S 20 KA 4/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 20 KA 4/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Wirtschaftlichkeitsprüfung einer ärztlichen Verordnung, §§ 106, 106 b, c SGB V, § 7, § 6 und § 27 PV,
2. autosomal-rezessive kongenitale Ichthyose (ARCI) als seltene Erkrankung, medizinisch begründeter Einzelfall, § 31 Abs. 1 S. 4 SGB V, zur Verordnung von Natriumhydrogencarbonat als Rezeptur und damit Bezug eines in Wirkung und Qualität in Apothekenqualität gesicherten Stoffes
3. kein Regress gegen verordnenden Arzt


I. Die Klage wird abgewiesen.


II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.


III. Die Berufung wird zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung eines im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung gestellten Antrags auf Regress in Höhe von 546,83 € bezüglich vom Beigeladenen zu 1 in den Quartalen 4/2018 und 1/2019 als Rezeptur verordnetem Natriumhydrogencarbonat.

Auf den Prüfantrag der Klägerin vom 30.7.2020 hat der Beigeladene zu 1 mit Schreiben vom 4.11.2020 Stellung genommen. Der Patient MZ 00, zu dessen Gunsten die Verordnung erfolgte, leide seit Geburt im Jahr 2000 an einer schweren Form der Ichthyosis. Die klinische Diagnose der nicht heilbaren Erkrankung einer lamellären Ichthyosis sei mittels molekulargenetischen Untersuchungen bestätigt worden. Es handele sich um eine seltene Erkrankung. Es habe sodann Behandlung in der Spezialsprechstunde für Ichthyosis der Universitätshautklinik M-Stadt stattgefunden und die dort festgelegte Therapie werde bis heute unverändert durchgeführt. Es hätten sich stationäre Behandlungen bislang komplett vermeiden lassen, wenngleich der Hautbefund des Patienten weiterhin als schwergradig einzustufen sei. Bereits durch die Praxisvorgänger Dres.  B. sei 2015 gegenüber der Klägerin ausführlich erläutert worden, weshalb mangels Alternativen auf nicht verschreibungsfähige Medikamente und Substanzen zurückgegriffen werden müsse. Damals sei die Kostenübernahme aufgrund der Schwere dieser seltenen Hauterkrankung sowie mangels Therapiealternativen nicht abgelehnt worden. Derzeit erhalte der Patient an rezeptierter Lokaltherapie unter anderem Natriumbicarbonat für Bäder, die auch seitens der Universitätshautklinik M-Stadt bereits empfohlen und auch rezeptiert worden seien. Der Patient sollte mindestens zweimal pro Woche Bäder nehmen und brauche im Schnitt etwa 2000-2500 g Natriumhydrogencarbonat für ein Vollbad. Die Kosten hierfür könne der Patient nicht selbst tragen. Obgleich die Substanz bereits vor 2018 über mehrere Jahre verordnet worden sei, sei hier nie eine Kostenrückforderung seitens der Klägerin erfolgt. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin hier die Kostenübernahme zugesagt habe. Im Übrigen müsse Natriumbicarbonat hier im Einzelfall übernommen werden, zumal die einzig zugelassene Systemtherapie mit Acitretin bei dem Patienten infolge Nebenwirkungen nicht habe fortgeführt werden können. Der Beigeladene zu 1 fügte seiner Stellungnahme weitere ärztliche Unterlagen bei, eine Fotodokumentation sowie mehrere Schreiben der Klägerin an den Patienten MZ 00 mit jeweils Ablehnung von Kostenzusagen unter anderem für Natriumhydrogencarbonat, dort unter Hinweis auf medizinische und wirtschaftliche Verantwortung des Vertragsarztes für die Verordnung von Arzneimitteln, § 73 Abs. 2 Nummer 7 SGB V, und weitere Hinweise auf §§ 31,34 SGB V. Natriumhydrogencarbonat könne nicht zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 10.12.2020 den Antrag der Klägerin auf Festsetzung eines Regresses gegen den Beigeladenen zu 1 ab. Der Vertragsarzt habe mitgeteilt, dass bei dem Patienten nach einer Karenz von knapp zwei Wochen ohne Bäder sich aus dermatologischer Sicht der Hautbefund bereits deutlich verschlechtert habe, die Schuppung der Haut sowie der Juckreiz des Patienten hätten massiv zugenommen. Durch die nicht mehr durchgeführten Bäder sei die Keratolyse unzureichend, sodass es nebst einer Verschlechterung des Hautbefundes und dadurch bedingt zu zunehmenden Schmerzen komme. Eine stationäre Behandlung für den Patienten könne nur kurzfristig helfen.
Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung, § 106 SGB V, § 7, § 6 und § 27 PV, sei geprüft worden, ob die Praxis im Einzelfall die Bestimmungen der Arzneimittelrichtlinien eingehalten habe und ob gegebenenfalls Indikationen vorlägen, die die Verordnung im gesetzlich geregelten Ausnahmefall zulasten der GKV zulasse. Versicherte hätten nach § 31 Abs. 1 SGB V grundsätzlich einen Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V, konkretisiert durch die Arzneimittelrichtlinien, von der Verordnung ausgeschlossen seien. Aufgrund der Regelungen zur Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots seien nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGB V in Verbindung mit § 16 Abs. 1 und 2 AM-RL bestimmte Arzneimittel von der Versorgung der Versicherten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausgeschlossen bzw. nur eingeschränkt verordnungsfähig. Es sei auf die Anlage III zu den AM-RL zu verweisen. Apothekenpflichtige nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, sogenannte OTC-Präparate, seien seit dem 1.1.2004 grundsätzlich von der Verordnungsfähigkeit zulasten der GKV ausgeschlossen. Die Verordnung dieser Arzneimittel sei nur ausnahmsweise zulässig, wenn die Arzneimittel bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten würden. In der OTC-Übersicht der Anlage I lege der G-BA fest, welche OTC-Arzneimittel bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten würden und mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden dürften. Natriumbicarbonat sei dort nicht aufgeführt.
Jedoch greife § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V. Danach dürfe der Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nummer 6 SGB V von der Verordnung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Eine Festlegung auf bestimmte Wirkstoffe finde hier nicht statt.
Die lamelläre Ichthyose sei eine Keratinisierungsstörung und gekennzeichnet durch große Schuppen am ganzen Körper und das Fehlen einer signifikanten Erythrodermie. Es liege eine Prävalenz von etwa 1:100 000 bis 1:1 000 000 vor. Aus dem Bericht des Uniklinikums M-Stadt gehe hervor, dass die bisherige symptomatische Therapie fortgesetzt werden solle. Auch in der S1 Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Ichthyosen sei beschrieben, dass sich Badezusätze, unter anderem Natriumhydrogencarbonat, zur Unterstützung der Abschuppung als hilfreich erwiesen hätten. Nach Erachten des Beklagten seien die Natriumhydrogencarbonatbäder für die Therapie des Patienten unerlässlich. Die alkalische Eigenschaft von Natriumhydrogencarbonat bewirke durch ph-Erhöhung eine Aufweichung und Lösung der Keratose. Nur dadurch könne die Rehydratisierung der Haut im Rahmen der Bäder erfolgen und rückfettende Salben mit karatolytischen Inhaltsstoffen würden einer weiteren Rhagadenbildung entgegenwirken. Es handele sich hier bei dem Patienten MZ 00 um einen medizinisch begründeten Einzelfall, der Regressantrag sei abzulehnen.

