Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24.02.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, im Streit.
Die 1960 geborene Klägerin absolvierte vom 01.09.1978 bis 01.08.1981 im Reformhaus W eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau (S. 40 Senatsakte), die sie erfolgreich abschloss (S. 39 Senatsakte). Anschließend war sie weiterhin zunächst (nur) als Verkäuferin, ab dem 01.10.1983 bis zu Beginn des Mutterschutzes am 04.03.1987 schließlich als Filialleiterin in einer von ihrem Arbeitgeber neu eröffneten Filiale tätig (S. 40 Senatsakte). Während und nach der Ausbildungszeit (nämlich vom 30.07.1979 bis 25.08.1979, Bl. 61 VA-ÄT Rentenverfahren, vom 11.08.1980 bis 30.08.1980, Bl. 65 VA-ÄT Rentenverfahren, und vom 30.05.1983 bis 22.06.1983, Bl. 67 VA-ÄT Rentenverfahren) nahm sie an insgesamt drei ca. dreiwöchigen Grundkursen (Grundkurse I bis III) in der Reformhaus-Fach-Akademie (RFA) für gesunde Lebensführung, Ernährung und Diätetik teil (zu den Lehrfächern gehörten u.a. Nahrungsmittelkunde, Prinzipien der klassischen Diätetik, Erstellen von Kostplänen, Drogenkunde etc.), woraufhin ihr die Bezeichnung „Reformhaus-Fachverkäufer“ zuerkannt wurde, erwarb am 22.08.1980 die erforderliche Sachkunde für den Handel mit Milch und Milcherzeugnissen in verkaufsfertigen Packungen nach § 14 Abs. 5 Ziff. 2 des Milchgesetzes vom 31.07.1930 (Bl. 63 VA-ÄT Rentenverfahren) und bestand am 23.02.1983 die Prüfung der Sachkenntnis im Einzelhandel mit freiverkäuflichen Arzneimitteln beim Regierungspräsidium Freiburg (Bl. 69 VA-ÄT Rentenverfahren). Vom 01.02.1992 bis 31.07.1996 war sie als Verkäuferin in Teilzeit erneut im Reformhaus W (S. 41 Senatsakte) und anschließend bei der Firma WAB in L-H tätig (s. eigene Angabe S. 38 Senatsakte). Vom 15.11.2004 bis 28.02.2008 war sie sodann (erneut) als Einzelhandelskauffrau und vom 01.03.2008 bis 31.03.2010 als Filialverwalterin im Reformhaus B GmbH & Co. KG versicherungspflichtig (S. 42 f. Senatsakte) und sodann - ihren Angaben nach (S. 38 Senatsakte) - bis April 2017 in Teilzeit (15 Stunden/Woche, s. Reha-Entlassungsberichte vom 16.10.2018, VA-ÄT medizinische Leistungen, unblattiert, und vom 15.05.2019, Bl. 56 SG-Akte) im Reformhaus S.W. in M im Verkauf (s. S. 78 Senatsakte) beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung (Bl. 3 VA-ÄT Rentenverfahren). Die Tätigkeit wurde nicht nach Tarif bezahlt (S. 52 Senatsakte). Vom 23.02.2017 bis 09.07.2018 war die Klägerin arbeitsunfähig (Bl. 35 VA-Rente) und bezog vom 06.04.2017 bis 22.08.2018 Krankengeld (Bl. 27 und 77 VA-Rente). Eine Berufstätigkeit nahm sie nicht mehr auf. Vielmehr bezog sie - laut Versicherungsverlauf vom 26.10.2021 (S. 50 ff. Senatsakte) - anschließend immer wieder Leistungen seitens der Bundesagentur für Arbeit, für die Pflichtbeiträge entrichtet wurden. Darüber hinaus werden seit dem 01.01.2017 für die Klägerin durchgehend Pflichtbeiträge für die Pflege ihres Ehemannes (Pflegegrad 3) entrichtet (s. Versicherungsverlauf vom 26.10.2021, S. 50 ff. Senatsakte, Bl. 33 f. VA-Rente und Bl. 18 VA-ÄT Rentenverfahren).
Am 15.06.2018 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten (Bl. 3 ff. VA-Rente), in dem sie angab, sich wegen permanenter Schmerzen in beiden Knien, im linken Fuß und bei Belastung der rechten Hand (Daumen) sowie Erschöpfungszuständen, Atemnot, Depressionen und zunehmenden Herz- und Kreislaufproblemen seit dem Jahr 2011 für erwerbsgemindert zu halten (Bl. 5 VA-Rente). Sie legte medizinische Unterlagen vor (Bl. 33 ff. und 71 ff. VA-ÄT Rentenverfahren), denen sich entnehmen lässt, dass sie u.a. an arthrogenen und neuropathischen Schmerzen im Bereich des rechten Knies nach Implantation einer Knietotalendoprothese (Knie-TEP) rechts im Juni 2017, einer fortgeschrittenen Pangonarthrose links, einer Polyarthrose beider Hände sowie einer Dysthymie leide.
Mit Bescheid vom 07.08.2018 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab (VA-Rechtsmittel <RM>, unblattiert). Auch lägen die Voraussetzungen für eine Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht vor. Zwar könne die Klägerin nicht mehr als Einzelhandelskauffrau arbeiten. Jedoch könne sie zumutbar auf eine Tätigkeit als Kassiererin verwiesen werden. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 17.09.2018 Widerspruch (Bl. 1 VA-RM), den sie u.a. damit begründete (Bl. 17 f. VA-RM), dass sie sich einer Kniescheibenoperation rechts habe unterziehen müssen und links eine Knie-TEP-Operation anstehe. Sie leide auch an einer Depressionserkrankung, die seitens der Beklagten nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Außerdem habe sie eine Zusatzqualifikation zur Fachverkäuferin im Reformhaus sowie mehrere Sachkundenachweise erworben, weshalb der von der Beklagten benannte Verweisungsberuf nicht adäquat sei.
Vom 21.08.2018 bis 12.10.2018 befand sich die Klägerin zur Durchführung einer Anschlussheilbehandlung in stationärer medizinischer Rehabilitation in der R-Klinik in K (VA-ÄT medizinische Leistungen, unblattiert; Diagnosen: Gonarthrose beidseits mit Belastungsschmerzen, vorderer Knieschmerz rechts bei Z.n. Knie-TEP 06/2017, Retropatellarersatz und laterales Release am 11.09.2018, Rhizarthrose rechts mit starker Einschränkung der Greiffunktion und Handkraft, Adipositas per magna). Aus dieser wurde sie - unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (Vermeidung von ständigem Stehen und Gehen, knienden und hockenden Tätigkeiten, häufigem Treppensteigen sowie Klettern auf Leitern und Gerüsten) - mit einem über sechsstündigen Leistungsvermögen sowohl für eine Tätigkeit als Verkäuferin im Reformhaus als auch für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen.
