L 9 SO 350/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 132/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 350/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 03.08.2021 geändert. Der Bescheid vom 31.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die von Februar 2020 bis März 2021 durchgeführte Petö-Therapie iHv 2.592 Euro zu übernehmen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten für die Durchführung von Petö-Therapie von Februar 2020 bis März 2021.

Bei der am 00.00.2016 geborenen, in T wohnenden Klägerin besteht eine Trisomie 21 mit einer allgemeinen Entwicklungsstörung und komplexen Funktionseinschränkungen aller Bereiche sowie zahlreichen zT operierten Begleiterkrankungen (operierter Herzfehler, operierte Darmfehlbildung, Z. n. Hirninfarkt und Epilepsie). Sie besuchte nach Absolvierung einer interdisziplinären Frühförderung (IFF), deren Kosten durch die Beklagte übernommen worden waren, den heilpädagogischen Kindergarten N in F. Die Kosten für eine 1:1-Inklusionsassistenz trug der Landschaftsverband im Rahmen der Eingliederungshilfe. Aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus besuchte die Klägerin den Kindergarten im streitigen Zeitraum nur bis Mitte Februar 2020. Dort wurde die Klägerin durch in der Gruppe eingesetzte Fachkräfte und individuell heilpädagogisch betreut. Hinsichtlich der durchgeführten Maßnahmen im Einzelnen wird auf den in der Verwaltungsakte enthaltenen Bericht der Kita vom 19.04.2021 verwiesen. Inzwischen geht die Klägerin zur Schule, auch dort erhält sie eine 1:1-Assistenz.

Am 06.02.2020 beantragte die Klägerin über den Beigeladenen die Übernahme von Kosten für eine konduktive Förderung nach Petö für den Zeitraum vom 01.02.2020 bis zum 31.03.2021. Sie fügte einen Kostenvoranschlag über eine kontinuierliche Förderung und über Blockförderung, einen Therapieplan sowie einen Arztbrief der Universitätsklinik B (UKB) bei. Die Blockförderung ist coronabedingt nicht durchgeführt worden.

Mit Bescheid vom 31.03.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Therapie diene nicht der sozialen, sondern der medizinischen Rehabilitation, und gehöre als solche nicht zu den anerkennungsfähigen Heilmitteln iS des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung, was auch für die Eingliederungshilfe ein Ausschlusskriterium sei. Als heilpädagogische Leistung könne die Maßnahme nicht anerkannt werden, da die Ausbildung an einer Petö-Schule nicht die Anforderungen erfülle, die für heilpädagogische Leistungen in dem Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX festgelegt seien. Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, es handele sich bei der Therapie um eine Maßnahme zur sozialen Teilhabe. Oberstes Ziel der Therapie sei nicht, sie bewegungsfähig zu machen, sondern die Förderung ihrer Persönlichkeitsentwicklung, ihres Selbstbewusstseins und ihrer sozialen und emotionalen Kompetenzen, der Entwicklung von Eigenaktivitäten sowie der Verbesserung ihrer Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Kooperationsfähigkeit. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2020 (Zustellung am 24.09.2020) wies die Beklagte den Widerspruch unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter zurück. Zwar könne die Petö-Therapie auch als Leistung zur sozialen Teilhabe anerkannt werden, wenn dieser Zweck im Vordergrund stehe. Bei der für die Klägerin durchgeführten Therapie handele es sich aber ausschließlich um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation, die mangels Verordnungsfähigkeit als Heilmittel auch nicht im Rahmen der Eingliederungshilfe anerkannt werden könne.

Am 23.10.2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat ihre Begründung aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und einen Bericht des Beigeladenen über die Therapie vom 07.10.2020 sowie die Kostenrechnungen über die durchgeführten Therapieeinheiten, die noch nicht beglichen sind, vorgelegt. Von Februar 2020 bis März 2021 entstanden Kosten iHv 2.700 €, auf die Therapieeinheit bis Mitte Februar entfallen 108 €.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020 zu verurteilen, sie von den Kosten der Petö-Therapie für die Zeit vom 01.02.2020 bis 31.03.2021 in Höhe von 2.700 € gegenüber dem Verein S eV freizustellen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Rechtsauffassung aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren für zutreffend gehalten.