Mit hiergegen erhobener Klage führte die Klägerin aus, dass es sich bei der lamellären Ichthyosis um eine schwerwiegende Erkrankung handele, die Notwendigkeit der Behandlung sei bereits ausführlich beschrieben und auf die S1 Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Ichthyosen hinzuweisen. Dort werde die Therapie mit Bädern unter Einsatz von Natriumbicarbonat, ca. 3-4 Handvoll (ca. 400 g) pro Badewanne, empfohlen und angeführt, dass vereinfachend auch handelsübliches Backpulver verwendet werden könne. Leitlinien würden eine Orientierungshilfe darstellen, im Gegensatz zu Richtlinien jedoch keine Rechtsnorm. Der S1 Leitlinie Ichthyose sei zu entnehmen, dass es zu Balneotherapie bei Ichthyose an methodisch hochwertigen Studien fehle. Wie von der Beklagten ausgeführt fehle in der OTC-Übersicht eine Empfehlung für Natriumhydrogencarbonat. Grundvoraussetzung hierfür wäre jedoch, dass es sich bei dem Präparat um ein apothekenpflichtiges Arzneimittel handele. Natriumhydrogencarbonat sei jedoch eine freiverkäufliche Substanz, in Handelsgeschäften würde man es unter den Namen Backsoda, Speisesoda, Speisenatron, Backnatron finden. Rezepturen ohne verschreibungspflichtige Bestandteile seien für Erwachsene ab dem 18. Geburtstag nicht zulasten der GKV verordnungsfähig. Die Verordnung dieser Rezepturbestandteile sei nur ausnahmsweise zulässig, wenn die Wirkstoffe bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten würden und in der OTC-Übersicht, Anlage I der Arzneimittel-Richtlinie gelistet sei. Dies treffe auf Natriumhydrogencarbonat nicht zu. Die bisherige Nichtbeanstandung liege an diesen Vorgaben, jedoch sei ab dem 18. Geburtstag die Rezeptur grundsätzlich nicht mehr verordnungsfähig.

