L 6 U 57/20

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 178/19
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 U 57/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Hat ein Versicherter in dem Zwölfmonatszeitraum des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausschließlich Krankengeld bezogen, liegt ein in erheblichem Maße unbilliger Jahresarbeitsverdienst i.S. von § 87 Satz 1 SGB VII vor, wenn der Versicherte vor und nach der Arbeitsunfähigkeit Arbeitsentgelt aus der gleichen tarifgebundenen Beschäftigung erzielt hat und der Mindestjahresarbeitsverdienst von diesem Arbeitsentgelt mehr als 30 % abweicht.

Bemerkung

Zum Vorliegen eines in erheblichem Maße unbilligen Jahresarbeitsverdienst i.S. von § 87 Satz 1 SGB VII bei ausschließlichem Krankengeldbezug im Zwölfmonatszeitraum 

   
   
 

 

  1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 2. März 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2019 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 25. März 2010 in der Fassung des Bescheides vom 7. September 2017 abzuändern und dem Kläger ab 1. Januar 2014 eine höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung eines von der Beklagten nach billigem Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts festzusetzenden Jahresarbeitsverdienstes zu gewähren.

  1. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) um die Gewährung einer höheren Verletztenrente unter Zugrundelegung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

 

Der 1963 geborene Kläger hat 1981 die Berufsausbildung zum Instandhaltungsmechaniker erfolgreich abgeschlossen. Nach der Wende war er von 1991 bis 1994 als Sanitär- und Heizungsinstallateur und in der Folge mit Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit als Außendienstmitarbeiter tätig. Seit 2001 war er als Fachverkäufer bei der METRO Cash & Carry Deutschland GmbH (Arbeitgeberin) beschäftigt mit einem Monatsgehalt i.H. von 1.584,33 € und ab Mai 2006 i.H. von 1.611,26 € jeweils zzgl. von Entgelten für Überstunden und Schichtzuschlägen. Von September 2005 bis August 2006 erzielte er Arbeitsentgelt i.H. von insgesamt 21.056,86 €. Am 05.04.2006 erlitt er in Ausübung der beruflichen Tätigkeit eine Prellung im linken Schultergelenk. Ab dem 22.06.2006 begab sich der Kläger wegen Schulterbeschwerden in ärztliche Behandlung und war vom 31.07.2006 bis 02.12.2007 arbeitsunfähig, wobei er bis zum 10.09.2006 Entgeltfortzahlung und ab dem 11.09.2006 Krankengeld i.H. von 35,06 € kalendertäglich und ab 01.07.2007 i.H. von 35,18 € kalendertäglich bezog. Am 03.12.2007 nahm der Kläger seine vormalige Tätigkeit wieder auf und erzielte nunmehr ein Monatsgehalt im Dezember 2007 i.H. von brutto 1.841,95 €, davon steuer- und sozialversicherungspflichtig einen Betrag i.H. von 1.833,97 €, das sich wie folgt zusammensetzte:

Entgelt:

1.818,63 €

Kontoführungsgebühr :

2,05 €

vermögensbildender Arbeitgeberanteil

13,29 €

 

 

Daneben erhielt er im Dezember 2007 folgende einmaligen Leistungen:

 

Urlaubsgeld:

            528,26 €

Weihnachtsgeld tariflich:

90,93 €

Weihnachtsgeld freiwillig:

789,51 €

insgesamt:

1.408,70 €

 

 

Eine im Januar 2008 erfolgte Rückrechnung ergab für den Monat Dezember 2007 noch eine Wechselschichtzulage i.H. von 51,60 € sowie eine Samstagszulage i.H.v. 8,60 €.

 

Mit Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 27.09.2010 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 05.04.2006 als Arbeitsunfall an, verneinte aber den Zusammenhang mit den in August 2006 und Mai 2007 festgestellten Beschwerden im Schulterbereich.

 

Am 13.12.2007 blieb der Kläger in der Fischabteilung des Großmarktes Z…. mit einem Fuß an einer Folie hängen und stürzte dabei auf das rechte Handgelenk. Er arbeitete zunächst weiter und stellte sich wegen anhaltender Beschwerden im Handgelenk erstmalig am 30.04.2008 beim D-Arzt vor. Die nachfolgende Arthroskopie (24.07.2008) ergab eine TFCC-Läsion 1 C nach Palmer. Bei ungünstigem Krankheitsverlauf erfolgte am 29.09.2009 eine operative Versteifung des rechten Handgelenks. Nach Durchführung des Feststellungsverfahrens erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 25.03.2010 den Unfall vom 13.12.2007 als Arbeitsunfall an und gewährte dem Kläger ab dem 20.02.2010 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. Bei der Rentenberechnung ging sie von dem Mindest-JAV i.H. von 15.120,00 €, zweimalig angepasst auf 15.803,00 € aus. Nach Entwicklung einer Pseudoarthrose im Carpo-Metacarpale-V-Gelenk gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 07.09.2017 ab dem 01.04.2017 die Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. unter Berücksichtigung eines nunmehr angepassten JAV i.H. von 18.769,71 € ab dem 01.04.2017 und i.H. von 19.443,54 € ab dem 01.07.2017.