Die Beklagte ließ die Klägerin daraufhin von dem Facharzt M1 begutachten (Bl. 81 ff. VA-ÄT Rentenverfahren, Untersuchungstag: 21.01.2019). M1 diagnostizierte einen Zustand nach (Z.n.) Knie-TEP-Implantation rechts mit befriedigendem Operationsergebnis und befriedigender Funktion, eine Gonarthrose links, eine Polyarthrose und Rhizarthrose beider Hände ohne wesentliche Funktionseinschränkung sowie eine Adipositas permagna. M1 schätzte die Leistungsfähigkeit der Klägerin für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (überwiegend sitzende Tätigkeiten, ohne kniende und hockende Arbeitsanteile, ohne lange stehende Arbeitsanteile, ohne Begehen von Leitern und Gerüsten, ohne Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft, ohne schwere Arbeitsanteile mit beiden Händen) auf arbeitstäglich sechs Stunden und mehr ein. Die letzte Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau stufte er hingegen nicht mehr als leidensgerecht ein und schätzte die diesbezügliche quantitative Leistungsfähigkeit auf arbeitstäglich unter drei Stunden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück (Bl. 45 ff. VA-RM) und hielt u.a. daran fest, dass die seitens der Klägerin erlernte Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau als „einfache“ Facharbeitertätigkeit einzustufen sei und sie daher zumutbar auf eine Tätigkeit als Kassiererin und alternativ als Kassenaufsicht verwiesen werden könne.
Hiergegen hat die Klägerin am 08.04.2019 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Sie hat u.a. darauf hingewiesen, dass bei ihr im April 2019 auch links eine Knie-TEP eingesetzt worden sei, weshalb die Leistungseinschätzung des M1 als überholt anzusehen sei. Überdies habe er insbesondere ihre Beschwerden in den Händen nicht ausreichend berücksichtigt. Auch könne sie nicht auf eine Tätigkeit als Kassiererin/Kassenaufsicht verwiesen werden, da ihr Tätigkeiten mit den Händen medizinisch nicht mehr zumutbar seien. Sie sei daher jedenfalls berufsunfähig i.S.d. § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Vom 11.04.2019 bis 09.05.2019 hat sich die Klägerin im Anschluss an die stattgehabte Knieoperation (Einsatz einer Knie-TEP links am 04.04.2019) in stationärer medizinischer Rehabilitation in der R-Klinik in K befunden (Bl. 27 ff. SG-Akte; Diagnosen: noch Funktionsdefizit linkes Kniegelenk nach OP bei Gonarthrose, Knie-TEP links am 04.04.2019, Z.n. Knie-TEP rechts 06/2017 und Retropatellarersatz rechts 09/2018, Tarsometatarsal II-Arthrose und Talonaviculararthrose links, Adipositas Grad 3), aus der sie mit einem unter dreistündigen Leistungsvermögen für eine Tätigkeit als Reformhaus-Fachverkäuferin im Einzelhandel und einem mehr als sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (überwiegend sitzende Tätigkeiten, kein Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, kein häufiges Stehen oder Gehen, Gehen und Arbeiten in unebenem Gelände, häufiges Ersteigen von Leitern und Gerüsten sowie keine kniebelastende Positionen wie Knien, Hocken oder Kriechen) entlassen worden ist.
Das SG hat die die Klägerin behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. E hat ausgeführt (Bl. 25 f. SG-Akte), dass sich die depressive Erkrankung der Klägerin verschlechtert habe und auch die Gelenkbeschwerden an den Händen und der linken Fußwurzel zugenommen hätten. Nach der Versorgung mit Knie-TEP beidseits bestünde eine deutlich verbesserte Beweglichkeit beider Kniegelenke und weniger Schmerzen, wobei Schmerzen im Bereich der Außenseite des rechten Oberschenkels und der Innenseite des linken Oberschenkels neu aufgetreten seien. Die Klägerin sei davon überzeugt, nicht länger als zwei bis drei Stunden täglich arbeiten zu können. E hat sich hingegen nicht in der Lage gesehen, eine objektive Beurteilung des tatsächlichen Leistungsvermögens abzugeben. B hat u.a. mitgeteilt (Bl. 49 SG-Akte), dass sich die Beschwerden der Klägerin nach der zweiten Knie-TEP-Implantation sowie dem Retropatellarersatz gebessert hätten und leichte Tätigkeiten im Umfang von mindestens sechs Stunden möglich seien. N hat angegeben (Bl. 84 ff. SG-Akte), die Klägerin leide an einer chronifizierten depressiven Symptomatik im Sinne einer Dysthymie mit begleitender anhaltender somatoformer Schmerzstörung. Sie sei hierdurch in ihrer Lebensfreude, ihrem Antrieb, ihren sozialen Kontakten und im Schlafen beeinträchtigt gewesen. Eine Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau könne sie nur noch arbeitstäglich höchstens drei bis vier Stunden ausüben, gleiches gelte für eine leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Außerdem hat S mitgeteilt (Bl. 78 f. SG-Akte), die Klägerin leide an einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und könne weder eine Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau noch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben.
Nach Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des S1 vom 16.01.2020 (Bl. 92 SG-Akte), in dem dieser die bisherige Leistungseinschätzung der Beklagten bestätigt hat, hat das SG von Amts wegen Sachverständigengutachten bei S2 (Bl. 101 ff. SG-Akte, Untersuchungstag: 15.05.2020) und bei B2 (Bl. 126 ff. SG-Akte, Untersuchungstag: 25.08.2020) eingeholt. Als Gesundheitsstörungen hat S2 auf seinem Fachgebiet Knie-TEPs beidseits, eine Coxarthrose rechts, Fingergelenkarthrosen und Rhizarthrosen beidseits sowie eine Fußwurzelarthrose links mitgeteilt. Diese Gesundheitsstörungen führten zu einer Einschränkung der Geh- und Stehfähigkeit, so dass der Klägerin nur noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Gehen und Stehen, ohne Knien und Hocken sowie mit Hebe- und Tragebelastungen, ohne Ersteigen von Leitern und Gerüsten, Gehen oder Stehen auf unebenem Boden, mit Exposition gegenüber Nässe, Zugluft und schwankenden Temperaturen möglich sei. Die Funktion der Hände sei nur geringgradig eingeschränkt, so dass lediglich erhöhte Anforderungen an die Feinmotorik und die grobe Kraft zu vermeiden seien. Tätigkeiten, die diesem Leistungsbild entsprächen, seien mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zumutbar. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit hat der Sachverständige verneint. B1 hat eine persistierende Depression vor dem Hintergrund einer anhaltenden Belastung begünstigt durch primär akzentuierte abhängige Wesensmerkmale, eine Polyneuropathie - diagnostisch am ehesten als diabetogen einzuordnen -, einen Verdacht auf Schlafapnoe bei Adipositas per magna BMI > 45 diagnostiziert, eine Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit verneint und daher von Seiten der depressiven Symptomatik keine Einschränkung der quantitativen oder qualitativen Leistungsfähigkeit gesehen. Dennoch hat er eine Belastbarkeit der Klägerin hinsichtlich einer Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau aufgrund des erforderlichen Stehens, Gehens, gelegentlichen Tragens von Lasten und des Publikumsverkehrs ausgeschlossen. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat er - unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (keine schweren oder mittelschweren Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, kein dauerndes oder überwiegendes Stehen, Gehen, häufiges Bücken, keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und an laufenden Maschinen, keine Fließband-, Schicht- oder Nachtarbeiten, keine Arbeiten in Kälte, Nässe oder unter Wärmeeinfluss, keine schwierigen Tätigkeiten geistiger Art mit Publikumsverkehr oder besonderer nervlicher Beanspruchung) - hingegen arbeitstäglich sechs Stunden für zumutbar erachtet.