Die Beklagte legte dar, dass vorliegend Natriumhydrogencarbonat 5 kg als Rezeptur, PZN 06460702, verordnet worden sei, laut Lauer-Taxe handele es sich um Apothekenbedarf, welcher nach der Vertriebsinformation apothekenexklusiv bezogen werde. Nach § 2 Abs. 1 Nummer 2 Arzneimittelgesetz (AMG) handele es sich hier um ein Arzneimittel. Die Ausführungen der Klägerin zu fehlender Verordnungsfähigkeit nach Anlage I der Arzneimittelrichtlinien werde auch von der Beklagten nicht hinterfragt, die Verordnungsfähigkeit dieser Rezeptur ende nach § 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V mit dem 18. Geburtstag. Hier sei allerdings von einem Seltenheitsfall auszugehen, also einer Krankheit, deren Beurteilung sich systematischer Erforschung entziehe. Es lägen keine zu Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vor. Auch diese Krankheiten seien vom Leistungsumfang der GKV nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen dafür keine Empfehlung abgegeben habe, vergleiche Bundessozialgericht,19.10.2004, B 1 KR 27/02 R.
Der Patient MZ 00 leide an einer autosomal-rezessiven kongenitalen Ichthyose (ARCI) mit einer wohl bisher noch nicht bekannten Mutationsvariante, vergleiche molekulargenetischer Befund vom 12.8.2013, Uniklinik F-Stadt. Die Erkrankung sei damit als sehr selten zu bezeichnen. Wie die Klägerin selbst anmerke, würden für die Balneotherapie bei Ichthyose methodische Studien fehlen.
Es liege ein Seltenheitsfall mit Verordnungsfähigkeit von Natriumhydrogencarbonat zulasten der GKV vor.

Es erging Beiladungsbeschluss vom 24.2.2021.

Der Beigeladene zu 1 wies nochmals hin auf die Seltenheit der Erkrankung des Patienten MZ 00. Dies sei auch der Grund, weshalb bislang nur eine S1 Leitlinie existiere, da beispielsweise verglichen mit einer atopischen Dermatitis oder Psoriasis das Patientenkollektiv zu klein sei, um überhaupt eine S 2 oder gar S 3 - Leitlinie generieren zu können. Natriumbicarbonatbäder würden allerdings auch in der europäischen Leitlinie zur Ichthyosisbehandlung klar empfohlen. Auch die Techniker Krankenkasse verweise auf ihrer Homepage bei der Behandlung der Ichthyose auf Natriumbicarbonatbäder. Die Klägerin verweise darauf, dass Natriumbicarbonat kein apothekenpflichtiges Arzneimittel sei sondern frei verkäuflich. Vorliegend benötige der Patient jedoch kein Backpulver in handelsüblichen Mengen. Zur Durchführung der Vollbäder bei dem schweren Hautzustand des Patienten seien handelsunübliche Mengen von 5-15 kg nötig. Darüber hinaus benötige der Patient dies aufbereitet und gereinigt von geprüfter Qualität zur therapeutischen Behandlung und nicht als Küchensubstanz. Deshalb werde es über Verordnung über die Apotheken bezogen. Die Argumentation einer Kostenübernahme nur bis zum 18. Lebensjahr erstaune, da die Ichthyoseerkrankung schließlich nicht mit diesem Alter ende. Im Übrigen sei auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Verordnung von Natriumbicarbonat zunächst von der Klägerin nicht infrage gestellt worden. Auch für die Apotheke habe offenbar kein Zweifel bestanden, Natriumbicarbonat bei diesem Patienten als Arzneimittel anzusehen. Man habe sich auch an die Universitätshautklinik M-Stadt gewandt, der Streit um einen Regress bezüglich der Verordnung von Natriumbicarbonat bei Patienten mit dieser seltenen, schweren, die Lebensqualität massiv einschränkenden Erkrankung habe dort Empörung und Unverständnis hervorgerufen. Professor O., Universitätshautklinik M-Stadt, der maßgeblich an der Entwicklung der S1 Leitlinie beteiligt gewesen sei, stehe gerne für Rückfragen zur Verfügung.