 

Mit am 13.12.2018 eingegangenen Schreiben vom 10.12.2018 beantragte der Kläger unter Vorlage von Verdienstnachweisen für die Monate September 2005 bis August 2006 und Dezember 2007 die Überprüfung des Bescheides vom 25.03.2010. Der zugrundeliegende JAV sei unzutreffend mit 15.120,00 €, anstelle gemäß § 87 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) nach billigem Ermessen auf mindestens 23.000,00 € festgesetzt worden. Diesen Verdienst hätte er erzielt, wenn er nicht unverschuldet seit September 2006 Krankengeld bezogen hätte.

 

Mit Bescheid vom 21.02.2019 wies die Beklagte den Überprüfungsantrag zurück. In dem Bescheid vom 25.03.2010 sei zutreffend der Mindest-JAV nach § 85 SGB VII herangezogen worden. Bei dem vom 01.12.2006 bis 30.11.2007 bezogenen Krankengeld in Höhe von insgesamt 11.119,52 € handele es sich um eine Entgeltersatzleistung. Die Zugrundelegung des Mindest-JAV bei Bezug von Entgeltersatzleistungen sei nicht in erheblichem Maße unbillig, da die Lebensstellung des Klägers im relevanten Zeitraum vor dem Unfall durch die Höhe des Krankengeldes geprägt gewesen sei, die deutlich unter dem in Ansatz gebrachten Mindest-JAV gelegen habe. Es komme nicht darauf an, welches Einkommen der Kläger in diesem Zeitraum hätte erzielen können, wenn er arbeitsfähig gewesen wäre (Verweis auf Landessozialgericht <LSG> Thüringen, Urteil vom 28.07.2004 – L 1 KN 623/03 U).

 

Mit unter dem 25.02.2019 eingelegten Widerspruch rügte der Kläger, dass der Bescheid vom 25.03.2010 keine Begründung für den Ansatz des Mindest-JAV enthalte. Unabhängig davon sei dieser Ansatz auch unbillig i.S. des § 87 SGB VII. Hier sei zu berücksichtigen, dass er schon seit 2001 bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei und in dem Zwölfmonatszeitraum vor dem Unfall kein Arbeitsentgelt erzielt habe. Die 16 Monate andauernden temporären Einkommenseinbußen durch den Krankengeldbezug habe er in Kauf nehmen müssen, sie hätten aber weder seinen erreichten sozialen Status geprägt noch habe er sich für die Zukunft auf Einkommen lediglich i.H. von Sozialleistungen eingestellt gehabt. Die Beklagte habe das gemäß § 87 SGB VII auszuübende Ermessen nicht ausgeübt. Mit Widerspruchsbescheid vom 07.08.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

 

Am 13.08.2019 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Dresden (SG) erhoben und weiter die Berechnung seiner Rente auf der Grundlage eines gemäß § 87 SGB VII festzusetzenden JAV begehrt.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 02.03.2020 hat das SG nach entsprechender Anhörung der Beteiligten die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheids vom 07.09.2017 sei mangels Rechtswidrigkeit nicht auf der Grundlage von § 44 SGB X abzuändern. Der für die Berechnung des JAV nach § 82 SGB VII zu berücksichtigende Zwölfmonatszeitraum vor dem von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall vom 13.12.2007 umfasse die Zeit vom 01.12.2006 bis zum 30.11.2007. In dieser Zeit habe der Kläger weder Arbeitsentgelt noch Arbeitseinkommen erhalten, sondern durchgängig Krankengeld, so dass die Anwendung von § 82 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausscheide und die Beklagte gemäß § 85 Abs. 1 SGB VII zutreffend auf den Mindest-JAV abgestellt habe. Dies sei auch nicht in erheblichem Maße unbillig i.S. des § 87 SGB VII. Dabei stehe der Anwendbarkeit der Vorschrift nicht entgegen, dass der Kläger vor dem Versicherungsfall kein Arbeitsentgelt oder -einkommen bezogen habe. Denn die Anwendbarkeit des § 87 SGB VII setze nicht die Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor dem Versicherungsfall voraus. Es komme lediglich darauf an, was tatsächlich der Lebensstellung – d.h. dem Lebensstandard – des Versicherten entspreche. Unter "Lebensstellung" i.S. von § 87 Satz 2 SGB VII sei der durch sämtliche ihrer Einkünfte bestimmte (geprägte) soziale Status einer Person zu verstehen, ohne dass die betreffende Person im relevanten Zeitraum Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bezogen habe (Verweis auf Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 03.12.2002 – B 2 U 23/02 R). Daher seien Sozialleistungen, wie Renten, Leistungen der Arbeitsverwaltung, Krankengeld als Einkünfte anzusehen, die, wenngleich nicht im Rahmen des § 82 Abs. 1 SGB VII, so doch unter bestimmten Voraussetzungen im Wege des § 87 SGB VII zur Bestimmung des JAV herangezogen werden könnten (Verweis auf BSG, Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 15/02 R). Der Ansatz des Mindest-JAV i.H. von 15.120,00 € zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls sei nicht unbillig i.S. des § 87 SGB VII. Es lasse sich nicht feststellen, dass dieser Betrag nicht "der Lebensstellung des Verletzten" vor dem Unfall entspreche, d.h. außerhalb jeder Beziehung zu dem stehe, was für den Kläger zum Unfallzeitpunkt bzw. in der Zeit davor die finanzielle Lebensgrundlage gebildet habe. Nach der Rechtsprechung des BSG sei jedenfalls bei einer Abweichung des vom Versicherungsträger angesetzten JAV gegenüber dem den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechenden Jahreseinkommen von 40 v.H. eine erhebliche Unbilligkeit zu verzeichnen (Verweis auf BSG, Urteil vom 29.10.1981 – 8/8a RU 68/80). Hier habe der Mindest-JAV deutlich über den vom Kläger im maßgebenden Zwölfmonatszeitraum erzielten Einkünften in Form von Krankengeld gelegen. Von einer erheblichen Unbilligkeit i.S. des § 87 SGB VII könne daher nicht die Rede sein. Denn für die Beurteilung dessen, was für den Kläger im maßgeblichen Zeitraum die finanzielle Lebensgrundlage gebildet habe, könne der vermeintliche prognostische Verdienst ohne Arbeitsunfähigkeit nicht bedeutsam sein. Schließlich sei der Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheids vom 07.09.2017 auch nicht wegen Unbestimmtheit rechtswidrig und ausreichend begründet i.S. von § 35 Abs. 1 SGB X gewesen.

