Ein querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, bei dem eine Harninkontinenz, eine Unmöglichkeit der Toilettenbenutzung ohne fremde Hilfe und eine Gefahr der Geschwürsbildung bei Windelbenutzung vorliegt, ist an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert.
Die Berufung wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Feststellung der gesundheitlichen Voraussatzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches der Rundfunkgebührenbefreiung vom Mai 1992 an zu treffen ist.
Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen einer Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht im Falle des Klägers.
Der Kläger leidet unter einer hohen Querschnittslähmung und ist Rollstuhlfahrer.
Auf seinen am 21. Mai 1992 bei dem Beklagten eingegangenen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz holte der Beklagte einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Kayser vom 7. Dezember 1992 ein, der die Diagnose einer hochgradigen, spastischen Querschnittslähmung C4/C5 mit inkompletten Sensibilitätsstörungen und einer neurogenen Blasenentleerungsstörung stellte. Auf entsprechende Fragen des Beklagten teilte Sanitätsrat K. mit, der Kläger beherrsche den Urinabgang nicht und bedürfe zur Verrichtung der Notdurft fremder Hilfe.
Entsprechend einer durch den ärztlichen. Dienst vorgenommenen Bewertung stellte der Beklagte mit Bescheid vom 4. Mai 1993 den Grad der Behinderung mit 100 fest und bezeichnete als Behinderung: "Querschnittslähmung". Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen RF) lehnte er ab.
Mit Eingangsdatum vom 17. Mai 1993 legte der Kläger gegen diese Ablehnung Widerspruch ein. Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des ärztlichen Dienstes wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 1993 zurück.
Die gegen die Ablehnung gerichtete Klage ist am 14. Oktober 1993 beim Sozialgericht Magdeburg eingegangen. Der Begründung hat der Kläger eine erneute Bescheinigung seines Hausarztes vom 2. November 1993 beigefügt, nach der Harn- und Stuhlinkontinenz, ständige Gefahr durch Dekubitalgeschwüre und eine Kreislaufschwäche bei Blutunterdruck den Kläger lediglich eingeschränkt gesellschaftsfähig und auf häuslichen Funk und Fernsehen angewiesen sein ließen. Der Kläger selbst hat auf die Unmöglichkeit hingewiesen, im Rahmen des Besuches einer kulturellen Veranstaltung ein WC aufzusuchen.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 10. Februar 1994 den Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides abgeändert und den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilausgleiches "RF" festzustellen. Es hat zur Begründung ausgeführt, der Kläger sei von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen, weil er lediglich zwei bis drei Stunden in seinem Rollstuhl sitzend verbringen könne, wegen seines Wohnortes verbleibe ihm nur eine verschwindend geringe Zahl öffentlicher Veranstaltungen, weil er An- und Abfahrten von jeweils einer Stunde in Kauf nehmen müsse.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 21. Februar 1994 zugestellte Urteil mit Eingangsdatum beim Landessozialgericht vom 3. März 1994 Berufung eingelegt. Er hat zur Begründung ausgeführt, der Wohnort des Klägers sei für die Feststellung behinderungsbedingter Nachteile belanglos, weil ein ungünstiger Wohnort selbst maßgebliche Ursache verminderter Teilnahmemöglichkeiten an Veranstaltungen sei, nicht jedoch die Behinderung. Die Urininkontinenz sei kein Hinderungsgrund für die Veranstaltungsteilnahme, weil deren Folgen durch einmal zu tragende Windelhosen mit einer geruchsfreien Aufnahmemöglichkeit von bis zu zwei Stunden beschränkt werden könnten.
Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. Februar 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf das nach seiner Auffassung zutreffende Urteil des Sozialgerichtes.
Das Gericht hat die Schwerbehindertenakte des Beklagten über den Kläger - Geschäftszeichen 38 121 20 4392 0 - beigezogen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.
Der Kläger ist durch den Bescheid des Beklagten vom 4, Mai 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 1993 im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S, 1 SGG beschwert; denn er ist rechtswidrig.
