Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27.04.2022 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 21.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2021 verurteilt, die Nachentrichtung von 12 Monaten freiwilliger Beiträge durch die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin der Versicherten M (geb. 1932, verstorben 2021) zuzulassen und für den Fall der Nachentrichtung den Beginn der Altersrente auf den 01.01.2015 festzusetzen und die daraus folgende Rentennachzahlung an die Klägerin auszuzahlen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin macht als Sonderrechtsnachfolgerin Rentenansprüche der verstorbenen Versicherten M (im Folgenden: Versicherte) geltend.
Die Klägerin, Tochter der 1932 geborenen Versicherten, lebte zur Zeit des Todes der Versicherten, am xx.xx.2021, mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt. Die Versicherte hatte zwei Kinder, die 1956 und am 1958 geboren wurden. Auf Antrag der Versicherten erstattete die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 14.10.1959 die Arbeitnehmerbeiträge für eine mit Heirat aufgegebenen versicherungspflichtigen Tätigkeit für die Zeit vom 08.06.1954 bis zum 10.12.1955 (sog. Heiratserstattung). Mit Bescheid vom 11.01.1994 erfolgte eine Nachzahlung auf die Heiratserstattung. Mit Bescheid vom 25.01.1994 stellte die Rechtsvorgängerin der Beklagten gemäß § 149 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) die Kindererziehungszeiten für die Zeit vom 01.04.1956 bis zum 31.03.1957 und vom 01.02.1958 bis zum 31.01.1959 sowie Berücksichtigungszeiten vom 08.03.1956 bis 07.03.1966 und 01.01.1958 bis 31.12.1967 fest. Weitere sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten hat die Versicherte zeitlebens nicht ausgeübt.
Mit Bescheid vom 05.07.2014, dessen Zugang die Versicherte bestreitet, teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass seit dem 01.07.2014 die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten um 12 Monate für jedes Kind erhöht worden seien und sie möglicherweise erstmals die Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfülle oder durch Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen erfüllen könne. Damit Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermieden würden, empfehle sich eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Beklagten. Eine Reaktion auf dieses Schreiben seitens der Versicherten erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 03.05.2019 teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass seit dem 01.01.2019 die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder um bis zu 6 Monate erhöht worden seien und sie möglicherweise erstmals die Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfülle oder durch Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen erfüllen könne. Damit Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermieden würden, empfehle sich eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Rentenversicherung.
Am 20.05.2019 – und nochmals durch ihren Bevollmächtigten am 07.10.2019 – beantragte die Versicherte eine Regelaltersrente als Vollrente beginnend am 01.07.2014 und machte sogleich die freiwillige Nachzahlung von Beiträgen für 12 Monate geltend, damit die Rente ab 01.01.2015 ausgezahlt werden könne.
Mit Bescheid vom 21.10.2019 gewährte die Beklagte der Versicherten Regelaltersrente beginnend mit dem 01.01.2019 in Höhe von 166,59 € monatlich. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Beginn der beantragten Altersrente sei frühestens am 01.01.2019 möglich, da der Rentenantrag für einen Rentenbeginn am 01.07.2014 verspätet gestellt worden sei. Sie sei mit Bescheid vom 05.07.2014 darüber informiert worden, dass die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten um 12 Monate für jedes Kind erhöht worden seien und sie aufgrund der zusätzlichen Kindererziehungszeiten möglicherweise erstmals die allgemeine Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfüllen bzw. die Wartezeit durch eine Nachzahlung freiwilliger Beiträge erfüllen könnte. Des Weiteren sei eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Rentenversicherung empfohlen worden, damit mögliche Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermieden werden könnten. Eine solche Kontaktaufnahme sei nicht erfolgt. Mit Bescheid vom 03.05.2019 sei sie über die Erhöhung der Kindererziehungszeiten für jedes Kind um sechs Kalendermonate informiert worden. Der am 20.05.2019 gestellte Rentenantrag sei somit für den Rentenbeginn am 01.01.2019 rechtzeitig gestellt worden. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien durch die zusätzlichen Kindererziehungszeiten ab 01.01.2019 ohne weitere Beitragszahlung erfüllt, so dass eine Zahlung freiwilliger Beiträge nicht erforderlich sei.
Gegen den Bescheid vom 21.10.2019 legte die Versicherte am 30.10.2019 Widerspruch ein und führte zu dessen Begründung aus, den Bescheid vom 05.07.2014 nie erhalten zu haben. Die Argumentation der Beklagten sei nur stichhaltig, wenn der Zugang des Bescheids vom 05.07.2014 nachgewiesen werden könne. Deswegen müsse eine Abhilfe erfolgen. Zudem verwies sie auf das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Saarland vom 13.09.2018 (L 1 R 84/16) und berief sich auf den sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruch.