Das Sozialgericht hat einen Bericht des Beigeladenen über die durchgeführte Therapie vom 28.04.2021 sowie ärztliche Stellungnahmen des Kinderorthopäden Dr. K vom 09.05.2021, der Kinderärztin Dr. H (UKB) vom 12.05.2021 und des Kinderarztes R vom 28.05.2021 eingeholt. Es hat einen in einem Parallelverfahren erstellten Bericht des C Krankenhauses T (Frau E) über die konduktive Förderung nach Petö beigezogen.

Mit Urteil vom 03.08.2021 (zugestellt am 17.08.2021) hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Bei der von der Klägerin durchgeführten Petö-Therapie handele es sich um medizinische Rehabilitation mit nur mittelbaren Wirkungen auf die soziale Teilhabe der Klägerin. Die Leistung könne weder als Heilmittel noch als Leistung zur sozialen Teilhabe anerkannt werden.

Hiergegen richtet sich die am 14.09.2021 erhobene Berufung der Klägerin. Ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen beruft die Klägerin sich auf das Urteil des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19. Hieraus ergebe sich auch für ihren Fall eine Anerkennung der Leistung als Maßnahme zur sozialen Teilhabe. Aufgrund der Corona-Situation habe sie in dem streitgegenständlichen Zeitraum keine andere als die Petö-Therapie erhalten. Deren Durchführung sei für sichtbare Entwicklungsfortschritte ursächlich gewesen. Sie beabsichtige, auch in Zukunft Petö-Therapie in Anspruch zu nehmen. Zur Zeit könne die Therapie aufgrund der Flutschäden in T leider nicht durchgeführt werden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 03.08.2021 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020 zu verurteilen, sie von den Kosten der Petö-Therapie für die Zeit vom 01.02.2020 bis 31.03.2021 freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Aus der genannten Entscheidung des Senats ergebe sich nichts Abweichendes. Im Fall der Klägerin sei eine Kausalität zwischen evtl. Entwicklungsfortschritten und der durchgeführten Petö-Therapie nicht nachgewiesen. Die Inklusionsassistenz in der Kita durch eine Fachkraft, die durch den LVR finanziert werde, reiche zur Förderung der sozialen Integration aus

Der Senat hat die Kita-Betreuerin der Klägerin N als Zeugin zur Entwicklung der Klägerin vernommen. Zum Ergebnis der Beweisausnahme wird auf das Sitzungsprotokoll zum Termin am 21.10.2022 verwiesen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat die Prozessvollmachten beider Eltern vorgelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist im tenorierten Umfang begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten, die sie dem Verein „S eV“ für die von Mitte Februar 2020 bis zum 31.03.2021 durchgeführte Petö-Therapie schuldet (2.592 €). Im Übrigen (iHv 108 €) ist die Berufung unbegründet.

Streitgegenstand des Verfahrens ist, da die Klägerin die Kosten für die Petö-Therapie gegenüber dem Beigeladenen noch nicht beglichen hat, der Schuldbeitritt zu dem zivilrechtlichen Vertrag zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen (hierzu BSG Urteil vom 20.04.2016 – B 8 SO 20/14 R) unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 31.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020. Zutreffende Klageart ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, gerichtet auf den Erlass eines Verwaltungsakts, mit dem der Beklagte erklären soll, der Schuld der Klägerin aus dem zivilrechtlichen Vertrag mit dem Beigeladenen beizutreten (Urteil des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19).

Die Beklagte ist für die Leistungserbringung zuständig. Nach § 1 Abs. 2 AG SGB IX NRW sind die Kreise und kreisfreien Städte zuständige Träger der Eingliederungshilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe an Personen bis zur Beendigung der Schulausbildung an einer allgemeinen Schule oder einer Förderschule, längstens bis zur Beendigung der Sekundarstufe II. Die Städteregion Aachen hat den Status eines Kreises (§ 3 Abs. 1 Städteregion Aachen Gesetz vom 26.02.2008) und ist daher grundsätzlich nach § 1 Abs. 2 Satz 1 AG-SGB IX NRW zuständiger Träger der Eingliederungshilfe. Wenn angesichts des Umstands, dass die Klägerin in streitbefangenen Zeitraum noch nicht eingeschult war, die Leistung als heilpädagogische Leistung anzusehen wäre und die Beklagte materiell gem. § 1 Abs. 2 Nr. 4 AG-SGB IX NRW nicht zuständig wäre, ist die Beklagte als erstangegangener Träger, der den Teilhabeantrag nicht weitergeleitet hat, jedenfalls gem. § 14 SGB IX leistungszuständig geworden. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten folgt aus § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, da die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung und auch sonst im Zuständigkeitsbereich der Beklagten hatte.

