Soweit die Beweisführung eines Bürgers nachweislich durch Lücken in elektronischen Verwaltungsakten vereitelt wird, sind nach den Rechtsgrundsätzen zur schuldhaften Beweisvereitelung wegen des behördlichen Organisationsverschuldens zugunsten des Bürgers Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr auch unabhängig davon gerechtfertigt, ob in der Sphäre der Behörde irgendein konkretes, persönlich schuldhaftes Fehlverhalten feststellbar ist.
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Tatbestand
Die Kläger begehren vom beklagten Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen der endgültigen Leistungsfestsetzung für den Bewilligungszeitraum November 2021 bis April 2022 unter leistungserhöhender Absetzung von Ausgaben für eine Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung.
Die 1979 geborene Klägerin zu Ziff. 1., der 1979 geborene Kläger zu Ziff. 2. und ihre am 30.10.2012 bzw. am 11.09.2015 geborenen Kinder, die Kläger zu Ziff. 3. und 4., bewohnen gemeinsam eine Unterkunft im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Hierfür wenden die Kläger monatlich 920,- € auf, wobei 750,- € auf die Grundmiete entfallen, 70,- € auf die Heizkostenvorauszahlungen sowie weitere 100 € auf Vorauszahlungen für sonstige Nebenkosten. Für den Audi A4 mit dem Kennzeichen XXXXXXXXXX erteilte am 15.09.2017 die Stadt Karlsruhe eine Kraftfahrzeugzulassung an die Klägerin zu Ziff. 1. Diese war bis einschließlich 14.07.2021 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog für die Zeit vom 15.07.2021 bis zum 27.07.2022 von der Agentur für Arbeit Arbeitslosengeld 1 in Höhe von täglich 35,80 € bzw. monatlich 1.074,- €.
Dieses aufstockend bewilligte der Beklagte den vier Klägern mit Bescheid vom 20.08.2021 Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts bis einschließlich November 2021. Hierbei übernahm der Beklagte vollständig ihre Kosten der Unterkunft und Heizung, erkannte zudem die Regelbedarfe der vier Kläger in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe an und brachte bei der Leistungsberechnung den Kindergeldbezug der Kläger zu Ziff. 3. und Ziff. 4. ebenso anspruchsmindernd in Abzug wie den Bezug von Arbeitslosengeld 1 der Klägerin zu Ziff. 1., von dem der Beklagte pauschal 30 € monatlich anspruchserhöhend absetzte.
Am 23.09.2021 meldete der Kläger zu Ziff. 2. mit Wirkung zum selben Tag bei der Stadt XXXXXXXXXX ein neu gegründetes Gewerbe im Bereich der Autoaufbereitung an. Unter Hinweis auf das hierdurch zu erwartende Einkommen hob der Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 18.10.2021 seine Leistungsbewilligung vom 20.08.2021 mit Wirkung zum 01.11.2021 auf.
Am 22.10.2021 reichten die Kläger einen ausgefüllten Formularvordruck für die Weiterbewilligung der Grundsicherungsleistungen über den 31.10.2021 hinaus sowie einen ausgefüllten Formularvordruck betreffend das prognostizierte Einkommen des Klägers zu Ziff. 2. Aus seiner selbständigen Tätigkeit ab November 2021 beim Beklagten ein. Dieser bewilligte den vier Klägern daraufhin mit Bescheid vom 25.10.2021 vorläufig Leistungen für den Zeitraum 01.11.2021 bis 30.04.2022. Bei der Leistungsberechnung berücksichtigte der Beklagte indessen erneut leistungsmindernd das Kindergeld für die Kläger zu Ziff. 2. und 3., das Arbeitslosengeld 1 der Klägerin zu Ziff. 1. (unter Absetzung einer Pauschale von monatlich 30 €) sowie ein Einkommen aus der Selbstständigkeit des Klägers zu Ziff. 2 (unter anspruchserhöhender Absetzung hierbei berücksichtigungsfähiger gesetzlicher Erwerbseinkommensfreibeträge).