 

Gegen den ihm am 06.03.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 27.03.2020 Berufung eingelegt. § 87 SGB VII solle atypische Fallgestaltungen erfassen. Hierzu zähle auch der Fall, dass der Verletzte vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezogen habe. Dies ergebe sich aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung der JAV-Vorschriften im Jahre 1963. Hier sei zu berücksichtigen, dass sich seine Lebensstellung durch den 421 Tage andauernden Krankengeldbezug nicht auf Dauer geändert habe. Das Krankengeld habe seine Lebensstellung und seinen Status gerade nicht geprägt, da mit seiner Rückkehr in das Erwerbsleben zu rechnen gewesen sei.

 

 

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 02.03.2020 und den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.08.2019 aufzuheben und

 

die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheides vom 07.09.2017 abzuändern und dem Kläger ab 01.01.2014 eine höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung eines von der Beklagten nach billigem Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts festzusetzenden Jahresarbeitsverdienstes zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen. Die vorgenannten Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Der Gerichtsbescheid des SG war aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.08.2019 zu verpflichten, den Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheides vom 07.09.2017 dahin abzuändern, dass dem Kläger ab 01.01.2014 eine höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung eines von der Beklagten nach billigem Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts festzusetzenden JAV zu gewähren ist.

 

 

 

I.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist – neben der erstinstanzlichen Entscheidung – der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.08.2019, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheides vom 07.09.2017 abzuändern und dem Kläger unter Zugrundelegung eines nach § 87 SGB VII festzusetzenden JAV eine höhere Verletztenrente zu gewähren. Bei der Festsetzung des JAV handelt es sich nicht um einen abtrennbaren Streitgegenstand. Vielmehr ist im Streit ein einheitlicher Anspruch (auf Rente), dessen Höhe sich durch die Faktoren MdE und JAV bestimmt. Eine Festsetzung des JAV ist mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt nach § 31 SGB X, sondern lediglich eine verwaltungsinterne Klärung eines Wertfaktors im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente (BSG, Urteil vom 23.07.2015 – B 2 U 9/14 R, RdNr. 11; Urteil vom 18.09.2012 – B 2 U 14/11 R, RdNr 18; beide juris). Ein Anspruch auf höhere Verletztenrente kann vorliegend nur bestehen, wenn der JAV aufgrund der Vorschrift des § 87 SGB VII festzusetzen war und sich hieraus ein höherer JAV als der von der Beklagten bislang in dem Bescheid vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheides vom 07.09.2017 festgesetzten JAV ergibt. Der Kläger begehrt auf der Grundlage der Vorschrift des § 44 SGB X die Überprüfung und Abänderung des vorgenannten bestandskräftig gewordenen Bescheides und verfolgt dieses Klagebegehren zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Grundsätzlich kann ein Anspruch auf Abänderung eines Bescheides auf der Grundlage des § 44 SGB X nach der Rechtsprechung des BSG zulässigerweise zugleich mit der Erhebung einer Leistungsklage verbunden werden (BSG, Urteil vom 26.04.2016 – B 2 U 14/14 R, RdNr, 15, m.w.N., juris). Allerdings kann der Anspruch auf Festsetzung einer höheren Rente unter Beachtung eines nach § 87 SGB VII festzusetzenden JAV nur darauf gerichtet sein, die Beklagte zu verpflichten, aufgrund erforderlicher Neufestsetzung des JAV nach pflichtgemäßen Ermessen hinsichtlich der Höhe der Rente neu zu bescheiden (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 15, m.w.N., juris). Stellt sich der nach den allgemeinen Vorschriften ermittelte JAV als erheblich unbillig dar, ist die Festsetzung des JAV ins billige Ermessen gestellt. Dies bedeutet auch, dass es nicht nur einen "billigen" JAV gibt (BSG, Urteil vom 29.10.1981 – 8/8a RU 68/80, RdNr. 22, juris). Das Gewaltenteilungsprinzip verbietet den Gerichten, ihr Ermessen an die Stelle des vom Versicherungsträger auszuübenden billigem Ermessens zu setzen (BSG, a.a.O.).