Der Anspruch der Klägerin beruht auf §§ 99, 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 SGB IX. Der Senat lässt offen, ob es sich bei der Petö-Therapie um eine heilpädagogische Leistung iSv §§ 113 Abs. 2 Nr. 3, 79 SGB IX oder um eine unbenannte Leistung zur sozialen Teilhabe handelt (ebenfalls offen gelassen von BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R).

Gem. § 99 SGB IX in der bis zum 30.06.2021 gF erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe Personen nach § 53 Abs. 1 und 2 SGB XII und den §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31.12.2019 gF (aF). Nach § 53 Abs. 1 SGB XII aF erhalten Personen, die durch eine Behinderung iSv § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Menschen mit Behinderung iSd § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten. Entscheidend ist mithin nicht, in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (BSG Urteile vom 13.07.2017 – B 8 SO 1/16 R und vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R). Die bei der Klägerin vorliegende Trisomie 21 mit einer allgemeinen Entwicklungsstörung und komplexen Funktionseinschränkungen aller Bereiche stellt eine Behinderung dar, die zu einer wesentlichen Beeinträchtigung ihrer Teilhabe führt. Dies zeigt sich schon daran, dass sie selbst in einem heilpädagogischen Kindergarten auf eine Assistenzkraft angewiesen ist (vgl. zur Notwendigkeit einer zusätzlichen Hilfestellung in der Schule als Kriterium einer wesentlichen Behinderung BSG Urteil vom 22.03.2012 - B 8 SO 30/10 R).

Die Klägerin kann den begehrten Schuldbeitritt beanspruchen. Sie hat den gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX notwendigen Antrag am 06.02.2020 gestellt und die streitgegenständliche Petö-Therapie ist abweichend zu der Auffassung des Beklagten und der angefochtenen Entscheidung eine Leistung zur sozialen Teilhabe iSv § 113 Abs. 1 SGB IX. Es handelt sich im vorliegenden Fall nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation, die mangels Anerkennung als Heilmittel iSd § 138 SGB V auch nicht als Leistung der Eingliederungshilfe erbracht werden könnte (hierzu BSG Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R).

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG richtet sich die Abgrenzung von Leistungen zur sozialen Teilhabe zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen, entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck (BSG Urteile vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R BSG und vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R). Leistungen der medizinischen Rehabilitation setzen an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an. Leistungen zur sozialen Teilhabe zielen hingegen darauf, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, oder den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden. Daher dienen die Leistungen zur sozialen Teilhabe unter Zugrundelegung eines individualisierten Förderverständnisses dazu, soziale Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern. Für die Abgrenzung von medizinischer Rehabilitation und sozialer Teilhabe ist maßgeblich, ob die Therapie direkt an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt oder unmittelbar die sozialen Folgen einer Behinderung beseitigen bzw. mildern soll. Dementsprechend bleiben lediglich mittelbar verfolgte Zwecke und Ziele außer Betracht. Dies bedeutet nicht, dass eine Leistungserbringung, die an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt, nicht gleichzeitig mit dem Ziel durchgeführt werden kann, die sozialen Folgen einer Behinderung zu beseitigen bzw. zu mildern und umgekehrt. Eine Maßnahme kann ausgehend von einer am Einzelfall orientierten, individuellen Beurteilung vielmehr auch mehrere unterschiedliche Zwecke haben, sodass sich die Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Teilhabe überschneiden und (bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen) die Leistungspflicht des Rehabilitationsträgers für soziale Teilhabe begründen können, wenn die Leistung nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation erbracht wird (BSG Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R; Urteile des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19, vom 04.06.2020 – L 9 SO 259/18, vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17 und vom 06.12.2018 – L 9 SO 224/16).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann die Petö-Therapie eine Leistung der sozialen Teilhabe darstellen:

