L 5 P 81/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 12 P 457/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 P 81/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 14/22 AR
Datum
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.05.2022 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Gewährung von Leistungen nach dem Pflegegrad 3 in Anspruch.

Der am 00.00.1936 geborene Kläger ist bei der Beklagten gegen das Risiko Pflegebedürftigkeit versichert und bezieht seit Januar 2017 Leistungen nach dem Pflegegrad 2. Er leidet unter einer Minderbelastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates bei chronischem Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule aufgrund einer Spinalkanalstenose, einer beidseitigen Fußheber- und -senkerparese, einem lmpingementsyndrom, einer Arthrose in den Händen und Knien, einer ausgeprägten Fußfehlform, Diabetes Mellitus Typ 2 mit sensomotorischer Polyneuropathie, einer koronaren Herzerkrankung, einer Aortenklappenstenose, einem Bluthochdruck, einer Harndranginkontinenz sowie unter einer Schuppenflechte. Bei dem Kläger wurde ein GdB von 100 mit den Merkzeichen G und B festgestellt.

Am 12.02.2020 beantragte der Kläger die Gewährung von höheren Leistungen der Pflegeversicherung. Nachdem der (damalige) Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK – jetzt: MD) auf Veranlassung der Beklagten nach persönlicher Begutachtung des Klägers im Rahmen eines Hausbesuchs am 28.02.2020 zu der Auffassung gelangt war, dass der Kläger mit insgesamt 41,25 gewichteten Punkten die Voraussetzungen des Pflegegrades 3 nicht erfülle, lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 03.03.2020).

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er Hilfe beim Umsetzen benötige, keine Treppen steigen könne, unter einem versorgungsbedürftigen Dekubitus leide, häufiger als dreimal pro Woche zum Arzt gehe und mehr als 45mal pro Woche Hilfe bei der Nutzung diverser Hilfsmittel benötige. Dies habe der MDK nicht berücksichtigt. Zudem sei er hilflos, interessenlos, reizbar, aggressiv, dauerhaft in der Mobilität eingeschränkt, schwerhörig und habe ein gestörtes Langzeitgedächtnis.

Nach erneuter Einschaltung des MDK, der in einer nach Aktenlage verfassten Stellungnahme vom 20.04.2020 abermals nicht zur Annahme des Pflegegrades 3 gelangte, wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 02.09.2020).

Mit seiner am 25.09.2020 bei dem SG Dortmund erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er sei in sämtlichen Modulen stärker eingeschränkt, als der MDK dies in seinen Gutachten bislang festgestellt habe.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.03.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 zu verurteilen, ihm Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 3 ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Nach Einholung von Befundberichten hat das SG ein Sachverständigengutachten von der Ärztin für Innere Medizin, Kardiologie und Sozialmedizin Dr. S eingeholt. Die Sachverständige ist in ihrem nach Hausbesuch erstatteten Gutachten vom 10.11.2021 zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger mit 38,75 gewichteten Gesamtpunkten die Voraussetzungen des Pflegegrades 2, nicht jedoch des Pflegegrades 3 erfülle.

Der Kläger hat eingewandt: Der Sachverständigen seien grobe handwerkliche Fehler unterlaufen, so dass das Gutachten unter zahlreichen Ungereimtheiten leide. Das Gutachten sei subjektiv, seine Beschwerden jedoch objektiv. So sei er etwa bei der Fortbewegung innerhalb des Wohnbereichs unselbständig, könne Personen aus dem näheren Umfeld nicht mehr gut erkennen, sei manchmal in der zeitlichen Orientierung eingeschränkt (er vergesse z.B. die Wahrnehmung von Arztterminen), leide unter nächtlicher Unruhe. Überdies sei er häufig verbal aggressiv und wehre dabei pflegerisch-unterstützende Maßnahmen ab, habe Ängste und sei depressiv. Seinen Oberkörper könne er nur noch überwiegend unselbständig auskleiden, den Unterkörper nur noch gänzlich unselbständig. Bei der Bewältigung der Folgen seiner Harninkontinenz sei er zumindest überwiegend unselbständig. Die Messung und Deutung von Körperzuständen (Blutdruckmessen) habe die Sachverständige ebenfalls nicht berücksichtigt. Darüber hinaus habe er einen größeren täglichen Hilfebedarf bei den körpernahen Hilfsmitteln, da er auch Noppen-Stoppersocken trage. Zudem leide er nach wie vor unter einem Dekubitus und sei bei der Einhaltung seiner Diät nur überwiegend selbständig. Für den Gang zum Arzt müsse auch der Bedarf für die Pflegeperson, nicht nur sein eigener Bedarf berücksichtigt werden. Schließlich finde keinerlei Kontaktpflege zu Personen außerhalb seines direkten Umfeldes mehr statt.