Mit Änderungsbescheid vom 27.11.2021 passte der Beklagte die Leistungsgewährung für die Monate Januar 2022 bis April 2022 der zum Jahreswechsel gesetzlich geänderten Regelbedarfshöhe so an, dass die vier Kläger der Bedarfsgemeinschaft insgesamt monatlich 10 € mehr gewährt bekamen als zuvor. Nachdem der Kläger seine Prognose bezüglich des von ihm im Bewilligungszeitraum erwirtschafteten Erwerbseinkommens korrigiert hatte, änderte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 03.01.2022 seine vorherige Leistungsbewilligung nochmal zugunsten der Kläger dahingehend ab, dass er nicht weiter irgendein anspruchsminderndes Einkommen des Klägers zu Ziff. 2. berücksichtigte.
Am 02.02.2022 gründete die Klägerin zu Ziff. 1. das Unternehmen „XXXXXXXXXX“ und meldete am 04.02.2022 bei der Stadt XXXXXXXXXX ein diesbezügliches Gewerbe an. Die Agentur für Arbeit hob daraufhin mit Bescheid vom 15.02.2022 mit Wirkung zum 02.02.2022 die Bewilligung des Arbeitslosengeldes 1 zulasten der Klägerin zu Ziff. 1. auf und bewilligte ihr zu ihren Gunsten mit Bescheid vom 23.02.2022 einen Gründungszuschuss für den Zeitraum 02.02.2022 bis 01.08.2022 in Höhe von monatlich 1.374,- €. In dieser Höhe überwies ihr die Agentur für Arbeit den Gründungszuschuss erstmals am 02.03.2022. Unter Berücksichtigung des anspruchserhöhenden Wegfalls des Arbeitslosengeldes 1 der Klägerin zu Ziff. 1. zum 02.02.2022 sowie unter anspruchsmindernder Anrechnung ihres Gründungszuschusses ab 02.02.2022 änderte der Beklagte mit Bescheid vom 07.03.2022 seine Leistungsbewilligung für den Monat April 2022 betreffend alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft der Kläger ab.
Am 27.04.2022 füllte der Kläger zu Ziff. 2. den Vordruck des Beklagten „Anlage EKS“ für den Bewilligungszeitraum November 2021 bis April 2022 aus. Nach seinen damaligen Angaben erwirtschaftete er im Rahmen seiner Selbstständigkeit Verluste. Indessen gab er im Rahmen seiner betriebswirtschaftlichen Auswertung unter anderem monatliche Aufwendungen für die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung des auf seine Ehefrau zugelassenen Fahrzeugs an. Zudem gab er an, während der sechs Leistungsmonate im Rahmen seiner betrieblichen Kfz-Nutzung insgesamt 60 € für dessen Betankung ausgegeben zu haben.
Mit dem (im Klageverfahren S 12 AS 2454/22 streitgegenständlichem) Bescheid vom 23.05.2022 setzte der Beklagte die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Kläger für den Bewilligungszeitraum November 2021 bis April 2022 endgültig fest. Der Beklagte berücksichtigte dabei durchgehend als Einkommen der Kläger zu Ziff. 3. und 4. das Kindergeld (219 € je Kind pro Monat). Ein Einkommen des Klägers zu Ziff. 2. aus seiner Selbstständigkeit legte der Beklagte entsprechend den Angaben in seiner Anlage EKS nicht zugrunde. Als Einkommen der Klägerin zu Ziff. 1. legte der Beklagte für die Zeit vom 01.11.2021 bis zum 01.02.2022 das Arbeitslosengeld 1 der Agentur für Arbeit in Höhe von monatlich 1.074 € (bzw. 35,80 € am 01.02.2022) zugrunde. Für die Zeit ab dem 02.02.2022 bis einschließlich 30.04.2022 berücksichtigte der Beklagte als Einkommen der Klägerin zu Ziff. 1. den monatlichen Gründungszuschuss von 1.374,- €. In allen sechs Bewilligungsmonaten setzte der Beklagte hierbei vom Einkommen der Klägerin zur Ziff. 1. pauschal 30,- € ab.