 

 

 

II.

Die zulässige Klage ist begründet. Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Abänderung des Bescheides vom 25.03.2010 in der Fassung des Bescheides vom 07.09.2017, da die Beklagte die Rente nicht unter Zugrundlegung eines nach ihrem billigen Ermessen festzusetzenden JAV berechnet hat.

 

1.

Die Festsetzung des JAV richtet sich nach §§ 82 ff. SGB VII. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist der JAV der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte (§ 14 Sozialgesetzbuch Viertes Buch <SGB IV>) und Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV sind Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Dabei ist im Rahmen der Ermittlung des JAV ohne Bedeutung, ob auf die Einnahmen ein Rechtsanspruch besteht oder diese – wie etwa freiwillig gezahltes Urlaubsgeld oder Weihnachtsgeld – freiwillig vom Arbeitgeber gezahlt werden (BSG, Urteil vom 03.12.2002 – B 2 U 23/02 R, RdNr. 20, juris). Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Arbeitseinkommen der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Für Zeiten, in denen der Versicherte in dem in § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII genannten Zeitraum kein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bezogen hat, wird das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das seinem durchschnittlichen Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen in den mit Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen belegten Zeiten entspricht (§ 82 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).

 

Ist ein nach der Regelberechnung, nach den Vorschriften bei Berufskrankheiten oder nach der Regelung über den Mindest-JAV festgesetzter JAV in erheblichem Maße unbillig, wird er nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchst-JAV festgesetzt (§ 87 Satz 1 SGB VII); hierbei werden insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt (§ 87 Satz 2 SGB VII).

 

Der JAV ist zunächst nach der Regelberechnung oder – wenn diese nicht anwendbar ist – nach der Regelung über den Mindest-JAV festzusetzen. Erst nach dieser Festsetzung ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob der im Einzelfall berechnete JAV in erheblichen Maße unbillig ist (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 17, juris).

 

a)

Vorliegend kann der JAV nicht nach der Regelberechnung ermittelt werden. Der nach der Regelung über den Mindest-JAV ermittelte JAV beträgt 15.120,00 €.

 

Der Zeitraum nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII verläuft vom 01.12.2006 bis 30.11.2007. In diesem Zeitraum hat der Kläger weder Arbeitsentgelt noch Arbeitseinkommen erzielt. Zutreffend gehen die Beklagte und das SG davon aus, dass das von dem Kläger in diesem Zeitraum erzielte Krankengeld kein Arbeitsentgelt darstellt. Unabhängig von der Frage, von welcher Alternative des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV man ausgeht, ist Voraussetzung für die Charakterisierung einer Einnahme als Arbeitsentgelt, dass sie eine Gegenleistung für die Arbeit im weitesten Sinne ist (BSG, Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 15/02 R, RdNr. 28, juris), d.h., dass die Beschäftigung die Grundlage ist, aus der das Arbeitsentgelt herrührt und sich damit für die Beziehung von Einnahmen und Beschäftigung ein innerer Zusammenhang ergeben muss. Hierher gehören demnach vor allem die Gegenleistungen des Arbeitgebers oder u.U. eines Dritten für eine konkret zu ermittelnde Arbeitsleistung des Beschäftigten aber auch solche Vergütungen, die wesentlich von dem Ziel mitbestimmt sind, dem Beschäftigten neben dem laufend gezahlten Arbeitsentgelt eine zusätzliche Vergütung für geleistete Arbeit zukommen zu lassen und zugleich einen Anreiz für weitere erfolgreiche Arbeit zu schaffen, wie etwa Gratifikationen, Gewinnbeteiligungen und sonstige Vorteile. Ebenso erfasst werden bestimmte Zahlungen im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis, denen ein Anspruch des Arbeitgebers auf eine Arbeitsleistung nicht gegenübersteht, wie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Weihnachts- und das Urlaubsgeld und zwar auch dann, wenn kein arbeitsrechtlicher Anspruch auf die Zahlung besteht. Ebenso wie andere Sozialleistungen wie Rente und Arbeitslosengeld wird das Krankengeld gerade nicht im Hinblick auf eine dem Versicherten zuzuordnende Tätigkeit gezahlt und hat daher nicht den Charakter von Arbeitsentgelt.

 

Ebenfalls zutreffend gehen Beklagte und SG davon aus, dass § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nicht zur Anwendung kommt, da diese Vorschrift ausdrücklich voraussetzt, dass innerhalb des sich aus § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ergebenden Zeitraumes Arbeitsentgelt erzielt worden ist, was vorliegend nicht der Fall ist.

 

Wenn sich kein JAV nach den Regelungen des § 82 SGB VII berechnen lässt, ist grundsätzlich der Mindest-JAV i.S. von § 86 Abs. 1 SGB VII i.H. von 60 % der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgebenden Bezugsgröße – hier 15.120,00 € – festzusetzen, wenn dieser nicht in erheblichem Maße unbillig i.S. von § 87 Satz 1 SGB VII ist.