Mit Schreiben vom 17.08.2020 teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass keine Hinweise vorlägen, dass der Bescheid vom 05.07.2014 nicht zugegangen sei. Eine Änderung in der Anschrift sei nicht erfolgt. Sollte der Bescheid der Versicherten tatsächlich nicht zugegangen sein, werde um Abgabe einer „wahrheitsgemäßen Aussage“ der Versicherten gebeten. Eine entsprechende Erklärung, dass sie den Bescheid vom 05.07.2014 erstmals mit dem Schreiben der Beklagten vom 17.08.2020 erhalten habe, gab die Versicherte daraufhin am 05.09.2020 gegenüber der Beklagten ab.
Mit Widerspruchsbescheid vom 02.02.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Versicherten zurück. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch könne nur bestehen, wenn sich der Versicherte auf eine mangelnde Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Träger berufen könne und Kindererziehungszeiten bislang nicht vorgemerkt worden waren. Im Vorfeld des Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetzes (sogenannte Mütterrente) seien zahlreiche Veröffentlichungen in den Medien platziert worden. Dabei sei insbesondere darauf hingewiesen worden, dass sich durch die Einführung der Mütterrente erstmals ein Rentenanspruch ergeben könne und dass im Zusammenhang mit der Mütterrente auch freiwillige Beiträge zur Erfüllung eines Rentenanspruchs gezahlt werden könnten. Selbst wenn die Versicherte den Bescheid vom 05.07.2014 nicht erhalten habe, habe sie über die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und der Beklagten informiert sein müssen, dass infolge der Mütterrente die bisher angerechneten Kindererziehungszeiten erheblich ausgeweitet worden seien. Dies auch, um Versicherten erstmals einen Rentenanspruch zu ermöglichen. Zudem seien bereits mit Bescheid vom 25.01.1994 Kinderziehungszeiten im Versicherungskonto vorgemerkt worden.
Am 22.02.2021 hat die Versicherte zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen ihre Begründung aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt hat. Ergänzend hat sie vorgetragen, es stelle sich die Frage, wie sie beweisen solle, den Bescheid vom 05.07.2014 nicht erhalten zu haben. Das Gegenteil sei der Fall. Die Beklagte müsse beweisen, dass ihr der Bescheid zugegangen sei. Aber selbst dann wäre noch die Frage der unzureichenden Beratung und Auskunft (der Bescheid enthielt keine Wartezeitauskunft und keinen Versicherungsverlauf) zu klären. Im Übrigen befinde sich in der Verwaltungsakte der Beklagten ein Vermerk vom 13.08.2020, in welchem ein Abhilfevorschlag gemacht worden sei. Der dortigen Auffassung sei zuzustimmen. Es erschließe sich nicht, weshalb die Beklagte letztlich zu einer gegenteiligen Auffassung gekommen sei.
Am xx.xx.2021 ist die Versicherte verstorben. Der Rechtsstreit ist durch deren Tochter als Sonderrechtsnachfolgerin fortgeführt worden.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Ergänzend hat sie vorgetragen, das von der Versicherten übersandte Urteil des LSG Saarland betreffe im Übrigen nicht den hier vorliegenden Sachverhalt. Soweit der klägerische Bevollmächtigte auf einen Vermerk vom 13.08.2020 und die darin enthaltene Rechtsauffassung hinweise, werde darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei um einen verwaltungsinternen Abhilfevorschlag handele, der durch die anschließende Darstellung des Beratungsergebnisses der Arbeitsgruppe Versicherung und Rente widerlegt worden sei.