Die Klägerin hat Einwendungen gegen das Gutachten des B1 vorgebracht (Bl. 142 f. SG-Akte) und abermals darauf hingewiesen, dass eine Verweisung auf eine Tätigkeit als Kassiererin/Kassenaufsicht unzumutbar sei, woraufhin die Beklagte eine erneute sozialmedizinische Stellungnahme des S1 (Bl. 145 SG-Akte) vorgelegt hat, der an seiner bisherigen Leistungseinschätzung festgehalten und überdies ausgeführt hat, dass die Klägerin auch zumutbar auf eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin verwiesen werden könne.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 24.02.2021 die Klage - in erster Linie gestützt auf die Sachverständigengutachten der S2 und B1 - abgewiesen, da die Klägerin weder erwerbsgemindert noch berufsunfähig sei.
Gegen den - ihrem Prozessbevollmächtigten am 02.03.2021 zugestellten - Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 16.03.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass das SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Sach- und Rechtslage verkannt habe. Zur Einschätzung des Ausmaßes der psychiatrischen Erkrankung habe sich das SG auf das Gutachten des B1 gestützt, das jedoch widersprüchlich sei und sich nicht mit der psychotherapeutischen Stellungnahme des langjährig behandelnden S auseinandergesetzt habe. Der Sachverständige B1 habe sie - ihrer Erinnerung nach - lediglich ca. eine Stunde lang untersucht. Auch lasse das Gutachten nicht erkennen, welche Auswirkungen der Sachverständige aus den von ihm eingeholten testpsychologischen Untersuchungen abgeleitet habe. Das SG habe in seiner Entscheidung den „Begriff der Dysthymia“ verkannt. Der behandelnde Facharzt N habe eine depressive Störung im Sinne einer Dysthymia diagnostiziert und verdeutlicht, dass sie bereits seit Jahren unter depressiven Symptomen leide, die ihr Leben erheblich einschränkten. Dies werde durch die vorhandenen Schmerzzustände verstärkt. Sie sei durch die psychiatrische Erkrankung daher in ihrer Lebensgestaltung erheblich eingeschränkt. Im Übrigen lägen bei ihr auch die Voraussetzungen der Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit vor. Entgegen der Auffassung des SG sei sie nicht lediglich als „einfache“ Facharbeiterin einzustufen. Sie habe eine erworbene Zusatzqualifikation zur „Fachverkäuferin im Reformhaus“, welche ein erhebliches Element der beruflichen Ausbildung und Tätigkeit darstelle. Diese Zusatzqualifikation sei eine zwingende Voraussetzung für das ordnungsgemäße Betreiben eines Reformhauses und sei zum Nachweis entsprechender Sachkenntnisse beim Handel mit freiverkäuflichen Arzneimitteln, wie sie in einem Reformhaus angeboten würden, und für eine hinreichende Beratung für diätische Lebensmittel, Naturkosmetik usw. erforderlich. Sie gebe ihr gegenüber anderen Facharbeitern im Bereich Einzelhandelskauffrau ein deutlich überragendes Können sowie auch ein deutliches Maß an Verantwortung, weshalb sie als besonders hochqualifizierte Facharbeiterin einzustufen sei. Des Weiteren könne sie die von der Beklagten benannte Verweisungstätigkeit der Poststellenmitarbeiterin weder innerhalb von drei Monaten erlernen, noch sei diese Tätigkeit leidensgerecht. Sie sei mit den Abläufen in einem Büro nur eingeschränkt vertraut und besitze keine hinreichenden PC-Kenntnisse. Außerdem könne sie diese Tätigkeit, die mit dem Vorbereiten von Ausgangspost, welche gefalzt und sortiert, kuvertiert, verpackt und frankiert werden müsse, aufgrund der bestehenden Arthrose in den Händen, die sich zwischenzeitlich auch verschlechtert habe, nicht ausüben.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24.02.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 07.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 01.06.2018 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat auf ihre bisherige Rechtsauffassung und abermals darauf verwiesen, dass sich aus den vorgelegten Unterlagen keine Anhaltspunkte dafür ergäben, dass die zuletzt vom 01.04.2010 bis 30.04.2017 ausgeübte Tätigkeit beim Reformhaus S.W. mit erhöhten Anforderungen einer besonders hoch qualifizierten Facharbeiterin einhergegangen seien. Auch aus der für diese Zeit der Rentenversicherung gemeldeten Höhe des Bruttoarbeitsentgeltes - dieses sei dem Versicherungsverlauf zu entnehmen - könne nicht auf eine solche Tätigkeit geschlossen werden. Zudem könne die Klägerin nicht nur auf eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin, sondern auch - unter Verweis auf die beratungsärztliche Stellungnahme des S1 von November 2020 - auf eine solche als Kassiererin/Kassenaufsicht zumutbar verwiesen werden.
Der Senat hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen bei dem Ärztlichen Direktor der S-R-Kliniken R (S. 66 ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 17.03.2022). Der Sachverständige hat eine leichte depressive Episode und eine leichte, anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert und die Klägerin noch in der Lage gesehen, sowohl leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (vorzugsweise Tätigkeiten im Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen, wobei auch überwiegendes Sitzen, Gehen oder Stehen zumutbar sei; keine Akkord- oder Fließbandtätigkeiten; kein Heben und Tragen von Lasten über 10 kg; keine Zwangshaltungen der Wirbelsäule; kein Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten; keine Arbeiten unter der Exposition von Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe; keine Nachtschicht; keine besondere geistige Beanspruchung mit hoher oder erhöhter Verantwortung; insbesondere Arbeiten an Büromaschinen oder an Computertastaturen, mit Publikumsverkehr und durchschnittlichen geistigen Anforderungen wie z.B. im Rahmen einer Tätigkeit in einer betrieblichen Poststelle seien noch zumutbar) als auch eine Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau arbeitstäglich sechs Stunden und mehr auszuüben. Laut dem Sachverständigen sei im Falle einer überwiegend oder ständig sitzenden Tätigkeit der Arbeitsplatz der Klägerin ergonomisch zu gestalten. Ansonsten seien keine besonderen Arbeitsbedingungen erforderlich.