 

b)

Der nach der Regelung über den Mindest-JAV festgesetzte JAV ist jedoch vorliegend in erheblichem Maße unbillig i.S. von § 87 Satz 1 SGB VII. Der Begriff "in erheblichem Maße unbillig" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Prüfung der Unfallversicherungsträger keinen Beurteilungsspielraum hat und der vom Gericht in vollem Umfang überprüfbar ist; erst bei Vorliegen seiner Voraussetzungen hat der Versicherungsträger Ermessenserwägungen anzustellen (BSG, Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 15/02 R, RdNr. 31, juris). Über das Vorliegen einer erheblichen Unbilligkeit in diesem Sinne kann nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Bereits hier sind die bei der Feststellung des billigen JAV zu beachtenden Bewertungsgesichtspunkte, Fähigkeiten, Ausbildung und Lebensstellung des Verletzten, seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit (§ 87 Satz 2 SGB VII), zu berücksichtigen (BSG, a.a.O.). § 87 SGB VII soll atypische Fallgestaltungen erfassen und – ausgerichtet u.a. am Lebensstandard des Versicherten – für diese zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Vorschrift ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Regelungen zur Berechnung des JAV sollen für den Regelfall eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen (zur Vorgängervorschrift § 577 Reichversicherungsordnung <RVO>: BSG, Urteil vom 26.04.2016 – B 2 U 14/14 R, RdNr. 23, juris). Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen, kann zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine Korrektur des JAV angezeigt sein (BSG, a.a.O.). Die Zielvorstellungen des Gesetzgebers gehen dahin, dass es unbillig ist, ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges ohne den Arbeitsunfall nicht eingetretenes und der Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitseinkommen der Rentenberechnung als JAV zugrunde zu legen und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen (BSG, Urteil vom 09.12.1993 – 2 RU 48/92, RdNr. 26, juris). In Bezug auf die "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Verletzten geprägt haben. In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall erzielt hat (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 29; Urteil vom 11.02.1981 – 2 RU 65/79, RdNr. 24 m.w.N., juris). Besondere die Unbilligkeit rechtfertigende Umstände sind z.B. angenommen worden bei unterwertiger Beschäftigung und Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist z.B. durch unbezahlten Urlaub (BSG, Urteil vom 26.04.2016 – B 2 U 14/14 R, RdNr. 23; Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 29; Urteil vom 11.02.1981 – 2 RU 65/79, RdNr. 25; alle juris).

 

Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der in § 87 Satz 2 SGB VII genannten Kriterien ist der von der Beklagten zugrundgelegte Mindest-JAV i.H. von 15.120,00 € erheblich unbillig.

 

Hierbei hat der Senat insbesondere die gemäß § 87 Satz 2 SGB VII zu berücksichtigenden Kriterien "Lebensstellung des Versicherten" und "die Tätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles" berücksichtigt. Der Kläger übte die Tätigkeit eines Fachverkäufers seit 2001 vor dem Eintritt des Versicherungsfalls und der zuvor bestehenden Arbeitsunfähigkeit bei der gleichen tarifgebundenen Arbeitgeberin aus. Diese Tätigkeit und der hieraus erzielte Verdienst (Monatslohn zzgl. Zuschläge) prägte seit Jahren seine Lebensstellung. Der Kläger hat sich von dieser Tätigkeit einschließlich den mit ihr verbundenen Verdiensterwartungen und der Lebensstellung nicht dadurch gelöst, dass er zwischenzeitlich das niedrigere Krankengeld bezogen hatte. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er auch in dem nach der Rechtsprechung in zeitlicher Hinsicht zu betrachtenden Zwölfmonatszeitraum des § 82 Abs. 1 SGB VII ausschließlich Krankengeld bezogen hat, denn dieses entsprach gerade nicht seiner Lebensstellung. Dies ergibt sich aus Folgendem: Das Arbeitsverhältnis des Klägers bestand während der gesamten Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit und damit auch während des Zwölfmonatszeitraumes fort, er nahm die gleiche Tätigkeit am 03.12.2007 wieder auf und übte sie zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls auch noch aus. Die Absenkung seiner Einkünfte beruhte weder auf einer Entscheidung des Klägers noch hatte er sich auf diese dauerhaft eingerichtet. Bei dem Krankengeld handelte es sich um ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der seit Jahren üblichen Lebenshaltung des Klägers nicht entsprechendes Erwerbsersatzeinkommen. Der Kläger stand in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis und nach erfolgter Gesundschreibung erfolgte die Rückkehr an seinen alten Arbeitsplatz, so dass seine Einkünfte nur vorübergehend abgesenkt waren.