Mit Urteil vom 27.04.2022 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, soweit die Beklagte mit Bescheid vom 21.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.02.2021 entschieden habe, dass die Regelaltersrente der Versicherten am 01.01.2019 beginne, sei dies rechtlich nicht zu beanstanden. Die Versicherte habe keinen Anspruch auf einen früheren Rentenbeginn gehabt. Die Versicherte habe erst am 20.05.2019 einen Rentenantrag gestellt, so dass die Beklagte zu Recht gem. § 99 Abs. 1 SGB VI die Rente, obwohl durch die Nachzahlung von Beiträgen gemäß § 282 Abs. 1 S. 6 SGB VI (richtig: Satz 1) ein Rentenbeginn zum 01.07.2014 möglich gewesen wäre, erst ab dem 01.01.2019 gewährt habe. Ein Anspruch auf einen früheren Rentenbeginn ergebe sich auch nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Es liege bereits keine Pflichtverletzung der Beklagten vor. Entgegen der Auffassung der Versicherten habe nach Erteilung des Bescheids vom 05.07.2014 keine weitergehende Verpflichtung seitens der Beklagten bestanden, sie über einen möglichen Rentenbeginn zum 01.07.2014 unter der Voraussetzung der Beitragsnachzahlung zu informieren. Eine solche Verpflichtung ergebe sich weder aus § 109 SGB VI noch aus § 115 Abs. 6 SGB VI. Die Versicherte habe bereits nicht zum Personenkreis der Versicherten im Sinne der §§ 1 ff. SGB VI gehört. Hierin unterscheide sich der vorliegende Fall von der Fallgestaltung, die der Entscheidung des LSG Saarland vom 13.09.2018 (L 1 R 84/16) zu Grunde liege, und auf die sich die Versicherte zur Begründung ihrer Klage stütze. Darüber hinaus könne die Kammer aber auch keine Ursächlichkeit für die verspätete Antragstellung erkennen, denn ausweislich der vorliegenden Verwaltungsakte seien die von der Versicherten zurückgelegten Kindererziehungszeiten mit Bescheid gemäß § 149 Abs. 3 SGB VI vom 25.01.1994 festgestellt worden. Im Hinblick auf die mit der Mütterrentenreform I zum 01.07.2014 verbundenen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wäre es auch für einen Laien erkennbar gewesen, dass bei Vorhandensein von Kindererziehungszeiten aus der Gesetzesreform Vorteile erwachsen könnten. Eine entsprechende Beratung hätte dann in Anspruch genommen werden können. Zu einem anderen Ergebnis könne auch nicht der in der Klagebegründung vorgetragene Verweis auf einen Aktenvermerk in der Verwaltungsakte der Beklagten vom 13.09.2018 führen. Hierbei handele es sich um einen verwaltungsinternen Abhilfevorschlag, der durch die anschließende Darstellung des Beratungsergebnisses des Widerspruchsausschusses widerlegt worden sei und keinerlei Bindungswirkung oder gar Vertrauensschutz entfalte.
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigen am 05.05.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16.05.2022 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag. Ergänzend macht sie geltend, durch die Rechtsänderung zur „Mütterrente I“ zum 01.07.2014 und Nachzahlung freiwilliger Beiträge hätten bei rechtzeitiger Beratung und Antragstellung fünf Jahre an Beitragszeiten entstehen können und damit bereits vor 2019 ein Anspruch auf Regelaltersrente. Einen entsprechenden Antrag auf Nachzahlung und rückwirkende Rentengewährung habe sie am 20.05.2019 gestellt. Den Bescheid vom 05.07.2014 habe sie nicht erhalten und damit keine notwendige Aufklärung durch die Beklagte erhalten. Die Beklagte trage insoweit die Beweislast. Ihr stehe ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zu, wie sich auch aus der Entscheidung des LSG Saarland (L 1 R 84/16) ergebe. Entgegen der Auffassung des SG sei sie auch als Versicherte im Sinne von §§ 1 ff. SGB VI anzusehen. Es werde nochmals darauf hingewiesen, dass sich die Beklagte ausweislich des Vermerks vom 13.08.2020 intern über die Bewertung des Vorgangs nicht einig sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27.04.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 21.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2021 zu verurteilen, der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin der Versicherten M unter Nachentrichtung der notwendigen freiwilligen Beiträge die Regelaltersrente bereits zu einem früheren Rentenbeginn als 01.01.2019 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung und ihre Bescheide für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.
Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthafte Klage ist zulässig und begründet. Der hinsichtlich des Beginns der Regelaltersrente angefochtene Bescheid der Beklagten vom 21.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2021 ist rechtswidrig und verletzte die Versicherte in ihren Rechten. Sie hatte unter der Bedingung der Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen in der gesetzlichen Mindesthöhe für 12 Monate Anspruch auf Regelaltersrente bereits ab dem 01.01.2015. Die Klägerin kann als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne von § 56 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) die der Versicherten hieraus erwachsenen Ansprüche unter Nachentrichtung der Beiträge geltend machen.
Ausgehend von § 99 Abs. 1 SGB VI, wonach eine Rente, wenn diese bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, von dem Kalendermonat an geleistet wird, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Renten erfüllt sind, und bei späterer Antragstellung der Antragsmonat für den Beginn der Leistungen maßgeblich ist, ergibt sich unter Zugrundelegung des Leistungsantrags der Versicherten vom 20.05.2019 zunächst kein früherer Rentenbeginn als 01.01.2019.