Die Klägerin hat hierzu ausgeführt, dass die vom Sachverständigen aufgeführten qualitativen Einschränkungen nicht mit dem Leistungsbild einer Einzelhandelskauffrau zu vereinbaren seien und abermals darauf verwiesen, dass sie als besonderes hoch qualifizierte Facharbeiterin einzustufen sei. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, dass die Tätigkeit in einer Poststelle lediglich mit einer durchschnittlichen geistigen Anforderung einhergehe.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 07.08.2018 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, denn sie ist weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, noch berufsunfähig, weswegen ihr weder Rente wegen voller Erwerbsminderung, noch wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zusteht.
Rechtsgrundlage für die hier in erster Linie begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie u.a. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Volle Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarkts auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., in juris). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht, da sie zur Überzeugung des Senats noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung oder ständig im Sitzen mit gelegentlichem Gehen und Stehen mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Nicht mehr zumutbar sind überwiegend gehende oder stehende Tätigkeiten, Arbeiten im Knien oder Hocken, auf Leitern oder Gerüsten, Arbeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Akkord-, Fließband- oder (Nacht-)Schichtarbeiten, Arbeiten mit erhöhten Anforderungen an die Feinmotorik sowie Tätigkeiten unter Einfluss von Nässe, Kälte, Hitze, Zugluft, Staub, Gasen oder Dämpfen sowie Arbeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung und mit hoher oder erhöhter Verantwortung. Der Senat stützt sich insoweit maßgeblich auf das erstinstanzliche Sachverständigengutachten des S2 sowie das Sachverständigengutachten des R.
Von orthopädischer Seite stehen die Beschwerden der Klägerin im Bereich der Beine sowie der Hände im Vordergrund. Nach dem Gutachten des S2 leidet die Klägerin insbesondere an einer eingeschränkten Belastbarkeit beider Beine in Folge der Implantation von Knie-TEPs beidseits, einer fortgeschrittenen Coxarthrose rechts sowie einer Fußwurzelarthrose links. Diese Diagnosen stehen sowohl im Einklang mit den von S2 ausgewerteten Röntgenaufnahmen der Knie, der rechten Hand und des linken Fußes (Fremdaufnahmen vom 09.11.2016 und 03.04.2019, eigene Aufnahmen vom 15.05.2020), den von ihm erhobenen Befunden (Hände: u.a. Druckschmerz über dem rechten Daumensattelgelenk, Grind-Test positiv, dezente Schwellung der Fingermittelgelenke; untere Extremitäten: u.a. leichte bis mäßige Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenke - mitbedingt durch massive Adipositas; Extension/Flexion: rechts 0-0-100°, links 0-0-110°; IRO/ARO bei 90° Beugung in Rückenlage: rechts 20-0-40°, links 30-0-40°; Abduktion/Adduktion: rechts 40-0-30°, links 50-0-30° -, Innenrotationsschmerz des rechten Hüftgelenks, leichte periartikuläre Schwellung beider Kniegelenke, reizlose Narben nach Implantation von Knie-TEPs bds., Druckschmerz im Bereich der linken Fußwurzel) als auch im Einklang mit den im Verwaltungs- und im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen, insbesondere mit den Entlassungsberichten der R-Klinik K von Oktober 2018 und Mai 2019. Allerdings ergibt sich aus den weiteren von S2 erhobenen Befunden (Hände: seitengleiche und altersentsprechend unauffällige Beschwielung der Hände, regelrechter Faustschluss, Spitz-, Schlüssel-, Grob- und Hohlhandgriff beidseits sicher möglich, klinisch kein Hinweis auf motorische, vaskuläre oder sensible Störungen im Bereich der Finger, Extension/Flexion der Handgelenke beidseits 70-0-80°, Radial-/Ulnarabduktion der Handgelenke beidseits 30-0-40°; untere Extremitäten: u.a. Muskelrelief von Ober- und Unterschenkel annähernd seitengleich und altersentsprechend kräftig, gute Beweglichkeit nach Implantation von Knietotalendoprothesen - Extension/Flexion: rechts 0-0-120°, links: 0-0-110° -, Patellae beidseits gut verschieblich, lediglich leicht schmerzhaft, Bandführung stabil, Knick-, Senk- und Spreizfuß beidseits, physiologische Abrollbewegungen, keine Metatarsalgien, normentsprechend seitengleiche Beschwielung der Füße, Hauttrophik unauffällig, Durchblutung, Motorik und Sensibilität der Zehen klinisch beidseits regelrecht, Plantarflexion/Dorsalextension der Sprunggelenke beidseits 40-0-20°, Eversion/Inversion der Sprunggelenke bds. 10-0-30°), dass diese Beschwerden lediglich mit leichten Funktionseinschränkungen einhergehen und demzufolge auch lediglich zu den oben beschriebenen qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und nicht auch zu einer quantitativen Leistungseinschränkung führen. Diese Leistungseinschätzung des S2 wird auch durch die von R im Rahmen seiner Begutachtung erhobenen Befunde und der in diesem Rahmen seitens der Klägerin gemachten Angaben gestützt. Im Rahmen der Untersuchung durch R hat die Klägerin den Zehen-, den Hacken-, den Seiltänzer- und den Blindgang unauffällig demonstriert und auch den Einbeinstand beidseits vorgeführt. Trotz bestehendem Schonhinken ist sie überdies in der Lage gewesen, einen begleiteten Spaziergang durchzuführen und hierbei eine Gehstrecke von 500 m in 8 Minuten und 19 Sekunden - wenn auch mit Schmerzangaben und Einlegen von kurzen Pausen - zurückzulegen -, Treppen zu steigen und - mit Halt am Geländer - in einen Simulator für öffentliche Verkehrsmittel einzusteigen. Hieraus lassen sich lediglich qualitative, nicht jedoch quantitative Leistungseinschränkungen ableiten. Dies gilt auch für die im Bereich der Hände bestehenden Beschwerden. Insoweit hat die Klägerin R gegenüber angegeben, dass sie gerne stricke, koche, bügle, mit ihren Enkelkindern Brettspiele mache, mit dem Mobiltelefon im sozialen Netzwerk „WhatsApp“ aktiv sei und auch Adventskränze für den Kolpingverein binde. Diese Tätigkeiten sind mit einer höhergradigen Störung der motorischen Fingerfertigkeit nicht vereinbar, weshalb sich auch aus den durch die Arthrose in den Händen und am Daumensattelgelenk hervorgerufenen Beschwerden lediglich Einschränkungen hinsichtlich besonderer Anforderungen an die Feinmotorik ableiten lassen, wie S2 schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt hat.
Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet leidet die Klägerin an einer leichten depressiven Episode und einer leichten anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Dies stützt der Senat auf das Sachverständigengutachten des R. Diese Diagnosen stehen in Einklang mit den von ihm erhobenen psychischen (Verhalten: pünktlich, korrekt gekleidet, offen, Aufmerksamkeit, konzentriert, kein Nachlassen der Konzentriertheit oder der Aufmerksamkeit während der mehrstündigen Begutachtung; Orientierung: bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten - zum Ort, zur Zeit und zur Person - und situativ voll orientiert; Antrieb: Antriebslage lediglich leichtgradig vermindert, keine Hinweise für eine äußerlich erkennbare innere Unruhe; Stimmungslage: überwiegend depressive Stimmungslage mit nur verzögerter leichter Stimmungsaufhellung, affektive Modulationsfähigkeit leichtgradig eingeschränkt; kognitive Funktionen: Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsdauer ungestört; mnestische Funktionen: Kurz- und Langzeitgedächtnis ohne Einschränkungen; Intelligenz: sehr intelligent und gebildet, abstrakten gedanklichen Anforderungen kann sie gut genügen; Gedankengang: formale Gedankengang unauffällig, Gedankeninhaltlich kreisend um die Beschwerden, keine Hinweise auf paranoide Ideen, Halluzinationen, Ich-Störungen, Zwangsideen oder -gedanken; Suizidalität: keine Todeswünsche oder Suizidgedanken) und neurologischen (Hirnnerven: unauffällig; Sprache, Sprechen und Stimmbildung: unauffällig; motorisches System: unauffällig; sensibles System: Hypästhesie am rechten Fußrücken, übrige Oberflächen- und Tiefensensibilität ungestört; Koordination: unauffällig; Reflexe: unauffällig; Gangbild: Gehstrecke von 500 m in 8 Minuten und 19 Sekunden möglich, Einsteigen in Simulator für öffentliche Verkehrsmittel möglich, Treppensteigen möglich, Rechtshinken, Zehen-, Hacken-, Seiltänzer- und Blindgang unauffällig, Einbeinstand beidseits vorführbar; unauffälliges Alpha-EEG ohne Hinweise auf vermehrte Tagesmüdigkeit; unauffällige elektrophysiologische Untersuchungen) Befunden, den sich aus der Anamnese ergebenden Alltagsaktivitäten der Klägerin (Mahlzeiten richten, kochen, Zeitung und gelegentlich Romane lesen, spazieren gehen, stricken, mit den Enkelkindern Brettspiele spielen, täglich auf Fahrradergometer trainieren, Auto fahren, bügeln, auswärtige Termine für Ehemann organisieren, Treffen mit Freundin - auch im Restaurant -, Radio hören, fernsehen, in sozialem Netzwerk „WhatsApp“ aktiv sein, Adventskränze für Kolpingverein binden), der Auswertung der von der Klägerin ausgefüllten Fragebögen und dem Umstand, dass die Klägerin ausweislich ihres Versicherungsverlaufs seit April 2017 durchgehend ihren Ehemann pflegt (Pflegegrad 3). Dies alles rechtfertigt - wiederum in Ansehung der von R erhobenen Befunde, der eigenen Angaben der Klägerin, der Auswertung der Fragebögen und der stattgehabten Pflege des Ehemannes - nicht die Annahme einer quantitativen, sondern lediglich die von R beschriebenen (s.o.) qualitativen Leistungseinschränkungen.
Eine andere Leistungseinschätzung ergibt sich auch nicht aus dem von B1 im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens erstellten Sachverständigengutachten. Auch wenn die von B1 vorgenommene Leistungseinschätzung hinsichtlich der Verneinung qualitativer Einschränkungen bei Frage 2 und der nachfolgenden Aufzählung solcher bei Frage 3 teilweise widersprüchlich scheint - einerseits keine geistige Leistungseinschränkung, andererseits keine Belastbarkeit mehr für Tätigkeiten mit Publikumsverkehr -, ist der von ihm erhobene psychische Befund unauffällig gewesen (pünktlich, alters- und situationsentsprechend gepflegt gekleidet, zurückhaltende Kontaktaufnahme ohne Misstrauen, klinisch keine Beeinträchtigungen von Merkfähigkeit und Konzentration, formaler Gedankengang geordnet, keine explorierbaren inhaltlichen Denkstörungen, Niedergestimmtheit, adäquat auslenkbarer Affekt) und begründet jedenfalls keine quantitative Leistungseinschränkung.
Hieran ändern weder die sachverständigen Zeugenauskünfte des behandelnden Facharztes N und der Fachärztin E noch die Auskunft des S etwas. Denn keiner der Befragten hat zum Zeitpunkt der Befragung noch objektiv bestehende Befunde mitgeteilt. S hat lediglich subjektive Beschwerdeangaben der Klägerin mitgeteilt. E hat - ohne Mitteilung von Befunden - lediglich behauptet, die depressive Erkrankung der Klägerin habe sich verschlechtert, was durch die Sachverständigengutachten widerlegt ist. Soweit N eine Beeinträchtigung von Lebensfreude, Antrieb, in den sozialen Kontakten und im Schlafen angegeben hat, ist bereits nicht ersichtlich, dass diese Einschränkungen auch zum Zeitpunkt seiner Zeugenauskunft noch bestanden haben, da er deren Vorliegen als in der Vergangenheit bestehend („war“) angegeben hat. Darüber hinaus hat sich weder im Rahmen der zeitlich späteren Begutachtungen durch B1, noch durch R eine erhebliche Einschränkung des psychischen Befundes der Klägerin bestätigt, so dass es sich jedenfalls nicht um überdauernde psychische Einschränkungen gehandelt hat.
Unter Zugrundelegung all dessen hat der Senat keine ernsthaften Zweifel, dass die Klägerin noch in der Lage ist, jedenfalls leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung der oben festgestellten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, sodass sie weder voll, noch teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI). Dabei ist es unerheblich, ob ihr ein dem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz vermittelt werden kann, weil nach § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist vorliegend nicht erforderlich (vgl. BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94, auch zum Nachfolgenden). Denn nach der Rechtsprechung des BSG steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist. Nur ausnahmsweise ist für einen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten wie die Klägerin mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. In der Rechtsprechung des BSG sind bestimmte Fälle anerkannt (z.B. Einarmigkeit, vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.), zu denen der vorliegende Fall aber nicht gehört. Vielmehr braucht eine Verweisungstätigkeit erst benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG a.a.O.; BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80). Denn ein Teil dieser Einschränkungen stimmt bereits mit den Tätigkeitsmerkmalen einer körperlich leichten Arbeit überein; dies gilt insbesondere für die geminderte Fähigkeit, Lasten zu bewältigen und die geringe Belastbarkeit der Wirbelsäule (BSG a.a.O.) mit den hierauf beruhenden Einschränkungen. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (vgl. zuletzt BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Nicht anders liegt der Fall der Klägerin. Auch bei ihr wird den qualitativen Einschränkungen (s.o.) im Wesentlichen bereits dadurch Rechnung getragen, dass ihr nur noch leichte Arbeiten zugemutet werden.