Die Sachverständige hat sich mit diesen Einwänden in einer ergänzenden Stellungnahme vom 12.01.2022 auseinandergesetzt. Die Testverfahren seien im Rahmen der Untersuchung nach üblichem Vorgehen durchgeführt worden. Deren Ergebnisse sprächen gegen eine Orientierungslosigkeit. Entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung liege eine pflegerelevante Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet nicht vor. Ebenso wenig sei eine überwiegende Unselbständigkeit beim An- und Auskleiden des Oberkörpers zu begründen. Auch ein Dekubitus sei nicht festzustellen gewesen. Unter der Nutzung von Hilfsmitteln sei der Kläger bei der Fortbewegung innerhalb der Wohnung selbstständig. Insgesamt lasse sich nach erneuter Prüfung ein Hilfebedarf nach dem Pflegegrad 3 nicht rechtfertigen.

Durch Urteil vom 23.05.2022 hat das SG die Klage abgewiesen und u.a. ausgeführt:

„(…) Nach diesen Maßgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des Pflegegrades 3 seit Februar 2020 nicht. Hiervon war das erkennende Gericht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere nach dem Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen Frau Dr. S, überzeugt. Hiergegen haben die Beteiligten auch keine Einwendungen vorgebracht, die zu vernünftigen Zweifeln an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen und Einschätzungen des Sachverständigen hätten führen können. Die gerichtliche Sachverständige verfügt als Fachärztin für Innere Medizin, Kardiologie und Sozialmedizin über die für die Bewertung erforderliche Sachkunde. Es handelt sich um eine in der Begutachtung der Pflegegradzuordnung nach der sozialen Pflegeversicherung sehr erfahrene Sachverständige. Ihr Gutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Insbesondere macht sie den Verlauf der Anamneseerhebung deutlich und würdigt die vom Kläger aufgeführten Aspekte nachvollziehbar und kritisch.

Soweit der Kläger behauptet, die Feststellungen der Sachverständigen seien subjektiv und falsch und seine Angaben seien nicht berücksichtigt worden, folgt das Gericht dem nicht. Die gerichtliche Sachverständige hat den Hilfebedarf des Klägers vielmehr objektiv aus den schriftlichen Angaben des Klägers in der Verwaltungs- und Gerichtsakte sowie denen, die dieser bei dem Hausbesuch am 10.11.2021 ihr gegenüber persönlich gemacht hat sowie dem Eindruck, den sie bei der Begutachtung gewonnen hat, ermittelt. Soweit der Kläger meint, dies sei subjektiv und allein seine Wahrnehmung sei objektiv, folgt das Gericht dem nicht, da die Meinung der betroffenen pflegebedürftigen Person sowie seiner Pflegeperson schon denknotwendig nicht gänzlich unbeeinflusst von den eigenen Gefühlen und Erfahrungen sein kann, mithin nicht objektiv. Dahingegen hat die gerichtliche Sachverständige Dr. S kein Interesse an einer höheren oder niedrigeren Bewertung und dem Ausgang des hiesigen Verfahrens, so dass ihre Feststellungen zur Überzeugung des Gerichts als objektiv einzustufen und zugrunde zu legen sind. Hinsichtlich der einzelnen Module und den vom Kläger geltend gemachten höheren Pflegebedarf gilt folgendes:

Soweit der Kläger hinsichtlich Modul 1 geltend macht, dass er gänzlich unselbständig bei der Fortbewegung innerhalb des Wohnbereichs sei, gilt es zu beachten, dass er sowohl mit Festhalten zu Fuß als auch mittels Rollstuhl, der mit einem Joystick ausgestattet ist, sich allein durch seine Wohnung bewegen kann. Dass er dabei der Hilfe einer Pflegeperson bedarf, ist nicht erkennbar. Allein hierauf käme es jedoch an, nicht bereits auf die „Hilfe“ durch ein Hilfsmittel, wie den Rollstuhl.

Soweit der Kläger hinsichtlich Modul 2 Einschränkungen im kognitiven Bereich geltend macht, kann das Gericht dem ebenso nicht folgen. Neben den Feststellungen der Sachverständigen zu den unauffälligen Ergebnissen der testpsychometrischen Verfahren konnte auch der persönliche Eindruck des Klägers im Verhandlungstermin eine solche Annahme für das Gericht nicht rechtfertigen.

Soweit der Kläger hinsichtlich Modul 3 diverse Einschränkungen geltend macht, wird darauf hingewiesen, dass es keinerlei ärztliche Diagnosen zu Depressionen und Ängsten od. dgl. gibt. Daneben ist auch ein personeller lnterventionsbedarf weder erkennbar noch vorgetragen worden. Soweit der Kläger eine nächtliche Unruhe geltend macht, weil er morgens bereits um 4:57 Uhr aufsteht, kann dem nicht gefolgt werden. Dies mag eine frühe Uhrzeit sein, allerdings kann hierin noch keine Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus oder dgl. erkannt werden.