In dem "Zusammenfassenden Bericht" des Unterausschusses "Heil- und Hilfsmittel" des GBA über die Beratungen gemäß § 138 SGB V vom 18.05.2005 wird die Petö-Therapie als Methode beschrieben, deren wichtigstes Ziel die selbstständige Eingliederung in die Gesellschaft, in den normalen Kindergarten oder die Regelschule ist. Merkmale der konduktiven Förderung nach Petö sind hiernach die Förderung der eigenen Aktivität des Kindes, die Anregung der Kommunikation mit den nächsten Bezugspersonen und der Umwelt, eine handlungsbegleitende Einbindung der Sprache, die Arbeit in der Gruppe zur Verbesserung der Motivation, die Diagnostik, Planung und Behandlung in der Hand der Konduktorin, die Verstärkung der Lernerfolge durch Konditionierung, der Einsatz von einfachen und funktionsorientierten Hilfsmitteln und eine Komplexbehandlung, die mehrere Stunden am Tag möglichst über Wochen oder Monate erfolgen muss und pädagogische bzw. heilpädagogische sowie funktionell therapeutische orientierte Aspekte umfasst. Die Therapie beruht auf der Vorstellung, dass bei den bewegungsgestörten Kindern lediglich Lernhindernisse bestehen, die es zu überwinden oder zu kompensieren gilt. Im Mittelpunkt steht die Förderung der eigenen Aktivität der Kinder, die selbst Wege finden sollen, Ziele, die ihnen vorgeschlagen werden, oder die sie selbst vorhaben, zu erreichen. Auf dem Weg zu diesem Ziel sollen sie selbst lernen, insbesondere ihre motorischen Fertigkeiten zu verbessern. Von ungarischen Autoren und Ausbildern am "Petö-Institut" in Budapest wird nach den Darlegungen des GBA immer wieder betont, dass die Aufgabe der Konduktorin vorrangig als eine pädagogische Aufgabe anzusehen ist.

Der Senat hat keine Bedenken, diese Ausführungen des GBA als dem für die Qualitätssicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zuständigen Gremium (§ 92 Abs. 1 SGB V) für die Einschätzung der Therapie seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Da den Beteiligten das Urteil des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19 bekannt ist und sie hierauf Bezug genommen haben, können diese Ausführungen auch im Rahmen dieser Entscheidung verwertet werden.

Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Petö-Therapie gerade keine rein medizinische, einer physikalischen Therapie vergleichbare krankengymnastische Leistung ist, sondern der pädagogische Ansatz im Vordergrund steht. Hierfür spricht auch, dass der seit kurzem bei der Evangelischen Hochschule Nürnberg angebotene Studiengang Heilpädagogik mit Studienschwerpunkt Konduktive Förderung und Inklusion zu einem heilpädagogischen Abschluss führt (auch hierzu bereits Urteil des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19).

Den grundsätzlich heilpädagogischen Ansatz der Petö-Therapie hat der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung anerkannt (Urteile des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19, vom 04.06.2020 – L 9 SO 259/18, vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17, vom 06.12.2018 – L 9 SO 224/16 und vom 10.02.2011 – L 9 SO 11/08).

Die Annahme, bei der konkret durchgeführten streitgegenständlichen Maßnahme handele es sich ungeachtet dessen um eine medizinische Maßnahme, bedarf deshalb einer besonderen Begründung im Einzelfall dahingehend, dass der ganzheitliche heilpädagogische Ansatz nicht verfolgt worden ist, sondern eine rein medizinische Behandlung durchgeführt worden ist (Urteil des Senats vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19). Dementsprechend hat der Senat im Urteil vom 06.12.2018 – L 9 SO 224/16 für wesentlich gehalten, dass bei der dortigen Klägerin, die eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten erfolgreich absolviert hatte, die eigentlichen Funktionsdefizite stets im motorischen, nicht aber im für eine Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft besonders bedeutsamen kognitiven Bereich lägen. Der Kläger aus dem Verfahren L 9 SO 317/17 (Urteil vom 25.07.2019) besuchte bei erheblichen motorischen Einschränkungen aber ohne geistige Behinderung die Realschule mit gut durchschnittlichem Erfolg. Dem Urteil vom 04.06.2020 – L 9 SO 259/18 lag umgekehrt eine Fallgestaltung zugrunde, in der aufgrund einer schwersten geistigen Behinderung der Klägerin kognitiven Defiziten auch durch die Petö-Therapie kaum begegnet werden konnte. Mit diesen Fallgestaltungen ist die Klägerin – wie die Klägerin aus dem Verfahren L 9 SO 271/19 – nicht zu vergleichen. Bei ihr besteht eine deutliche geistige Behinderung, die neben den körperlichen Defiziten einer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft entgegensteht, sie war aber andererseits in der Lage, mit Gewinn die Kita zu besuchen und nimmt aktuell am Schulunterricht teil.

