Eine wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöschte GmbH bleibt im Widerspruchs- und Klageverfahren gegen einen Betriebsprüfungsbescheid jedenfalls dann beteiligtenfähig, wenn ihr der Verwaltungsakt vor der Löschung bekanntgegeben wurde.
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2022 aufgehoben.
Der Rechtstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 34 834,29 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
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In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten um Beiträge und Umlagen für die Zeit vom 19.11.2012 bis zum 25.3.2013 sowie Säumniszuschläge iHv insgesamt 34 834,29 Euro.
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Die Klägerin ist eine 2012 gegründete GmbH, die im streitigen Zeitraum ihren Sitz in B hatte und im Handelsregister des Amtsgerichts W eingetragen war. Nach Ermittlungen durch das Hauptzollamt und die Staatsanwaltschaft führte die Beklagte eine Betriebsprüfung durch. Mit gegenüber dem Geschäftsführer der Klägerin bekanntgegebenen Bescheid vom 15.7.2014 forderte sie auf der Grundlage einer Schätzung Sozialversicherungsbeiträge, Umlagen U1 und U2 sowie Säumniszuschläge iHv insgesamt 34 834,29 Euro nach. Am 3.8.2015 wurde die Klägerin wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöscht. Den ihren Widerspruch zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 1.10.2015 stellte die Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin aufgrund einer von deren Geschäftsführer am 24.7.2014 erteilten Vollmacht zu.
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Die am 4.11.2015 erhobene Klage (Urteil des SG Berlin vom 26.2.2019) und Berufung sind erfolglos geblieben. Die Klage sei unzulässig. Die aus dem Handelsregister gelöschte Klägerin habe bei Erhebung der Klage nicht mehr existiert und sei deshalb nicht beteiligtenfähig. Weder die Beklagte noch die Klägerin habe vorgetragen, dass noch Vermögenswerte vorhanden seien. Dass durch die Anfechtungsklage Vermögensvorteile entstehen könnten, sei ebenfalls weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Im Übrigen fehle es der Klägerin am Rechtsschutzbedürfnis, weil sich der angefochtene Beitragsbescheid durch ihre Löschung und das damit verbundene Entfallen ihrer Rechtsfähigkeit erledigt habe. Für eine eventuell in Betracht kommende Fortsetzungsfeststellungsklage fehle es ebenfalls am Feststellungsinteresse (Beschluss des LSG vom 9.6.2022).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde.
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Die zulässige Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
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1. Die Beschwerde ist zulässig. Das Rechtsmittel einer Beteiligten, die sich dagegen wendet, dass sie in der Vorinstanz zu Unrecht als nicht beteiligten- und/oder prozessfähig behandelt worden sei, ist ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozess- und Beteiligtenfähigkeit (§ 70 Nr 1, § 71 Abs 1 und 3 SGG) erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden können (vgl BSG Beschluss vom 3.7.2003 ‑ B 7 AL 216/02 B ‑ BSGE 91, 146 = SozR 4‑1500 § 72 Nr 1, RdNr 6 = juris RdNr 8 mwN). Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ergibt, das LSG habe ein Prozessurteil gesprochen statt eine Entscheidung in der Sache zu treffen (vgl BSG Beschluss vom 15.12.2020 ‑ B 2 U 142/20 B ‑ juris RdNr 6 und BSG Beschluss vom 27.6.2013 ‑ B 10 ÜG 9/13 B ‑ SozR 4-1710 Art 23 Nr 1 RdNr 17, jeweils mwN). Von einem fortwirkenden Verfahrensmangel ist auszugehen, wenn anstelle eines erstinstanzlichen Prozessurteils eine Sachentscheidung hätte ergehen müssen und das LSG das Prozessurteil des SG bestätigt (vgl BSG Beschluss vom 17.12.2019 ‑ B 8 SO 8/19 B ‑ juris RdNr 6 mwN; zuletzt BSG Beschluss vom 22.6.2022 ‑ B 1 KR 23/22 B ‑ juris RdNr 8).
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2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG ist zu Unrecht von der Unzulässigkeit der Klage ausgegangen.
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a) Die Klägerin ist im vorliegenden Rechtsstreit beteiligtenfähig. Gemäß § 70 Nr 1 SGG sind juristische Personen fähig, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein. Diese Voraussetzungen liegen bei der klagenden GmbH als juristische Person des Privatrechts (vgl § 13 Abs 1 GmbHG) vor. Die Klägerin hat ihre Beteiligtenfähigkeit für diesen Rechtsstreit nicht durch ihre Löschung aus dem Handelsregister am 3.8.2015 verloren.