 

Hat der Versicherte keinerlei Arbeitsentgelt im Rahmen des Zwölfmonatszeitraumes vor dem Versicherungsfall erzielt, ist für die Frage, welches Einkommen mit dem sich aus der Regelberechnung ergebenden JAV bzw. dem Mindest-JAV zu vergleichen ist, nicht das vom Verletzten vor der Zeit ohne Arbeitsentgelt erzielte Arbeitsentgelt heranzuziehen, sondern es kommt darauf an, was der Verletzte bei einer gleichartigen Erwerbstätigkeit verdient hätte (BSG, Urteil vom 29.10.1981 – B 8/8a RU 68/80, RdNr. 22, juris). Es muss somit fiktiv festgestellt werden, wieviel ein dem Verletzten gleichartiger Arbeitnehmer in der Zeit, in der er kein Arbeitsentgelt bezog, erzielt hat oder wahrscheinlich erzielt hätte (Keller: in Hauck/Noftz SGB VII, Stand 01/2021, § 87, RdNr. 6 f.).

 

Vorliegend kann zur Berechnung die vor und nach seiner Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit herangezogen werden. Von September 2005 bis August 2006 erzielte er hieraus ein Arbeitsentgelt i.H. von insgesamt 21.056,86 € bei einem Monatsgehalt i.H. von 1.584,33 € und ab Mai 2006 i.H. von 1.611,26 € jeweils zzgl. von Entgelten für Überstunden und Schichtzuschlägen. Bei der Berechnung des fiktiven Arbeitsentgelts für die Zeit, in der der Kläger innerhalb des Zeitraumes nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII kein Arbeitsentgelt bezogen hat, sind vorliegend zusätzlich Tariflohnerhöhungen zu berücksichtigen, von denen der Kläger profitiert hätte, wenn er nicht arbeitsunfähig gewesen wäre. So war zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls der Monatsverdienst des Klägers von 1.611,26 € im Monat August 2006 auf 1.818,63 € im Dezember 2007 gestiegen. Entsprechend § 87 Satz 2 SGB VII ist aber auch ausdrücklich die Tätigkeit des Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls bei den Billigkeitserwägungen zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Tätigkeit auf Dauer angelegt und nicht nur vorübergehend Schwerpunkt der beruflichen Tätigkeit ist (BSG, Urteil vom 29.10.1981 – 8/8a RU 68/80, RdNr. 20, juris). Zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 13.12.2007 war die Tätigkeit des Klägers als Fachverkäufer Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit und auf Dauer angelegt, so dass gemäß § 87 Satz 2 SGB VII auch die Einkommensmöglichkeiten aus dieser Tätigkeit bei den Billigkeitserwägungen zu berücksichtigen waren. Im Dezember 2007 betrug das aufgrund zwischenzeitlicher Tarifanpassungen erhöhte Monatsentgelt allein bereits 1.813,00 € zzgl. der weiteren Entgeltbestandteile 1.833,97 €. Hinzuzurechnen sind noch die Wechselschichtzulage i.H. von 51,60 € und die Samstagszulage in Höhe von 8,60 €, so dass der Kläger aus seiner Tätigkeit in dem Monat Dezember einen Betrag i.H. von insgesamt 1.899,17 € erzielte, was hochgerechnet einen Jahresverdienst i.H. von 22.730,44 € ergibt. Zzgl. der im Dezember 2007 ausgezahlten Einmalleistungen (1.408,70 €) hätte der Kläger aus "der Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles" mit einem Jahresverdienst i.H. von insgesamt 24.138,74 € rechnen können.

 

Dagegen kann das von dem Kläger in dem Zwölfmonatszeitraum vor dem Arbeitsunfall Dezember 2006 bis November 2007 gewährte Krankengeld i.H. von insgesamt 12.639,60 € entgegen der Ansicht des SG Dresden vorliegend nicht als Vergleichsmaßstab genommen werden. Zwar können Sozialleistungen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Bestimmung der erheblichen Unbilligkeit des § 87 Satz 1 SGB VII herangezogen werden (BSG, Urteil vom 28.04.1977 – 2 RU 39/75, RdNr. 22, juris). Die vorliegenden Umstände gebieten dies jedoch nicht. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der sich aus der Vorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ergebenden gesetzgeberischen Wertung. Wird Krankengeld nicht in gesamten Zwölfmonatszeitraum nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII bezogen, dann kommt grundsätzlich die Vorschrift des § 82 Abs. 2 Satz SGB VII zum Tragen mit der Folge, dass für die Zeiten des Krankengeldbezugs das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt wird, das dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt in den mit Arbeitsentgelt belegten Zeiten des Zeitraums entspricht. Durch diese Vorschrift soll erreicht werden, dass der durch den Ausfall von Arbeitseinkommen vornehmlich durch Krankheit und Arbeitslosigkeit im Jahr vor dem Unfall bedingte niedrigere Lebensstandard, der in der Regel nicht lange anhält, gerade nicht zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente gemacht wird (zu § 577 RVO: BSG, Urteil vom 28.04.1977 – 2 RU 39/75, RdNr. 22, juris). Auch wenn der Kläger von der Vorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nicht profitieren kann, da er in dem Zwölfmonatszeitraum keinen Tag Arbeitsentgelt bezogen hat, ist die sich aus dieser Vorschrift ergebende gesetzgeberische Wertung auch für den Fall zu beachten, dass eine versicherte Tätigkeit im gesamten Zwölfmonatszeitraum durch Krankengeld unterbrochen und im Anschluss die Tätigkeit fortgesetzt worden ist. Denn auch hier hat sich der Versicherte nicht von der vormaligen Tätigkeit und der aus ihr resultierenden Lebensstellung gelöst. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Lebensstandard nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer auf dem Bezug von Sozialleistungen beruhte (BSG, Urteil vom 28.04.1977 – 2 RU 39/75, RdNr. 22, juris) oder wenn Sozialleistungen durch den Eintritt des Versicherungsfalles und etwa den Hinterbliebenen nicht mehr zur Verfügung stehen (BSG, Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 17/02 R, RdNr. 33, juris). Keine der beiden Fallgestaltungen ist hier gegeben, insbesondere gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kläger auf Dauer auf das Niveau des Krankengeldes eingerichtet hatte. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich daher auch von dem vom LSG Thüringen zu entscheidenden Sachverhalt in dem vom SG zitierten Urteil (LSG Thüringen, Urteil vom 28.07.2004 – L 1 KN 623/03 U, juris). Denn vorliegend hat der Kläger vor und nach dem Bezug von Krankengeld die gleiche Tätigkeit ausgeübt, während in dem Verfahren L 1 KN 623/03 U der Kläger vor Aufnahme der versicherten Tätigkeit arbeitslos war und damit – anders als hier – gerade nicht die gleiche Beschäftigung ausgeübt hatte.