Bei der Klägerin liegt auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung in Gestalt einer Einschränkung ihrer Wegefähigkeit (vgl. dazu nur BSG 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, Rn. 20 m.w.N. und BSG 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R, m.w.N.) vor. Eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich, weshalb das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität deshalb Teil des in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Risikos ist; das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach dem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, viermal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (weniger als 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen, Rollator) und Beförderungsmöglichkeiten (insbes. die zumutbare Benutzung eines vorhandenen Kfz) zu berücksichtigen.
Die Klägerin ist in ihrer Mobilität nicht in diesem Sinne eingeschränkt. Dies ergibt sich überzeugend aus den Ausführungen des R. Wie bereits oben ausgeführt, hat die Klägerin bei der Gangprüfung, den Zehen-, Hacken-, Seiltänzer- und Blindgang unauffällig ausgeführt und ist auch in der Lage gewesen, den Einbeinstand beidseits vorzuführen. Außerdem hat sie bei einem durch eine Mitarbeiterin des Sachverständigen begleiteten Spaziergang eine Gehstrecke von 500 Metern in 8 Minuten und 19 Sekunden zurücklegen können und ist auch fähig gewesen, in einen Simulator für öffentliche Verkehrsmittel einzusteigen und diesen wieder zu verlassen. Zudem verfügt die Klägerin über einen Führerschein und ein Kfz, das sie auch nutzt. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit der Klägerin liegt mithin nicht vor.
Die Klägerin hat schließlich auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Einen entsprechenden Anspruch haben gemäß § 240 Abs. 1 SGB VI bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig sind.
Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Ausgangspunkt der Beurteilung ist danach der bisherige Beruf (hierzu und im nachfolgenden: BSG 12.02.2004, B 13 RJ 34/03 R; BSG 20.07.2005, B 13 RJ 29/04 R). Darunter ist im Allgemeinen diejenige der Versicherungspflicht unterliegende Tätigkeit zu verstehen, die zuletzt auf Dauer, d.h. mit dem Ziel verrichtet wurde, sie bis zum Eintritt der gesundheitlichen Unfähigkeit oder bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben; in der Regel ist das die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, jedenfalls, wenn sie die qualitativ höchste ist.
Vorliegend ist die Klägerin zuletzt von 2010 bis April 2017 als Verkäuferin in ihrem erlernten Beruf als Einzelhandelskauffrau in einem Reformhaus (heute: Fachverkäufer/in Reform- und Diätwaren, s. https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/6658, abgerufen am 16.02.2023) tätig gewesen. Daher ist auch diese Tätigkeit für die Bewertung von Berufsunfähigkeit als Bezugsberuf zugrunde zu legen. Anhaltspunkte dafür, dass sie in der Zeit von 2010 bis April 2017 (noch) eine Position als Filialleiterin inne gehabt hat, liegen nicht vor. Dies wird auch von der Klägerin nicht behauptet.
Ob die Klägerin die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als „Reformhaus-Fachverkäuferin“ tatsächlich noch arbeitstäglich sechs Stunden und mehr ausüben kann, wie R gemeint hat, oder ihre quantitative Leistungsfähigkeit diesbezüglich auf unter sechs Stunden täglich gesunken ist, wovon die Ärzte in der R-Klinik K jedenfalls im Mai 2019 ausgegangen sind, kann vorliegend dahinstehen. Denn zur Überzeugung des Senats kann die Klägerin jedenfalls auf eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin verwiesen werden, weshalb sie nicht berufsunfähig ist.
Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildung von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert.
Grundsätzlich darf ein Versicherter im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf Tätigkeiten der nächst niedrigeren Gruppe des Mehrstufenschemas verwiesen werden. Facharbeiter sind dementsprechend nur auf Tätigkeiten ihrer Gruppe und der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten mit einer Ausbildungszeit von wenigstens drei Monaten verweisbar (BSG 30.09.1987, 5 b RJ 20/86). Die vielschichtige und inhomogene Gruppe der angelernten Arbeiter zerfällt nach der Rechtsprechung des BSG in einen oberen und einen unteren Bereich. Dem unteren Bereich der Stufe mit dem Leitberuf des Angelernten sind alle Tätigkeiten mit einer regelmäßigen, auch betrieblichen, Ausbildungs- und Anlernzeit von drei bis zwölf Monaten und dem oberen Bereich dementsprechend die Tätigkeiten mit einer Ausbildungs- oder Anlernzeit von über zwölf bis zu vierundzwanzig Monaten zuzuordnen (BSG 29.03.1994, 13 RJ 35/93). Angehörige der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten im oberen Bereich können nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die sich durch Qualitätsmerkmale, z.B. das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher und betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen, wobei mindestens eine solche Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist (BSG, a.a.O.). Versicherte, die zur Gruppe der ungelernten Arbeiter oder zum unteren Bereich der angelernten Arbeiter gehören, können grundsätzlich auf alle auf dem Arbeitsmarkt vorkommenden Tätigkeiten verwiesen werden. Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist in diesen Fällen regelmäßig nicht erforderlich, weil auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung steht, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist (BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94).
Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend ist allein die Qualität der verrichteten Arbeit, d.h. der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung, bisheriger Beruf, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird.