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Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte ist eine wegen Vermögenslosigkeit gelöschte GmbH (§ 394 Abs 1 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) grundsätzlich materiell-rechtlich nicht mehr existent, dadurch nicht mehr rechtsfähig und im gerichtlichen Verfahren nicht parteifähig; sie bleibt trotz der Löschung aber rechts- und parteifähig, wenn der Prozessgegner substantiiert behauptet, es sei noch Vermögen vorhanden (BGH Urteil vom 25.10.2010 ‑ II ZR 115/09 ‑ NJW-RR 2011, 115 RdNr 22 mwN). Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, die bereits im Zeitpunkt der Löschung bestanden haben, können sowohl begonnen als auch fortgesetzt werden (BAG Urteil vom 19.3.2002 ‑ 9 AZR 752/00 ‑ BAGE 100, 369, juris RdNr 18 mwN). Auch steuerrechtlich besteht eine gelöschte GmbH fort, solange sie noch steuerrechtliche Pflichten zu erfüllen hat oder gegen sie ergangene Steuerbescheide oder Haftungsbescheide angreift. Dabei gehört zu den steuerrechtlichen Pflichten auch die Entgegennahme von Steuerbescheiden (BFH Beschluss vom 15.2.2006 ‑ I B 38/05 ‑ BFH/NV 2006, 1049, juris RdNr 16 mwN). In finanzgerichtlichen Verfahren ist für die Beteiligungsfähigkeit ebenfalls ausreichend, dass vermögensrechtliche Ansprüche noch nicht abgewickelt sind (BFH Urteil vom 27.4.2000 ‑ I R 65/98 ‑ BFHE 191, 494 juris RdNr 10 unter Hinweis auf § 273 Abs 4 Aktiengesetz).
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Entsprechendes gilt in sozialgerichtlichen Verfahren gegen einen Betriebsprüfungsbescheid jedenfalls dann, wenn der Verwaltungsakt der GmbH vor der Löschung aus dem Handelsregister bekannt gegeben worden ist. Die GmbH bleibt in Verfahren vor den Sozialgerichten beteiligtenfähig, wenn in einem Betriebsprüfungsbescheid Beitragsforderungen aufgrund einer noch nicht abgewickelten Beitragszahlungspflicht festgesetzt worden sind (ähnlich zur Beteiligtenfähigkeit aufgelöster Gemeinschaftspraxen BSG Urteil vom 29.6.2011 ‑ B 6 KA 17/10 R ‑ SozR 4‑2500 § 85 Nr 66 mwN).
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Der Betriebsprüfungsbescheid schafft die Grundlage für das nachfolgende Beitragsverfahren im Verhältnis zur GmbH (BSG Urteil vom 28.5.2015 ‑ B 12 R 16/13 R ‑ SozR 4‑2400 § 28p Nr 5 RdNr 21) oder im Falle der Zahlungsunfähigkeit der GmbH für das Vorgehen der Einzugsstelle gegen die Geschäftsführer (vgl BSG Urteil vom 29.3.2022 ‑ B 12 KR 7/20 R ‑ zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Der Rentenversicherungsträger ist deshalb nicht gehindert, die Beitragspflicht auch dann festzustellen, wenn der Insolvenzverwalter bereits die Masseunzulänglichkeit angezeigt hat (BSG Urteil vom 28.5.2015 ‑ B 12 R 16/13 R ‑ SozR 4‑2400 § 28p Nr 5 RdNr 16 ff). Nichts anderes kann in den Fällen gelten, in denen ‑ wie hier ‑ ohne Insolvenzverfahren die Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht zu werden droht.