 

Nach Ansicht des Senats steht der Anwendung des § 87 SGB VII auch nicht entgegen, dass der Kläger im gesamten Zwölfmonatszeitraum nach § 82 SGB VII unverändert Krankengeld bezogen hat. Zwar begründen nach der Rechtsprechung des BSG Ungleichheiten zwischen tatsächlichem Einkommen und gesetzlich berechnetem JAV, wie sie sich auch aus Änderungen der Arbeitszeit und des -entgelts ergeben können, eine Unbilligkeit des JAV in erheblichem Maße nur, wenn sie innerhalb der auch nach § 87 SGB VII maßgebenden Jahresfrist eingetreten sind (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 27; Urteil vom 26.04.2016 – B 2 U 14/14 R, RdNr. 24, juris). Dies folgert das BSG aus Sinn und Zweck der Regelungen zur Berechnung des JAV nach §§ 82 f. SGB VII, die eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen sollen und die Aufarbeitung von langfristigen Erwerbsbiographien vermeiden sollen (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 28, juris). Allerdings bezog sich diese Rechtsprechung auf Sachverhalte, in denen Verletzte sich darauf berufen haben, dass sich vor dem Zwölfmonatszeitraum des § 82 Abs. 1 SGB VII etwas geändert hatte oder sie nach dem Zwölfmonatszeitraum ohne den Arbeitsunfall höhere Verdienstchancen gehabt hätten. Als Beispiele sind zu nennen eine Versicherte, die vor dem maßgeblichen Zeitraum eine Vollzeittätigkeit ausgeübt hatte, aber im gesamten Zeitraum nach § 82 Abs. 1 SGB VII nur in Teilzeit beschäftigt war (BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, juris) und ein Diplom-Chemiker, der während des gesamten Zwölfmonatszeitraumes und zum Unfallzeitpunkt während seines Promotionsverfahrens eine befristete Teilzeitstelle als wissenschaftliche Hilfskraft innehatte und sich darauf berief, dass er mit seiner Teilzeittätigkeit während seines Promotionsverfahrens unter einer qualifikationsadäquaten Vergütung zurückgeblieben sei und dieses Einkommen nach Abschluss der Promotion und gleichzeitigem Auslaufen des Teilzeitverhältnisses nicht der Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit bilden werde (BSG, Urteil vom 26.04.2016 – B 2 U 14/14 R, juris). Mit diesen Konstellationen ist der vorliegende Sachverhalt nicht zu vergleichen. Bei dem Kläger ist nämlich weder vor noch nach dem Zwölfmonatszeitraum – anders als in den vom BSG entschiedenen Sachverhalten – eine maßgebliche Änderung seiner Verdienstmöglichkeit eingetreten, da er in einem unbefristeten tarifgebundenen Arbeitsverhältnis stand und nur vorübergehend Krankengeld bezogen hat. Mit Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit hatte er sofort wieder die gleichen Verdienstmöglichkeiten wie zuvor, wie sich vorliegend auch bei Wiederaufnahme der Tätigkeit am 03.12.2007 zeigte. Beim Fehlen einer Änderung sind bei der Anwendung des § 87 SGB VII die Einkünfte zugrunde zu legen, die der Versicherte in dem Bemessungszeitraum nach seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung und seiner Lebensstellung hätte erzielen können (vgl. auch Keller: in Hauck/Noftz SGB VII, Stand 01/2021, § 87, RdNr. 6 f.). Etwas anderes gilt bei Bezug von Sozialleistungen nur dann, wenn der Lebensstandard des Versicherten nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer nicht mehr auf seinem vormaligen Einkommen beruht (BSG, Urteil vom 28.04.1977 – 2 RU 39/75, RdNr. 22, juris). Wie aufgezeigt, war dies vorliegend gerade nicht der Fall. Darüber hinaus können sich die Ausführungen des BSG (im Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 24/10 R, RdNr. 27, juris) nicht auf Sachverhalte wie den vorliegenden, in dem sich der Versicherungsfall nach dem Zwölfmonatszeitraum ereignet hat, beziehen. Eine Beschränkung auf den Zwölfmonatszeitraum würde dazu führen, dass der "Tätigkeit des Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls" in dieser Konstellation keine Bedeutung zukäme. Eine solche Beschränkung würde aber der ausdrücklichen Erwähnung bei den gemäß § 87 Satz 2 SGB VII zu berücksichtigenden Kriterien widersprechen.