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Klägerin mit ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Facharbeiterin einzustufen. Die Klägerin ist nämlich zuletzt von 2010 bis April 2017 in ihrem erlernten Ausbildungsberuf als Einzelhandelskauffrau in einem Reformhaus tätig gewesen. Die Voraussetzungen für die von der Klägerin behauptete höhere Einstufung als besonders hoch qualifizierte Facharbeiterin liegen nicht vor. Besonders hoch qualifizierte Versicherte sind solche, die wesentlich höherwertige Arbeiten als ihre zur Gruppe der Facharbeiter zählenden Arbeitskollegen verrichten und diese nicht nur bezüglich der Entlohnung, sondern auf Grund besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen auch in der Qualität ihrer Berufstätigkeit deutlich überragen (BSG 03.11.1982, 1 RJ 12/81). Eine derartige Qualifizierung hat bei der Klägerin nicht vorgelegen. Soweit sie auf die erfolgreiche Absolvierung der Grundkurse I bis III in der Reformhaus-Fach-Akademie verweist, weshalb ihr die Bezeichnung „Reformhaus-Fachverkäufer“ zuerkannt worden ist, sieht der Senat hierin die oben aufgeführten Voraussetzungen für eine besondere Hochqualifizierung nicht als erfüllt an. Diese Grundkurse dauerten jeweils durchschnittlich ca. drei Wochen (30.07.1979 bis 25.08.1979, 11.08.1980 bis 30.08.1980 und 30.05.1983 bis 22.06.1983) und haben - ausweislich der vorgelegten Bescheinigungen - lediglich Grundkenntnisse in den Lehrfächern (u.a. Waren- und Nahrungsmittelkunde, Heilpflanzenkunde, Ernährungssysteme, Grundfunktionen des menschlichen Stoffwechsels, Prinzipien der klassischen Diätetik, Drogenkunde etc.) vermittelt. Dass die Klägerin hierdurch in die Lage versetzt worden ist, wesentlich höherwertige Arbeiten als ihre zur Gruppe der „bloßen“ Facharbeiter zählenden Arbeitskollegen zu verrichten, ist für den Senat nicht ersichtlich. Nach dem Vortrag der Klägerin wäre andernfalls jede/r „Reformhaus-Fachverkäufer/in“ als besonders hoch qualifiziert einzustufen, was dem Sinn und Zweck der Regelung entgegenstehen würde. Vielmehr liegt es gerade in der Natur der Sache, dass Einzelhandelskaufleute in der Branche, in der sie tätig sind (Lebensmittel-, Textilbranche etc.), besondere Fachkenntnisse und (einfache) Qualifizierungen erwerben. Dies führt nicht automatisch zur Anerkennung einer besonderen Hochqualifizierung. Ebenso verhält es sich mit den von der Klägerin erworbenen Sachkundenachweisen (Milchsachkunde, freiverkäufliche Arzneimittel). Diverse Ausbildungsberufe erfordern grundsätzlich bestimmte Sachkundenachweise, ohne dass sie damit als „besonders hoch qualifiziert“ einzustufen sind. So muss beispielsweise auch für die Tätigkeit als Drogist/in eine entsprechende Sachkenntnis für den Handel mit frei verkäuflichen Arzneimitteln nachgewiesen werden (s. https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/6712, abgerufen am 16.02.2023). Gleiches gilt selbstverständlich auch für eine Tätigkeit als pharmazeutisch-technische/r Assistent/in (s. https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/8910, abgerufen am 16.02.2023). Überdies benötigen Kaufleute im Einzelhandel, die in der Lebensmittelbranche tätig sind, grundsätzlich auch eine Belehrung und Bescheinigung des Gesundheitsamtes (s. https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/6580#zugangAnforderungen, abgerufen am 16.02.2023). Somit lässt sich - zur Überzeugung des Senats - auch nicht von einzelnen Sachkundenachweisen darauf schließen, dass eine besonders hoch qualifizierte Tätigkeit ausgeübt worden ist. Auch lässt sich aus der Höhe des von der Klägerin erzielten Entgelts nicht darauf schließen, dass sie besonders hoch qualifizierte Tätigkeiten ausgeübt hat. Laut Versicherungsverlauf hat die Klägerin in den Jahren 2015 und 2016 jeweils insgesamt 10.560,- € verdient. Ihre wöchentliche Arbeitszeit hat - ihren eigenen Angaben in den beiden Rehabilitationsverfahren folgend - 15 Stunden/Woche betragen. Dies entspricht einem Stundenlohn von 14,67 € (10.560 € : 12 Monate = 880 €/Monat; 880 € : 4 Wochen = 220 €/Woche; 220 € : 15 Stunden = 14,67 €/Stunde). Dieser Stundenlohn liegt weit unter demjenigen, den ein vergleichbarer Tarifbeschäftigter in den Jahren 2015 und 2016 erzielt hat. Entsprechend ihrer Ausbildung, den erworbenen (einfachen) Qualifikationen und dem Umstand, dass die Klägerin ab 2010 lediglich im Verkauf und nicht (mehr) als Filialleiterin tätig gewesen ist und somit keine Leitungsposition (mehr) inne gehabt hat, wäre die Klägerin nach den Tarifverträgen über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 09.07.2015 (s. hierzu auch Bundesarbeitsgericht - BAG - 15.08.2018, 10 AZR 211/17) höchstens in die Beschäftigungsgruppe IV (Tätigkeiten, die selbständig mit entsprechender Verantwortung für den Tätigkeitsbereich ausgeübt werden; Beispiele: Erste Verkaufskräfte mit Einkaufsbefugnis, Einkäufer/innen, Substituten/Substitutinnen,
Kassen-, Etagen- und Verkaufsaufsichten) einzustufen gewesen. Laut der in den Jahren 2015 und 2016 geltenden Entgelttabelle hat das höchste tarifliche Entgelt für die Beschäftigungsgruppe IV bis 30.06.2015 3.062,- €, ab 01.07.2015 3.139,- € und ab dem 01.04.2016 3.202,- € bei einer - laut Manteltarifvertrag vom 05.12.2013 - wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden betragen. Dies entspricht für die Zeit bis 30.06.2015 einem Stundenlohn von 20,41 € (3.062 € : 4 Wochen = 765,5 €/Woche; 765,5 € : 37,5 Stunden = 20,41 €/Stunde), für die Zeit ab 01.07.2015 von 20,93 € (3.139 € : 4 Wochen = 784,75 €/Woche; 784,75 € : 37,5 Stunden = 20,93 €/Stunde) und für die Zeit ab 01.04.2016 von 21,35 € (3.202 € : 4 Wochen = 800,5 €/Woche; 800,5 € : 37,5 Stunden = 21,35 €/Stunde). Der tatsächlich von der Klägerin in den Jahren 2015 und 2016 erzielte Stundenlohn von 14,67 € hat somit deutlich unter dem tariflich erzielbaren Entgelt gelegen, so dass auch daraus nicht darauf geschlossen werden kann, dass die Klägerin eine hoch qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hat.
Als (normale) Facharbeiterin ist die Klägerin somit auf Tätigkeiten der nächst niedrigeren Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten mit einer Ausbildungszeit von wenigstens drei Monaten verweisbar und damit auf eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin.
Dass die Tätigkeit eines Poststellenmitarbeiters für einen Facharbeiter eine zumutbare Verweisungstätigkeit darstellt und dass entsprechende Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, hat der erkennende Senat namentlich in seinem Urteil vom 13.12.2018 (L 10 R 411/15, in juris, m.w.N., insbesondere unter Hinweis auf das Senatsurteil vom 23.03.2006, L 10 R 612/05, auf der Grundlage des dort eingeholten berufskundlichen Gutachtens, sowie das Urteil des 13. Senats des LSG Baden-Württemberg vom 25.09.2012, L 13 R 4924/09, in juris, auf der Grundlage umfangreicher Auskünfte von Arbeitgebern im Bereich des öffentlichen Dienstes, von gesetzlichen Krankenkassen, von privaten Versicherungsunternehmen und Bausparkassen) im Einzelnen dargelegt; auf die dortigen Entscheidungsgründe wird hier Bezug genommen.
