und das damit verbundene Alleinlassen des verletzten Klägers ließ sich, ohne dass es streitentscheidend auf dieses Detail ankommt, unter Zugrundelegung zu erwartender Lebenssachverhalte, nicht plausibel erklären.
Nach alledem fehlt es dem Senat an der guten Möglichkeit, dass sich ein bestimmter Vorgang so zugetragen hat, wie vom Kläger behauptet. Denn ein stringenter, wenigstens den wesentlichen Inhalten nach zugrunde zulegender Tatablauf ist nicht erkennbar. Aus der Vielzahl der sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ergebenden, ernstlich denkbaren Geschehensbläufe am besagten Abend hält der erkennende Senat als Ergebnis seiner Beratung auch keinen für relativ am wahrscheinlisten, der einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen den Kläger zum Gegenstand hat. Der Senat hält es für durchaus möglich, dass der Kläger am besagten Abend in der C-Straße in A-Stadt Opfer eines solchen Angriffs wurde. Die Zweifel sind aber zu groß, um eine Glaubhaftmachung anzunehmen.
Auf die Frage des Vorliegens eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 OEG, für den das beklagte Land allerdings die Beweislast trüge (Opferentschädigungsgesetz/Rademaker, OEG § 2 Rn. 34, beck-online), kommt es demnach nicht mehr an.
Der Senat weist darauf hin, dass er in die Beratung auch die sich aus den Akten ergebenden weiteren Informationen zum hypothetischen Tatereignis einbezogen hat, unter anderem die medizinische Dokumentation der Universitätsklinik Frankfurt am Main („Der Patient war am 10.02.12 mit Pfefferspray attackiert worden, zudem sei er bei dem Angriff mit dem Hinterkopf gegen eine Wand gestoßen.“), die Angaben des Klägers gegenüber der AOK Hessen („Ich lief auf dem Bürgersteig der C-Straße, A-Stadt, als ich völlig unerwartet von Hinten mit eine[m] Gegenstand auf den Kopf geschlagen wurde und mit Pfefferspray in [das] rechte Auge gesprüht wurde.“) und schließlich seine Angaben im Verwaltungsverfahren des beklagten Landes sowie seinen Vortrag im Klage- und Berufungsverfahren. Zu dem oben dargestellten Ergebnis seiner Beweiswürdigung gelangt der Senat aber bereits bei völliger Außerachtlassung der hier erwähnten weiteren Informationsquellen. Eine Einbeziehung einzelner oder aller dieser Angaben in die Beweiswürdigung durch den Senat würde zu denkbar größten Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Klägers, letztlich also zum selben Ergebnis der Beweiswürdigung, führen.
Der Senat weist schließlich auch darauf hin, dass die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens in Bezug auf den Kläger nicht erforderlich gewesen ist. Zum einen bilden die Angaben des Klägers, wie geschildert, schon keine hinreichend konsistente Grundlage für die Annahme eines konkreten Geschehensablaufs. Zum anderen liegt kein Sachverhalt vor, der eine solche Einholung gebietet oder nur sachgerecht erscheinen ließe. Das Gericht ermittelt den Sachverhalt nach § 103 S. 1, 1. HS 1 SGG von Amts wegen. Hierzu kann in Ausnahmefällen auch die Erhebung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens gehören. Grundsätzlich jedoch gehört die Würdigung der Aussagen durch Zeugen zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Ein Glaubhaftigkeitsgutachten kommt nur dann in Betracht, wenn dem Gericht ausnahmsweise die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt, was der Fall sein kann, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22. September 2016, L 6 VG 1927/15, m.w.N; Urteil vom 26. Februar 2015, L 6 VG 1832/12). Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson und deren Behandlung beeinflusst sein können (BSG, Beschluss vom 24. Mai 2012, B 9 V 4/12 B, m.w.N.). Weder der vorgenannte konkrete Ausnahmefall noch ein sonstiger sind vorliegend vorgetragen oder erkennbar.
Dass die Anhörung des Klägers zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid keine vollständige Unterschrift der Kammervorsitzenden trägt, was wohl überwiegend verlangt wird, hat keine Auswirkung auf den Ausgang dieses Rechtsstreits (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 12. Juni 2017, L 9 U 168/16, Rn. 26 und Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. November 2010, L 12 R 793/09, Rn. 23, beide juris). Dass die Entscheidung ohne persönliche Anhörung des Klägers im Rahmen einer mündlichen Verhandlung oder eines Erörterungstermins erfolgt ist, ist unerheblich. Denn das Landessozialgericht prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht, es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen, vgl. § 157 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.