Die Versicherte war aber unter Berücksichtigung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte sie den erforderlichen Rentenantrag nach § 99 Abs. 1 SGB VI und den Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach § 282 Abs. 1 SGB VI bis 31.10.2014 gestellt.
Der Herstellungsanspruch erfordert eine Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers und einen hierdurch beim Betroffenen hervorgerufenen rechtlichen Nachteil auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge ist der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen darf (BSG, Urteil vom 06.05.2010 - B 13 R 44/09 R -, in juris, m.w.N.). Als verletzbare Pflichten kommen Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten, die Pflicht zur verständnisvollen Förderung des Sozialleistungsberechtigten oder andere aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsende Pflichten in Betracht. Diese Pflichten erwachsen dem Sozialleistungsträger regelmäßig dann, wenn von dem Berechtigten ein entsprechendes Beratungsbegehren ausgegangen ist oder sich ein Bedarf auf Auskunft, Beratung, Betreuung usw. anlässlich des gegebenen Sachverhalts aufdrängt (vgl. BSG, Urteil vom 08.11.1995 - 13 RJ 5/95 -, juris). Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch kommt auch nach einer Verletzung der aus § 115 Abs. 6 SGB VI resultierenden Hinweispflicht auf einen Rentenantrag in Betracht (BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris; BSG, Urteil vom 09.12.1997 - 8 RKn 1/97 -, in juris; Westphal in Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, § 115, Rn. 43).
Die Beklagte hat vorliegend ihre Hinweispflicht aus § 115 Abs. 6 SGB VI gegenüber der Versicherten verletzt.
Nach § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Diese Hinweispflicht hat den Zweck, Versicherte in bestimmten Fällen vor den Nachteilen des Antragsprinzips der gesetzlichen Rentenversicherung zu bewahren, zumindest dann, wenn diese im Hinblick auf die komplizierte gesetzliche Regelung schwierig vorauszusehen sind (BSG, Urteil vom 22.10.1998 - B 5 RJ 56/97 R -, in juris; BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Wenn die Adressaten derartiger Hinweise jedenfalls als „Fallgruppe“ bestimmbar sind, haben die Angehörigen dieser Gruppe auch ein subjektiv-öffentliches Recht auf Erteilung eines solchen Hinweises (BSG, Urteil vom 22.10.1998 - B 5 RJ 56/97 R -, in juris; BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Die Formulierung „in geeigneten Fällen“ ist ein gerichtlich voll überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff (BSG, Urteil vom 22.10.1998 - B 5 RJ 56/97 R -, in juris; BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Des Hinweises bedürfen die Berechtigten jedenfalls dort, wo es für Ungeschulte schwierig ist, die gesetzliche Regelung zu durchschauen und Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen (BSG, Urteil vom 22.10.1998 - B 5 RJ 56/97 R -, in juris; BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 11/5530) sollen entsprechende Hinweise in solchen Fällen erfolgen, in denen es naheliegt, dass Versicherte Leistungen in Anspruch nehmen wollen, wie z.B. bei der Regelaltersrente und der Hinterbliebenenrente. Die Beklagte ist verpflichtet zu handeln, sobald sie feststellen kann, dass die Antragstellung auf Altersrente einer umschriebenen Gruppe von Versicherten Vorteile bringt (BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Zur Erteilung eines Hinweises ist keine Anfrage des Versicherten erforderlich; er ist anders als der Auskunfts- und Beratungsanspruch nach §§ 14, 15 SGB I anlasslos zu erteilen (BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Beklagte spätestens nach Verabschiedung des Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) vom 23.06.2014 (in Kraft getreten am 01.07.2014) verpflichtet, die von der „Mütter-Rente“ Betroffenen auf einen möglichen Anspruch auf Altersrente (ggf. unter Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen) und die rechtzeitige Antragstellung hinzuweisen. Dies gilt jedenfalls für diejenigen Betroffenen, die im Datenbestand des Rentenversicherungsträgers gespeichert waren, wie dies bei der Versicherten aufgrund der bereits im Jahr 1994 vorgemerkten Kindererziehungszeiten der Fall war. Damit war sie „Berechtigte“ im Sinne von § 115 Abs. 6 SGB VI. Darauf, ob sie auch als „Versicherte“ im Sinne der §§ 1 ff. SGB VI anzusehen war, kommt es entgegen der Rechtsauffassung des SG nicht an. Abgesehen davon wird als „Versicherter“ im Sinne des materiellen Rentenversicherungsrechts jeder angesehen, der – wie vorliegend – zumindest eine Beitragszeit erlangt hat (BSG, Urteil vom 14.05.2003 - B 4 RA 6/03 R -, in juris).