Der Kläger hat gemäß § 4 Abs. 4 des Schwerbehindertengesetzes i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 28. April 1992 (GVBl. LSA S. 308) Anspruch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift, weil er wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann.
Ausschlaggebend für diese Einschätzung ist die beim Kläger vorliegende Harninkontinenz bei gleichzeitig bestehender Unfähigkeit zur Toilettenbenutzung ohne fremde Hilfe. Die entsprechende Einschätzung, die ihr zugrunde liegenden Diagnosen und die Befunde ergeben sich aus dem bereits von der Beklagten eingeholten glaubhaften Befundbericht des Sanitätsrates K., dessen vom Kläger dem Gericht vorgelegter Bescheinigung sowie den glaubhaften Angaben des Klägers zu den Auswirkungen seiner Krankheit. Insoweit hat im übrigen der Beklagte die medizinische Einschätzung auch seiner Bewertung des Grades der Behinderung und der Voraussetzungen anderer Nachteilsausgleiche zugrunde gelegt.
Die Harninkontinenz und die Unmöglichkeit einer Toilettenbenutzung ohne fremde Hilfe hindern den Kläger an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, weil ihm dadurch eine zeitliche Abstimmung eines Toilettenbesuchs mit einem für ihn, eine Begleitperson und andere Teilnehmer störungsfreien Verlauf einer öffentlichen Veranstaltung unmöglich ist. Denn einerseits müßte er - schon wegen der Geschwürsgefahr im Gesäßbereich – andererseits dürfte er aber auch - schon unter Gesichtspunkten der allgemeinen Menschenwürde - trotz der theoretischen Möglichkeit einer Windelbenutzung sofort nach bemerktem Einnässen eine Toilette aufsuchen. Dies wird häufig andere Besucher stören, noch regelmäßiger einer Begleitperson zur Last fallen und letztlich den Veranstaltungsgenuß beim Kläger beschränken. Nicht übersehen werden kann dabei auch die deutliche Beschränkung möglicher Begleitpersonen auf diejenigen, die der Kläger, zur Hilfe bei der Toilettenbenutzung in Anspruch nehmen kann. Denn die Inanspruchnahme jeder fremden Person ist dem Kläger - ganz ungeachtet einer häufig sicher fehlenden Bereitschaft - angesichts der intimen Art der erforderlichen Hilfeleistung ebensowenig zuzumuten wie eine Beendigung des Veranstaltungsbesuchs in eingenäßtem Zustand.
Der Senat weicht insoweit nicht von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (Urt. vom 3. Juni 1987 - 9a RVs 27/85 - SozR 2 3870 § 3 SchwbG Nr. 25) ab, wonach ein Schwerbehinderter so lange nicht von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist, wie er mit technischen Hilfsmitteln (Rollstuhl) und einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann. Denn ausschlaggebend für die Einschätzung des Senats ist weder die bloße Bewegungsstörung beim Kläger, die ihm in der Tat bei Inanspruchnahme von Rollstuhl und Begleitpersonen das Erreichen von Veranstaltungsörtlichkeiten ermöglicht noch die räumliche Lage seines Wohnortes. Auch insoweit hält der Senat nämlich an der genannten Rechtsprechung fest, die die Wahl des Wohnortes und das damit verbundene Risiko der räumlichen Entfernung für nicht behinderungsbedingt erachtet. Die Einschätzung im vorliegenden Fall steht zu der Rechtsprechung nicht in Widerspruch, weil sie sich schon nicht mit Einschränkungen des Aufsuchens öffentlicher Veranstaltungen im Sinne des Erreichens des Veranstaltungsortes befaßt. Selbst bei einem weiteren Verständnis des Aufsuchens einschließlich des Verweilens am Veranstaltungsort entspricht die Einschätzung jedoch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, weil sie lediglich den Maßstab eines Aufsuchens "in zumutbarer Weise" auf den Einzelfall bezieht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision sind wegen der Bezugnahme auf eine geklärte Rechtsprechung nicht ersichtlich.