Die Beigeladene zu 2 schloss sich den Ausführungen der Beklagten an.

Die Klägerin legte dar, dass die angegebene Sonder-PZN keine Rückschlüsse zur Eingruppierung der Substanz darstelle. Sie besage lediglich die "Abrechnung von Rezeptursubstanzen in ungemischter Form nach Ziffer 4.4". Durch die Verordnung als Rezeptur werde der Verordnungausschluss gezielt umgangen und resultiere eine Ungleichbehandlung des Versicherten im Vergleich zu allen anderen Versicherten. Allein die Tatsache, dass der Arzt das Natriumhydrogencarbonat als Rezeptursubstanz verordne, bedeute nicht, dass er damit eine rechtlich zutreffende Einordnung des Produktes vorgenommen habe. Die Einstufung als Arzneimittel sei nicht ableitbar. Selbst wenn ein Arzneimittel vorliege, sei auf die OTC-Liste zu verweisen. Natriumhydrogencarbonat sei ein Lebensmittelzusatzstoff und trage die europäische Zulassungsnummer E500ii. Wie bereits ausgeführt sehe die S1 Leitlinie vor: "...auch handelsübliches Backpulver verwendet werden...", 5.5.3. Keratolytische Badezusätze. Die Substanz unterliege nicht der Apothekenpflicht und könne privat in kostengünstigen und wirtschaftlichen Packungen in Lebensmittelqualität erworben werden. Die Klägerin legte Kostenaufstellung dar, mit ca. ein Zehntel der Kosten für Natriumhydrogencarbonat über Online-Anbieter gegenüber in der Apotheke bezogenem Natriumhydrogencarbonat.
Im Übrigen erfolge die Anwendung von Natriumhydrogencarbonat in Form von Bädern rein symptombezogen, die Erkrankung der lamellären Ichthyose möge selten auftreten, nicht jedoch die Symptomatik der vermehrten Schuppenbildung mit verminderter Ablösung.
Ein Seltenheitsfall setze voraus, dass es sich bei der streitgegenständlichen Substanz überhaupt um ein Arzneimittel handele. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass weitere lokale und seitens der Uniklinik M-Stadt empfohlene Rezepturen regelmäßig rezeptiert und die Kosten seitens der GKV übernommen würden.

Die Beklagte wies darauf hin, dass Natriumhydrogencarbonat bei dem Patienten vor seinem 18. Lebensjahr von der Klägerin bezahlt worden sei, wobei sich § 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V auch nur auf Arzneimittel beziehe. Gerade die Tatsache, dass der vorliegende Fall von der Anlage I der Arzneimittelrichtlinie nicht erfasst werde, deute auf einen Seltenheitsfall hin.