 

Der von der Beklagten angesetzte Mindest-JAV i.H. von 15.120,00 € beträgt im Vergleich zu dem Jahresverdienst vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (21.056,86 €) 71,81 % und im Vergleich zu dem zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls erwartbaren Jahresverdienst (24.138,74 €) 62,64 %. Hieraus folgt der Senat, dass unter Berücksichtigung von Tarifanpassungen der für den Zeitraum des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zu berechnende fiktive JAV deutlich über 30 % über dem fiktiven Mindest-JAV lag und damit sich als erheblich unbillig i.S. von § 87 Satz 1 SGB VII darstellt. Weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung finden sich starre Richtwerte, in der Form, dass etwa ab einem bestimmten Prozentsatz der Abweichung eine Unbilligkeit in erheblichen Maße anzunehmen wäre (BSG, Urteil vom 18.03.2003 – B 2 U 15/02 R, RdNr. 36, juris). Zu berücksichtigen sind die Gründe für die vorübergehende Erhöhung oder Reduzierung des Einkommens, deren Dauer und die Höhe der prozentualen Abweichung des JAV von dem Betrag, der unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien nach Satz 2 als billige Grundlage der Rente in Betracht kommt oder der die Annahme der Unbilligkeit begründet (Schudmann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 87 SGB VII, Stand: 15.01.2022, RdNr. 38). Als unbeachtlich sind Abweichungen angesehen worden, die sich im Rahmen bis zu 20 % bewegen (zum Ganzen Schudmann, a.a.O., RdNr. 39 m.w.N.). Das BSG hat Abweichungen von 40 % (BSG, Urteil vom 29.10.1981 – 8/8a RU 68/80, RdNr. 21, juris), 37 % (BSG, Urteil vom 11.02.1981 – 2 RU/ 65/79, RdNr. 25, juris), von 31 % (BSG, Urteil vom 11.02.1981 – 2 RU 69/79, RdNr. 26, juris) und von 15,64 % (BSG, Urteil vom 19.05.1983 – 2 RU 62/82, RdNr. 11) als erheblich unbillig angenommen. Der Senat hält unter Berücksichtigung der dargelegten Umstände des Einzelfalls jedenfalls eine Abweichung von mehr ab 30 % von dem fiktiven Arbeitsentgelt für erheblich unbillig.

 

3.

Da mithin der sich aus der Regelung über den Mindest-JAV ergebende JAV unbillig i.S. von § 87 Satz 1 SGBVII ist, hat die Beklagte den JAV nach billigem Ermessen festzustellen und dabei die Bewertungskriterien des § 87 Satz 2 SGB VII zu beachten. Von diesen werden insbesondere die Lebensstellung des Klägers und die Tätigkeit im Zeitpunkt des Versicherungsfalles zu berücksichtigen sein, wobei sich nach der Auffassung des Senats die Lebensstellung des Klägers nicht aus den nur vorübergehend abgesenkten Einkünften aus Krankengeld, sondern aus seinem fortbestehenden Arbeitsverhältnis ergibt. Die Beklagte wird sich dabei an den Einkünften zu orientieren zu haben, die der Kläger in dem Zeitraum des § 82 Abs. 1SGB VII ohne Arbeitsunfähigkeit hätte erzielen können. Wie sie im Einzelnen dabei vorgeht, bleibt ihrem Ermessen überlassen. Dabei wird es nicht zu beanstanden sein, wenn die Beklagte ohne weitere Ermittlungen einen Durchschnittswert zwischen dem vor der Arbeitsunfähigkeit und dem zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls erzielten Arbeitsentgeltes bilden würde, um weiteren Ermittlungsaufwand zu vermeiden. Ein Abstellen allein auf den im Dezember 2007 und danach erzielten Verdienst würde allerdings der Wertung der Regelungen der §§ 82 ff. SGB VII zuwiderlaufen, da diese an den Zwölfmonatszeitraum vor dem Arbeitsunfall anknüpfen.

 

4.

Der Kläger kann die Berücksichtigung des neu durch die Beklagte nach billigem Ermessen festzusetzenden JAV für Leistungszeiträume ab 01.01.2014 verlangen. Dies ergibt sich aus der Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X, wonach Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden. Gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 i.V. mit Satz 2 SGB X wird bei der Rücknahme auf Antrag der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an, in dem der Antrag gestellt worden ist, gerechnet. Bei dem im Dezember 2018 gestellten Antrag des Klägers auf Überprüfung sind rückwirkend zu Unrecht nicht geleistete Rentenzahlungen rückwirkend ab dem 01.01.2014 zu erbringen.

 

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
Saved