Die Beklagte konnte auch nicht aufgrund eines atypischen Falls von Hinweisen an die Betroffenen absehen. Die Formulierung des Gesetzes („sollen“) führt bei Vorliegen eines geeigneten Falles im Regelfall zu einer Hinweispflicht, die nur in atypischen Fällen ausgeschlossen sein kann. Ein atypischer Fall liegt etwa vor, wenn der Rentenversicherungsträger berechtigterweise annehmen durfte, die Betroffenen seien bereits hinreichend informiert gewesen (BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 -, in juris). Die Beklagte kann sich insoweit nicht auf ihre allgemeine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und die der Bundesregierung berufen. Ihren eigenen Ausführungen im Rechtsportal der Deutschen Rentenversicherung ist zu entnehmen, dass im Vorfeld des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes allgemein vermittelt wurde, dass im Zusammenhang mit der „Mütterrente“ keine Antragstellung erforderlich sei (s. Ziff. 6 zu § 282 SGB VI). Jedenfalls in einem solchen Fall ist die Beklagte gehalten, mit individuellen Hinweisen an die in ihrem Datenbestand gespeicherten Betroffenen heranzutreten.
Dieser Hinweispflicht ist die Beklagte gegenüber der Versicherten nicht nachgekommen. Die Versicherte hat bestritten, den Bescheid vom 05.07.2014 vor dem 17.08.2020 erhalten zu haben. Die Beklagte kann den früheren Zugang auch nicht nachweisen. Die Nichtaufklärbarkeit geht zu ihren Lasten, mit der Folge, dass davon auszugehen ist, dass der Bescheid vom 05.07.2014 die Versicherte nicht vor dem 17.08.2020 erreichte. Die bloße (im Übrigen mangels Absendevermerks ebenfalls nicht nachgewiesene) Absendung des Bescheids genügt nicht. Der Rentenversicherungsträger verstößt auch dann gegen seine Pflicht zum Hinweis nach § 115 Abs. 6 SGB VI, wenn er zwar ein Hinweisschreiben absendet, dieses den Versicherten aber nicht erreicht; für ein solches Hinweisschreiben besteht weder eine Zugangsvermutung noch gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises (BSG, Urteil vom 26.07.2007 - B 13 R 4/06 R -, in juris).
Die Verletzung der Hinweispflicht ist auch kausal für den eingetretenen sozialrechtlichen Schaden. Die Versicherte hat nach Erhalt des auf die „Mütterrente II“ bezogenen Hinweisschreibens vom 03.05.2019 unmittelbar einen Rentenantrag gestellt und zugleich die Nachentrichtung von Beiträgen beantragt, um die Altersrente bereits ab dem 01.01.2015 beziehen zu können. Hieran zeigt sich zur Überzeugung des Senats, dass die Versicherte in Kenntnis des entsprechenden Hinweises im Bescheid vom 05.07.2014 ebenfalls unmittelbar die Altersrente beantragt hätte und sie über einen möglichen Rentenanspruch infolge des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes nicht anderweitig informiert war.
Hinzu kommt, dass die Beklagte offenbar selbst vom Vorliegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auch im vorliegenden Fall ausgeht, nachdem sie den Beginn der Altersrente auf Grundlage des RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetzes („Mütterrente II“) bereits ab dem 01.01.2019 angenommen hat, obwohl der Antrag erst im Mai 2019 von der Versicherten gestellt worden war.
Kann aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt werden, gilt allerdings in entsprechender Anwendung des § 44 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eine Ausschlussfrist von vier Jahren (BSG, Urteil vom 24.04.2014 - B 13 R 23/13 R -, in juris), so dass vorliegend erst ab dem 01.01.2015 Altersrente beansprucht werden kann.
Weitere Voraussetzung ist die Nachentrichtung von 12 Monaten freiwilliger Beiträge nach § 282 Abs. 1 SGB VI. Denn allein mit den Kindererziehungszeiten nach Erhöhung durch die „Mütterrente I“ erfüllte die Versicherte nicht die allgemeine Wartezeit nach § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI von fünf Jahren, weil ihr Versicherungskonto lediglich 48 Monate mit Pflichtbeitragszeiten aufwies. Die Durchsetzung des rückwirkenden Rentenspruchs ab dem 01.01.2015 ist deshalb davon abhängig, dass für 12 Monate Beiträge nachentrichtet werden, deren Höhe sich mindestens unter Ansatz der Mindestbemessungsgrenze für die freiwillige Versicherung für das Jahr 2014 errechnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 506/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 1448/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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