Die Klägerin entgegnete, dass eine Nichtbeanstandung vor dem 18. Lebensjahr keine Verordnungsfähigkeit für die Zukunft bedeute. Im Übrigen habe sich der Gemeinsame Bundesausschuss durchaus mit der Diagnose schwerwiegender Hauterkrankungen befasst und im Zuge dessen bereits 2005 rezeptfreie harnstoffhaltige Dermatika bei Ichthyosen in der OTC-Übersicht als ausnahmsweise verordnungsfähig aufgenommen, vergleiche Anlage I der Arzneimittelrichtlinien. Die Nichterfassung eines Badezusatzes in Form von Natriumhydrogencarbonat deute somit nicht unbedingt auf einen Seltenheitsfall hin. Vielmehr regele die OTC-Übersicht ausnahmsweise verordnungsfähige, apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, dies treffe auf Natriumhydrogencarbonat nicht zu, weshalb Natriumhydrogencarbonat keine Aufnahme in der abschließenden Auflistung der Anlage I der AMR finden könne.
In der mündlichen Verhandlung führte die Klägerbevollmächtigte aus, dass es sich nach ihrer Ansicht vorliegend nicht um die Verschreibung eines Arzneimittels handele, Natriumhydrogencarbonat sei frei verkäuflich und die Verwendung der PZN bedeute lediglich, dass die Apotheke die Substanz in unverarbeiteter Form abgegeben habe.
Die Beklagtenvertreterin verwies auf § 2 Abs. 1 Nr. 2 Arzneimittelgesetz. Deshalb liege ein Arzneimittel vor. Es sei auch ein Fall mit ausgeprägter Erkrankung gegeben. Wie bereits ausgeführt, sei der Arzt gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V zur Verschreibung dieses Arzneimittels berechtigt gewesen.
Die Klägerbevollmächtigte verwies darauf, dass Natriumhydrogencarbonat als Lebensmittel deklariert sei und kein Arzneimittel darstelle.

Die Klägerbevollmächtigte stellt
Klageantrag aus der Klageschrift vom 29.12.2020.

Die Beklagtenvertreterin beantragt
  Klageabweisung.
 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet.

Die Beklagte hat rechtlich zutreffend mit Bescheid vom 10.12.2020 den Prüfantrag der Klägerin wegen nicht verordnungsfähiger Arzneimittel bzgl. Verordnungen des Beigeladenen zu 1 im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung, §§ 106, 106 b,c SGB V, § 7, § 6 und § 27 PV, abgelehnt. Wie von der Beklagten rechtsfehlerfrei ausgeführt, waren die streitgegenständlichen Verordnungen aus dem Quartal 4/2018 und 1/2019 der Rezeptur Natriumhydrogencarbonat, Kosten insgesamt netto 546,83 €, nicht zu beanstanden.