Soweit der Kläger einen höheren Hilfebedarf beim An- und Auskleiden des Ober- und Unterkörpers geltend macht, kann dem ebenso mit Blick auf die Feststellungen der Sachverständigen und des Eindrucks im Verhandlungstermin nicht gefolgt werden. Er ist nicht derart in der Bewegung des Oberkörpers eingeschränkt, wie es erforderlich wäre, um den erhöhten Pflegebedarf anzuerkennen. Soweit der Kläger harninkontinent ist, benutzt er zwar Vorlagen, wechselt diese jedoch eigenständig.

Soweit der Kläger in Modul 5 geltend macht, dass auch das An- und Ausziehen von Stoppersocken zu berücksichtigen sei, wird darauf hingewiesen, dass diese kein medizinischen Hilfsmittel, sondern Kleidungsstücke sind und damit bereits in Modul 4 und „An und Ausziehen des Unterkörpers" Berücksichtigung gefunden hat. Die Messung und Deutung von Körperzuständen nimmt der Kläger selbständig vor, bedarf also gerade keiner Hilfe dabei. Die doppelte Berücksichtigung der Arzt- und Podologiebesuche „für die Pflegeperson“ kann nicht erfolgen, da es hier nicht um deren Hilfebedarf, sondern ausschließlich um den des Klägers geht. Hinsichtlich der Einhaltung einer Diät ist ein Hilfebedarf ebenso nicht erkennbar, da der Kläger in der Lage ist, die Aufforderungen selbständig zu beachten. Ansonsten ist dies bereits in Modul 4 beim Zubereiten des Essens berücksichtigt worden.

Soweit der Kläger angibt, dass seine Partnerin ihn hin und wieder an die Einhaltung der Diät erinnern müsse und er sie ggf. auch mal verbal dahingehend angeht, dass er das nicht wolle, handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts vielmehr um ein normales Verhalten innerhalb einer Partnerschaft. Eine kognitive Einschränkung dahingehend, dass er den Mehrwert des Einhaltens der Diät nicht erkennt und er hierzu, wäre er auf sich selbst gestellt, nicht in der Lage wäre, ist dagegen nicht erkennbar. Soweit vorgetragen wird, dass ein Dekubitus nach wie vor besteht, kann dies weder bestätigt noch verneint werden, jedoch gibt es keine aktuellen ärztlichen Berichte und der Sachverständigen gegenüber wurde hierzu auch nichts berichtet. Würde man dies jedoch annehmen, würde sich in der Gesamtbewertung dennoch nichts ändern. Es würden noch immer nicht mindestens 47,50 gewichtete Gesamtpunkte erreicht werden, ab dem der Pflegegrad 3 erst zu bejahen ist.

Hinsichtlich Modul 6 und der Angabe, dass der Kläger keine Kontaktpflege mehr zu Personen außerhalb seines direkten Umfeldes pflegen könne, ist dies für das Gericht nicht verständlich. Mit der Sachverständigen und dem Gericht erfolgt eine sehr rege und gute Kommunikation. Es ist daher eher davon auszugehen, dass er, wenn er wollte, noch sehr gut mit Personen außerhalb seines direkten Umfelds kommunizieren könnte und dies auch macht, etwa mit dem Personal in einem Einkaufsmarkt, bei der Post, beim Arzt, etc. (…)“

Gegen das ihm am 02.06.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29.06.2022 Berufung erhoben. Er hält an seiner im Widerspruchs- und Klageverfahren vertretenen Auffassung fest und trägt unter Vorlage einer von ihm erstellten Tabelle ergänzend vor, auf Basis des bei ihm erforderlichen Hilfebedarfs seien sogar die Voraussetzungen des Pflegegrades 4 erfüllt.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.05.2022 zu ändern und nach dem Klageantrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen.

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten.

 

II.

 

Der Senat hat die Berufung nach Anhörung der Beteiligten (Schreiben vom 05.10.2022) durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zurückgewiesen, nachdem die Berufsrichter sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten.

Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat auf Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend entschieden, dass der Kläger gegen die Beklagte lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 hat und damit die Klage auf Leistungen nach einem Pflegegrad 3 zu Recht abgewiesen. Der Senat macht sich die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil zu eigen und sieht analog § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Gründe ab.

Auch das Vorbringen im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Beurteilung. Dieses Vorbringen stellt – ggf. in Nuancen abgewandelt – eine Wiederholung des Vortrages aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren dar. Sowohl der MDK als auch die gerichtlich bestellte Sachverständige und nicht zuletzt das SG haben sich mit den Argumenten des Klägers erschöpfend auseinandergesetzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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