Angesichts der vorliegenden Unterlagen und der Ermittlungen des Senats steht fest, dass die Petö-Therapie im Falle der Klägerin den Zweck hatte, ihre soziale Teilhabe zu verbessern. In dem Bericht des Beigeladenen vom 07.10.2020 werden als „konduktive Förderziele“ glaubhaft nicht nur eine Verbesserung der Bewegungsfähigkeit, sondern darüber hinaus eine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung, des Selbstbewusstseins, der sozialen Integration und aktiven Teilhabe sowie der Selbständigkeit und Eigenaktivität beschrieben. Anders als die Beklagte ist der Senat nicht der Meinung, dass der Beigeladene hier nur „pro domo“ argumentiert und der Bericht nicht zum Beweis der sozialen Förderziele geeignet wäre. Auch in dem vom Sozialgericht angeforderten ausführlichen Antwortkatalog vom 27.04.2021 wird der Zusammenhang zwischen Bewegungsförderung und sozialer Entwicklung ausführlich und nachvollziehbar beschreiben, konkrete Einwendungen gegen diese Darlegungen hat die Beklagte nicht erhoben. Die Beschreibung der Förderziele entspricht der Einschätzung des GBA. Die Zielrichtung der Petö-Therapie auf die sozialen Fähigkeiten wird auch von den behandelnden Ärzten beschrieben. Dr. K führt aus, dass die konduktive Förderung nach Petö zu einer „umfassenden Behandlung der Störungen auf körperlichem, geistigem und sozial-integrativem Bereich“ führte. Der Kinderarzt R beschreibt in seinem Bericht vom 28.05.2021 Fortschritte in der Kommunikation und in „motorischer als auch in kognitiver Hinsicht“. Auch die Aussage der Zeugin N hat diese Annahme bestätigt. Die Zeugin hat glaubhaft und nachvollziehbar ausgeführt, dass die sozialen Interaktionsfähigkeiten der Klägerin nach dem Zeitraum, in dem die streitgegenständliche Therapie stattgefunden hat, deutlich zugenommen haben. Die Zeugin, die die Klägerin seit 2018 kannte, hat darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Spiel begonnen habe, die Aktivitäten der anderen Kinder mitmachen zu wollen und sich aktiv bemüht habe, bei den gemeinsamen Mahlzeiten zugegen zu sein.

Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten ist ein Vollbeweis dahingehend, dass diese Fortschritte kausal allein auf die Petö-Therapie zurückzuführen sind, nicht zu verlangen. Wenn man die Therapie als heilpädagogische Leistung qualifizieren würde, wäre allein der Zweck der Verbesserung der sozialen Teilhabe ausreichend, denn gem. § 79 Abs. 1 Satz 2 SGB IX werden heilpädagogische Leistungen immer an schwerstbehinderte und schwerstmehrfachbehinderte Kinder, die noch nicht eingeschult sind, erbracht. Zu diesen Kindern gehörte die Klägerin im streitigen Zeitraum. Aber selbst wenn man eine positive Prognose hinsichtlich der Verbesserung der sozialen Teilhabe verlangen würde, wäre diese hier gegeben. Denn dafür würde es genügen, dass die Wirksamkeit der Therapie auf die sozialen Fähigkeiten auch im Einzelfall hinreichend wahrscheinlich ist. Hierfür ist ausreichend, dass die für das Vorliegen einer Tatsache sprechenden Umstände deutlich überwiegen (Kühl in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl., § 103 Rn. 4). Dies ist – wie ausgeführt – vorliegend der Fall. Es sprach zum Zeitpunkt der Antragstellung deutlich mehr dafür als dagegen, dass sich die soziale Teilhabe der Klägerin durch die Petö-Therapie verbessern würde. Die Richtigkeit dieser Prognose hat sich durch die von den Ärzten und der Erzieherin beschriebenen Fortschritte auch in sozialer Hinsicht bestätigt.