Die Beklagte hatte sich zutreffend auf einen Seltenheitsfall berufen und die Verordnungen als gemäß § 31 Abs. S. 4 SGB V zulässig eingeordnet.
Die Verordnung gemäß § 31 Abs. S. 4 SGB V setzt zunächst voraus, dass es sich um ein Arzneimittel handelt, das apothekenpflichtig ist.
§ 2 Abs. 1 Nr. 2 a) Arzneimittelgesetz (AMG) führt zum Arzneimittelbegriff aus, dass es sich hierbei um Stoffe handelt, die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. In diesem Sinne wird Natriumhydrogencarbonat beim Kläger zur symptomatischen Behandlung der lamellären Ichthyose eingesetzt, um wie die Beklagte ausführt durch ph-Erhöhung eine Aufweichung und Lösung der Keratose und dadurch die Rehydratisierung der Haut im Rahmen der Bäder zu bewirken und sodann mit rückfettenden Salben mit karatolytischen Inhaltsstoffen einer weiteren Rhagadenbildung entgegenzuwirken. Damit ist aus Sicht des Gerichts mit dem Einsatz von Natriumhydrogencarbonat eine pharmakologische Wirkung intendiert. Arzneimittel können nach der Definition in § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG dabei auch lediglich symptomatisch eingesetzt werden, es handelt sich dann eben nicht um eine Korrektur physiologischer Funktionen sondern eine Beeinflussung. Die Klägerin hatte eingewandt, dass Natriumhydrogencarbonat als Lebensmittelzusatzstoff unter der europäischen Zulassungsnummer E500ii zugelassen sei und unter verschiedenen Bezeichnungen als Lebensmittel, etwa auch als Backpulver, vertrieben werde. Die Verwendung eines Stoffes sowohl als Lebensmittel als auch als Arzneimittel schließt sich aus Sicht des Gerichts jedoch gegenseitig nicht aus, hierfür gibt es aus dem Bereich der Arzneimittel unter Verwendung pflanzlicher Inhaltsstoffe wie zum Beispiel Sonnenhut oder Johanniskraut zahlreiche Beispiele. Entscheidend ist, dass das hier verordnete Natriumhydrogencarbonat als Rezeptur unter der PZN 06460702 verordnet worden ist, wobei es sich laut der Beklagten um Apothekenbedarf handelt, welcher nach der Vertriebsinformation apothekenexklusiv bezogen wird. Die Klägerin hatte zutreffend darauf hingewiesen, dass die verwendete PZN aussagt, dass der Stoff in ungemischter Form abgegeben wird; dennoch bedeutet ein Bezug über die Apotheke, dass gemäß § 7 Apothekenbetriebsordnung - ApBetrO bzgl. Rezepturarzneimittel von der Apotheke geprüfte pharmazeutische Qualität mit einem Prüfzertifikat und somit geprüft auf Reinheit, Gehalt und Identität abgegeben wird. Nachdem der Einsatz des Natriumhydrogencarbonats eine bestimmte Erhöhung des pH-Werts des Badewassers bewirken soll und angesichts der Behandlung einer schweren Hauterkrankung Anforderungen an die Reinheit des Stoffes gestellt werden müssen, ist Natriumhydrogencarbonat in pharmazeutisch geprüfter Qualität zur Überzeugung des Gerichts nicht mit Natriumhydrogencarbonat in Lebensmittelqualität gleichzusetzen.
Zutreffend hatte die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Rezeptur Natriumhydrogencarbonat kein verschreibungspflichtiges Arzneimittel darstellt und damit nach Vollendung des 18. Lebensjahres grundsätzlich gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen ist. Zutreffend hatte die Klägerin auch darauf hingewiesen, dass in der OTC-Übersicht Anlage I, in der der G-BA festlegt, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten und mit Begründung des Vertragsarztes ausnahmsweise verordnet werden können, vergleiche § 34 Abs. 1 S. 2 SGB V, Natriumhydrogencarbonat nicht aufgelistet ist, jedoch bezüglich der Erkrankung Ichthyose in Nr. 22 der OTC-Übersicht, Anlage I, aufgelistet sind:
"Harnstoffhaltige Dermatika mit einem Harnstoffgehalt von mindestens 5 % nur bei gesicherter Diagnose bei Ichthyosen, wenn keine therapeutischen Alternativen für den jeweiligen Patienten indiziert sind"
Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der Vertragsarzt jedoch ein Arzneimittel, das aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nummer 6 von der Versorgung ausgeschlossen ist, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass insbesondere bei seltenen Erkrankungen gegebenenfalls Aussagen des Gemeinsamen Bundesausschusses zu einzelnen Arzneimitteln im Einzelfall fehlen, auch weil Erforschung und belastbare Studien zu diesen Erkrankungen gegebenenfalls nicht vorliegen, dennoch sich der Versicherungsschutz auch auf Behandlung solcher seltener Erkrankungen erstreckt, vergleiche BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R. Aus Sicht des Gerichts bedeutet die Erwähnung von Ichthyosen und Zulassung harnstoffhaltiger Dermatika unter den genannten Voraussetzungen, vgl. OTC-Übersicht Anlage I, Nr. 22, nicht, dass nicht in Ausnahmefällen weitere nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zulässig