Die Tätigkeit als Mitarbeiter in der Poststelle umfasst (Senatsurteil vom 13.12.2018, L 10 R 411/15, a.a.O., wiederum u.a. unter Hinweis auf das Senatsurteil vom 23.03.2006, L 10 R 612/05, im Anschluss an den dortigen Sachverständigen, sowie das Urteil des 13. Senats des LSG Baden-Württemberg vom 25.09.2012, L 13 R 4924/09, a.a.O.) die Entgegennahme und das Öffnen der täglichen Eingangspost (Postsäcke, Postkörbe, Pakete, Briefsendungen, u.a.) sowie der Hauspost, die Entnahme des Inhaltes von Postsendungen, die Überprüfung der Vollständigkeit, das Anbringen eines Posteingangsstempels bzw. eines Eingangs-/Weiterleitungsvermerks, das Anklammern der Anlagen, das Auszeichnen, Sortieren und Verteilen der Eingangspost innerhalb der Poststelle in die Fächer der jeweils zuständigen Abteilungen. Daneben bereiten Poststellenmitarbeiter die Ausgangspost vor. Dies geschieht durch Falzen und Sortieren, Kuvertieren bzw. Verpacken der Post, das Frankieren und Bereitstellen der ausgehenden Post, das Bedienen der Kuvertier- und Frankiermaschine und Beschriften der ausgehenden Aktenpost, das Packen von Päckchen und Paketen, das Eintragen von Wert- und Einschreibesendungen in Auslieferungsbücher. Es handelt sich hierbei regelmäßig um eine körperlich leichte Arbeit in geschlossenen und temperierten Räumen im Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass gelegentlich Lasten über 10 kg gehoben bzw. getragen werden müssen. Doch sind solche Transporttätigkeiten in größeren Behörden und Firmen nicht typisch für die Tätigkeit in der Poststelle, weil der Transportdienst von und zum Postamt sowie innerhalb der Poststelle dort von nur wenigen, speziell hierfür bestimmten Mitarbeitern wahrgenommen wird (Urteil des Senats vom 23.03.2006, L 10 R 612/05, mit den darin wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen). Demgemäß ist - was für die Benennung auch als körperlich leichte Verweisungstätigkeit genügt - die Mehrheit der Mitarbeiter der Poststelle ausschließlich mit dem Fertigmachen der auslaufenden Post und mit der Bearbeitung der eingehenden Post betraut, sodass die zu verrichtenden Aufgaben nicht den Schweregrad leichter körperlicher Tätigkeiten übersteigen (so bereits LSG Rheinland-Pfalz 26.5.1997, L 2 I 47/95, in juris, m.w.N.).
Das Leistungsvermögen der Klägerin entspricht diesem Anforderungsprofil. Denn die Klägerin kann entsprechend der obigen Darlegungen jedenfalls leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung und unter Beachtung der aufgeführten qualitativen Einschränkungen ausüben. Abweichende Feststellungen vermag der Senat auch insoweit - ebenfalls aus den oben dargelegten Gründen - nicht zu treffen. Soweit die Klägerin behauptet hat, sie könne die Tätigkeit in der Poststelle nicht ausüben, da sie aufgrund der in den Händen bestehenden Arthrose ein Vorbereiten von Ausgangspost, welche gefalzt und sortiert, kuvertiert, verpackt und frankiert werden müsse, nicht vornehmen könne, folgt dem der Senat nicht. S2 hat in seinem Sachverständigengutachten von Mai 2020 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die in den Händen bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen lediglich als geringgradig einzustufen sind. Eine maßgebliche Verschlechterung - wie von der Klägerin behauptet - vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat R im Rahmen seiner Untersuchung im März 2022 bei der Prüfung der Diadochokinese (Drehbewegungen) der Hände keinen pathologischen Befund erheben können. Dies steht auch in Einklang mit ihren - im Rahmen der Begutachtung durch R gemachten - eigenen Angaben. So hat sie dem Sachverständigen R mitgeteilt, gerne zu stricken, Adventskränze für den Kolpingverein zu binden, auf ihrem Mobiltelefon im sozialen Netzwerk „WhatsApp“ aktiv zu sein, zu kochen, zu bügeln und mit ihren Enkelkindern Brettspiele zu machen. Diese Tätigkeiten - insbesondere das Stricken - sind allesamt von einem feinmotorischen Einsatz der Finger und Hände abhängig. Es ist mithin für den Senat nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin die genannten Tätigkeiten ausüben kann, eine Tätigkeit in der Poststelle jedoch nicht möglich sein soll, zumal feinmotorische Verrichtungen für diese Tätigkeit gerade nicht prägend sind (s.o.).
Der Senat hat auch keinerlei Zweifel, dass die Klägerin in der Lage ist, die Tätigkeit einer Poststellenmitarbeiterin nach einer zumutbaren betrieblichen Einweisungs- oder Einarbeitungszeit von längstens drei Monaten (s. auch dazu die entsprechenden Nachweise im Senatsurteil vom 13.12.2018, L 10 R 411/15, a.a.O., sowie das Ergebnis der Ermittlungen des 13. Senats des LSG Baden-Württemberg im Urteil vom 25.09.2012, L 13 R 4924/09, a.a.O.; vgl. auch BSG 22.09.1977, 5 RJ 96/76; 08.09.1982, 5b RJ 36/82) vollwertig zu verrichten. Allein der klägerseits vorgetragene Umstand, sie sei mit den Abläufen in einem Büro nur eingeschränkt vertraut und besitze keine hinreichenden PC-Kenntnisse, rechtfertigt nicht die Annahme, dass eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin ihre geistigen Fähigkeiten übersteigt und sie nicht in der Lage ist, sich die benötigten (EDV-)Kenntnisse innerhalb einer dreimonatigen Anlernzeit anzueignen. Zum einen hat R die Klägerin in seinem Gutachten als sehr intelligent und gebildet beschrieben. Zum anderen kann von einer Facharbeiterin - die im Übrigen ihre Tätigkeit selbst als hochqualifiziert einschätzt - jedenfalls erwartet werden, die Grundkompetenz zum Einsatz des PC - soweit erforderlich - innerhalb des genannten Zeitraums zu erwerben (s. LSG Baden-Württemberg 25.09.2012, L 13 R 6087/09; 22.07.2020, L 5 R 1115/18; Bayerisches LSG 16.12.2015, L 13 R 250/14, juris). Den vom 13. Senat eingeholten Arbeitgeberauskünften zufolge bedarf es regelmäßig - soweit nicht ausnahmsweise eine spezifische Berufsausbildung gefordert wird - keiner besonderen Voraussetzungen, insbesondere keiner Fachkenntnisse, um innerhalb einer Anlernzeit von vier bis sechs Wochen bis maximal drei Monaten die erforderlichen Kenntnisse, darunter einfache PC-Kenntnisse, zu erwerben.
Die Klägerin kann somit in zumutbarer Weise auf eine Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin verwiesen werden. Ob sie darüber hinaus auch auf eine Tätigkeit als Kassiererin/Kassenaufsicht verwiesen werden kann, kann folglich dahinstehen.
Somit liegen bei der Klägerin auch die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gem. § 240 SGB VI nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 22 R 1515/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 1000/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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