Der Umstand, dass der GBA die Petö-Therapie nicht als Heilmittel iSd § 138 SGB V zugelassen hat, ändert an der Bewertung nichts, da es gerade nicht um die Zulassung der Methode zur Krankenbehandlung iSd § 27 SGB V geht. Die Petö-Therapie als medizinisch-therapeutische, psychologische und pädagogische Ganzheitsmethode ist als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie als Heilmittel in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden darf (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R; Urteil des Senats vom 10.02.2011 – L 9 SO 11/08).

Die durchgeführte Therapie ist iSd § 4 Abs. 1 SGB IX notwendig gewesen, soweit keine heilpädagogische Förderung im Kindergarten stattgefunden hat, also für die Zeit ab Mitte Februar 2020. Nur bis zu diesem Zeitpunkt war die Petö-Therapie nicht notwendig und ist die Berufung erfolglos.

Die Notwendigkeit einer Teilhabeleistung ist bei jeder Eingliederungsmaßnahme zu prüfen. Sie ist zu bejahen, wenn eine grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist, die gem. § 90 Abs. 5 SGB IX darin liegen, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, d.h. eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (vgl. zum SGB XII BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R). Die Eignung der Therapie zur Erreichung eines Eingliederungserfolges wird durch die bezeichneten Unterlagen belegt. Die Therapie war auch unentbehrlich, da bei der Klägerin ein behinderungsbedingter Bedarf bestand und anderweitige gleichwertige Therapieansätze nach Mitte Februar 2020 allein coronabedingt nicht zur Verfügung standen. Die Klägerin hat glaubhaft vorgetragen, seit Mitte Februar als Angehörige einer Hochrisikogruppe den Kindergarten nicht mehr besucht zu haben. Die Kinderärztin Frau Dr. H führt in ihrem Bericht an das Sozialgericht vom 12.05.2021 aus, die Petö-Therapie sei für den Zeitraum der Corona-Pandemie aus sozialpädiatrischer Sicht dringend zu empfehlen gewesen. Der Umstand, dass die Klägerin in der Vergangenheit an der IFF-Therapie teilnahm, steht einem fortlaufenden Therapiebedarf im streitgegenständlichen Zeitraum nicht entgegen. Allein während des Besuchs des heilpädagogischen Kindergartens, hier also bis Mitte Februar 2020, kann eine Notwendigkeit iSd § 4 SGB IX nicht bejaht werden, da in dieser Zeit mit heilpädagogischen Maßnahmen dieselben Förderziele verfolgt worden sind, die auch durch die Petö-Therapie angestrebt werden. Dies folgt aus dem Bericht der Kita vom 19.04.2021

Der Umstand, dass der Beklagte mit dem Leistungserbringer keine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung iSd § 123 SGB IX abgeschlossen hat, steht einem Anspruch der Klägerin bei der hier gegeben rechtswidrigen Ablehnung des Anspruchs bereits dem Grunde nach nicht entgegen (hierzu BSG Urteile vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R und vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 10/07 R).

Ein Kostenbeitrag ist nicht aufzubringen. Gem. § 138 Abs. 1 Nr. 1 und 7 SGB IX ist ein Beitrag nicht aufzubringen bei heilpädagogischen Leistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX (Nr. 1) und bei Leistungen nach § 113 Abs. 1 SGB IX, die noch nicht eingeschulten leistungsberechtigten Personen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen sollen (Nr. 7). Der Senat kann offen lassen, ob es sich um eine heilpädagogische Leistung iSd § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX handelt, denn die Petö-Therapie ist vorliegend jedenfalls eine Leistung iSd § 138 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX. Darunter fallen nach der Rechtsprechung des BSG Maßnahmen, die dem Bildungsstand von nicht eingeschulten Kindern entsprechen und deren Schwerpunkt bei spezifischen Bildungszielen liegt (BSG Urteil vom 20.09.2012 – B 8 SO 15/11 R). Das war hier der Fall, denn wie ausgeführt steht bei der Petö-Therapie der pädagogische Ansatz im Vordergrund. Die Therapie beruht auf der Vorstellung, dass bei den bewegungsgestörten Kindern lediglich Lernhindernisse bestehen, die es zu überwinden oder zu kompensieren gilt. Die Therapie diente daher auch dazu, die Lernfähigkeit zu verbessern und die Grundlagen für die spätere Beschulung der Klägerin zu legen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
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