und im Einzelfall verordnungsfähig sein können. Wie von der Beklagten und dem Beigeladenen zu 1 ausgeführt leidet der Patient MZ 00 an einer autosomal-rezessiven kongenitalen Ichthyose (ARCI) mit einer mutmaßlich bisher noch nicht bekannten Mutationsvariante, vergleiche molekulargenetischer Befund vom 12.8.2013, Uniklinik F-Stadt. In der S1 Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Ichthyosen, Ziff. 3, wird die kongenitale Ichthyose mit einer Prävalenz von 1:60.000 bis 1:200.000 als "ultra-selten" genannt. Die Erkrankung ist damit als sehr selten zu bezeichnen. Aus den Arztberichten der Universitätshautklinik M-Stadt (Bericht vom 4.3.2015, ausgeprägte lamelläre Ichthyose mit deutlicher Betroffenheit der Kopfhaut und Stirnregion, ausgeprägtes Ektropium mit fehlender Lidschlussfunktion und Tränenlaufen) und der vorgelegten Bilddokumentation geht zudem hervor, dass es sich um einen massiven Krankheitszustand handelt. Dies wird auch von der Klägerin nicht in Frage gestellt und darauf verwiesen, dass weitere lokale und seitens der Uniklinik M-Stadt empfohlene Rezepturen regelmäßig rezeptiert und die Kosten seitens der GKV übernommen würden. Der Beigeladene zu 1 berichtet von versuchten, jedoch nicht möglichen Therapiealternativen und schildert überzeugend, dass die Anwendung der Vollbäder mit Natriumhydrogencarbonat für den Patienten unverzichtbar ist. Nachvollziehbar für das Gericht könnten stationäre Behandlungen hier nur vorübergehende Linderung bringen, sofern die Bäder nicht selbst zu Hause unter Verwendung von Natriumhydrogencarbonat oder gegebenenfalls als fortlaufende (kostenintensive) balneotherapeutische Anwendungen fortgesetzt werden.
Die Klägerin hatte darauf abgehoben, dass Natriumhydrogencarbonat auch frei verkäuflich erhältlich sei und beispielsweise im Onlinehandel zu ungefähr einem Zehntel des hier für die Rezeptur angesetzten Preises zu erwerben sei. Auch in der S1 Leitlinie werde die Verwendung von Backpulver genannt. Die S 1 Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Ichthyosen empfiehlt in Ziff. 5.5.3 keratolytische Badezusätze und nennt u.a.: "Natriumhydrogencarbonat (Natriumbicarbonicum pulvis, in Apothekenqualität oder in Form von Backpulver vom Bäckereigroßhandel erhältlich)", Ziff. 5.5.3 am Ende: "Vereinfachend kann statt Natriumhydrogencarbonat auch handelsübliches Backpulver verwendet werden". Als Quelle wird hierzu unter anderem genannt der Aufsatz: "Ichthyosen: Vorschläge für eine verbesserte Therapie", Küster, Dt. Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 24, A 1684. In den dort enthaltenen Ausführungen zum Baden wird "Natriumhydrogencarbonat (Backpulver)" genannt und ausgeführt das von über 350 stationär mit Natriumhydrogencarbonat behandelten Patienten 70 % von diesem Badezusatz hätten profitieren können. Die Anführung von Backpulver sowohl in der S1 Leitlinie als auch in dem genannten Aufsatz weist aus Sicht des Gerichts darauf hin, dass Backpulver Natriumhydrogencarbonat in Lebensmittelqualität darstellt. In der S1 Leitlinie heißt es dann, Backpulver könne "vereinfachend" genommen werden. Dies enthält aus Sicht des Gerichts einen Hinweis darauf, dass gegebenenfalls auch mit Backpulver eine Wirkung der Vollbäder erzielt werden kann, eben weil Backpulver Natriumhydrogencarbonat darstellt. Jedoch unterscheidet die S 1 Leitlinie klar zwischen Apothekenqualität und Backpulver und enthält der zitierte Artikel ebenso keinen Hinweis auf Gleichwertigkeit von Apothekenqualität und Backpulver. Wie oben ausgeführt ist das Gericht überzeugt, dass Natriumhydrogencarbonat in Apothekenqualität aufgrund der damit einhergehenden Prüfung auf Reinheit, Gehalt und Identität gegenüber Natriumhydrogencarbonat in Lebensmittelqualität (Backpulver) als aliud zu bezeichnen ist. Jedenfalls bei dem hier geschilderten und dokumentierten massiven Hautbefund des Patienten MZ 00 mit jederzeitiger Gefahr von Rhagadenbildung und damit Infektiösität liegt zur Überzeugung des Gerichts ein medizinisch begründeter Einzelfall, § 31 Abs. 1 S. 4 SGB V, vor zur Verordnung von Natriumhydrogencarbonat als Rezeptur und damit Bezug eines in Wirkung und Qualität in Apothekenqualität gesicherten Stoffes.
Die fachkundig besetzte Kammer sieht somit vorliegend einen medizinisch begründeten Einzelfall gegeben, in dem der Beigeladene zu 1 in den Quartalen 4/2018 und 1/2019 mit den streitgegenständlichen Verordnungen mit zutreffender Begründung die Rezeptur Natriumhydrogencarbonat zulasten der Klägerin gemäß § 31 Abs. 1 S. 4 SGB V verordnet hat.
Die Klage erweist sich damit als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.

 

 

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