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Ob und wie ein die Beitragszahlungspflicht feststellender Verwaltungsakt trotz Vermögenslosigkeit oder Zahlungsunfähigkeit der GmbH vollstreckt werden darf oder ob die zwangsweise Durchsetzung der Beitragsforderung ausscheidet, ist nicht im Rahmen der Beitragsfestsetzung, sondern auf der späteren Ebene der Zwangsvollstreckung von den Krankenkassen als Einzugsstellen für die Beiträge in einem selbstständigen Verfahrensabschnitt zu prüfen, wenn die von der Arbeitgeberin zu zahlende Beitragssumme nicht freiwillig gezahlt wird (BSG Urteil vom 28.5.2015 ‑ B 12 R 16/13 R ‑ SozR 4‑2400 § 28p Nr 5 RdNr 21; vgl auch BSG Urteil vom 28.6.2022 ‑ B 12 KR 5/20 R ‑ juris, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Dabei erstreckt sich die Pflicht der Einzugsstellen, Beitragsansprüche geltend zu machen, auch auf die Durchsetzung der die Beitragsschuld ersetzenden Schadensersatzansprüche, zB gegen die Geschäftsführer einer GmbH (§ 28h Abs 1 Satz 3, § 76 Abs 1 SGB IV, § 823 Abs 2 BGB, § 266a StGB; BSG Urteil vom 29.3.2022 ‑ B 12 KR 7/20 R ‑ juris RdNr 12 f, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Die Betriebsprüfung hat insoweit den Zweck, den Einzugsstellen eine Berechnungsgrundlage für die ihnen obliegende Beitragseinziehung zu verschaffen. Die aufgrund einer Betriebsprüfung erlassenen Verwaltungsakte erbringen den Einzugsstellen den Nachweis rückständiger Beiträge und schützen sowohl sie vor der Haftung gegenüber den anderen Sozialversicherungsträgern (§ 28r Abs 1 Satz 1 SGB IV, vgl BSG Urteil vom 29.3.2022 aaO) als auch die Geschäftsführer einer GmbH vor Schadensersatzforderungen über die darin festgestellte Höhe der Beitragsschuld hinaus.
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b) Die Klägerin ist auch als prozessfähig zu behandeln. Ein Beteiligter ist prozessfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann; für Personenvereinigungen handeln ihre gesetzlichen Vertreter (§ 71 Abs 1 und 3 SGG). Zutreffend ist zwar, dass die Gesellschaft nach deren Löschung nicht mehr gemäß § 35 Abs 1 Satz 1 GmbHG durch ihre Geschäftsführer vertreten wird, denn durch diese Auflösung (§ 60 Abs 1 Nr 7 GmbHG) erlischt auch deren Vertretungsbefugnis. Hat jedoch ein Geschäftsführer vor Löschung der GmbH einen Prozessbevollmächtigten mit der Prozessvertretung beauftragt, gilt die Vollmacht mit der Folge fort (§ 202 SGG, § 86 ZPO), dass der Rechtsstreit nicht unterbrochen (§ 202 SGG, § 246 Abs 1 ZPO), sondern trotz fehlender Prozessfähigkeit fortgesetzt wird (vgl BFH Urteil vom 27.4.2000 ‑ I R 65/98 ‑ BFHE 191, 494, juris RdNr 11 ff). Daher kann offenbleiben, ob der Verlust der gesetzlichen Vertretungsmacht des Geschäftsführers einer GmbH trotz der Möglichkeit der Bestellung eines Nachtragsliquidators (vgl § 66 Abs 5, § 67 Abs 1 GmbHG; vgl BFH aaO juris RdNr 17), die Abweisung der Klage als unzulässig mangels Prozessfähigkeit rechtfertigt (vgl BSG Beschluss vom 3.7.2003 ‑ B 7 AL 216/02 B ‑ BSGE 91, 146 = SozR 4‑1500 § 72 Nr 1).
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c) Die Klage ist auch nicht wegen fehlender Beschwer (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG) unzulässig. Der angefochtene Verwaltungsakt ist gegenüber der Klägerin, die auch im Widerspruchsverfahren (§ 62 SGB X, §§ 83 ff SGG) beteiligungsfähig war (§ 10 Nr 1 SGB X), mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids an ihren Bevollmächtigten bekanntgegeben und damit wirksam geworden (§ 37 Abs 1, § 39 Abs 1 SGB X). Er hat sich nicht auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X), sondern regelt ‑ auch mit Wirkung für die Einzugsstelle ‑ weiterhin die Beitragspflicht und -höhe.
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d) Schließlich ist die Klage auch nicht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Die von der Klägerin ‑ nicht ihrem Geschäftsführer ‑ erhobene Einrede der Verjährung und die damit möglicherweise einhergehende fehlende Durchsetzbarkeit der Beitragsforderung schließt ‑ auch im Hinblick auf den zwischenzeitlichen Verzug des Geschäftsführers nach L ‑ nicht das berechtigte Interesse an der Rechtsverfolgung gegen den die Beitragspflicht feststellenden Verwaltungsakt aus.
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3. Liegen ‑ wie hier ‑ die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) vor, kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
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5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 sowie § 63 Abs 2 Satz 1 GKG.