Mit zwei separaten Anhörungsschreiben vom selben Tag (23.05.2022) gab der Beklagte einerseits dem Kläger zu Ziff. 2. bzw. andererseits den übrigen Klägern Gelegenheit zur Stellungnahme wegen der beabsichtigten teilweisen Aufhebung der vorläufigen Leistungsbewilligungen betreffend die Bewilligungsmonate Februar 2022 und März 2022 sowie der Rückerstattung der insofern überzahlten Leistungen nebst künftiger Aufrechnung seiner Rückerstattungsansprüche gegen die laufenden Leistungsansprüche der Kläger. Mit zwei (entsprechend den Anhörungen separat gegenüber dem Kläger zu Ziff. 2. bzw. den drei übrigen Klägern erlassenen) Bescheiden zur Aufhebung, Erstattung und Aufrechnung hob der Beklagte am 18.08.2022 seine vorläufigen Bewilligungsbescheide bzw. die vorläufige Leistungsgewährung betreffenden Änderungsbescheide vom 25.10.2021, 27.11.2021 und 03.01.2022 hinsichtlich der Leistungsbewilligungen für die Monate Februar 2022 sowie März 2022 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nummer 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nummer 2 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) teilweise auf, wobei inhaltlich die Höhe der teilweisen Aufhebung mit der Höhe der endgültigen Leistungsfestsetzung vom 23.05.2022 kohärierte. Unter Verweis auf § 50 Abs. 1 SGB X setzte der Beklagte zugleich Erstattungsbeträge gegenüber dem Kläger zu Ziff. 2. bzw. gegenüber den drei übrigen Klägern in Höhe der Differenz aus den vorläufig bzw. endgültig festgesetzten Beträgen fest und verfügte jeweils unter Hinweis auf § 43 Abs. 2 SGB II Aufrechnungen mit seinen Erstattungsansprüchen in Höhe von 10 Prozent des jeweils maßgebenden Regelbedarfs.
Gegen die endgültige Leistungsfestsetzung vom 23.05.2022 hatten die fachkundig vertretenen Kläger bereits am 21.06.2022 Widerspruch eingelegt und unter anderem geltend gemacht, der Beklagte habe rechtswidriger Weise die Aufwendungen für die Kfz-Haftpflichtversicherung nicht vollständig vom Einkommen abgesetzt und dementsprechend zu niedrige Leistungen berechnet. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2022 als unbegründet zurück. Die endgültige Leistungsfestsetzung sei eingehend geprüft worden. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den eingereichten, nicht vollständig und daher nicht prüfbaren Unterlagen ersichtlich. Der angefochtene Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen des Paragraphen 11b SGB II.
Hiergegen haben die Kläger am 28.09.2022 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, Prozesskostenhilfe beantragt, den angefochtenen (Widerspruchs-) Bescheid sowie einen Abdruck der Widerspruchsschrift vorgelegt. Sie verweisen auf die gefestigte Rechtsprechung bezüglich der zusätzlichen Anerkennung der tatsächlichen Aufwendung für eine Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung neben der Versicherungspauschale von 30,- € monatlich und die von ihnen bereits außergerichtlich diesbezüglich vorgelegten Nachweise. Die erneut fachkundig vertretenden Kläger beantragen wörtlich:
Der Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung seines Bescheids vom 23.05.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.09.2022 die Ausgaben für eine KFZ-Haftpflichtversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er meint, neue rechtserhebliche Gesichtspunkte würden nicht vorgetragen. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweise er auf seine Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid sowie den Inhalt seines – elektronisch geführten – Verwaltungsvorgangs.
Das Gericht hat gegenüber dem Beklagten das vollständige Fehlen jeglicher Unterlagen betreffend das stattgehabte Vorverfahren in den vorgelegten Verwaltungsvorgängen moniert, den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt, den Beklagten auf die Grundsätze der Beweisvereitelung sowie die Aussichtslosigkeit der Rechtsverteidigung hingewiesen und die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Daraufhin hat der Beklagte moniert, es sei nicht hinnehmbar, wenn das Gericht schreibe, die Verwaltungsvorgänge einer „deutschen Behörde“ seien lückenhaft, und den Kammervorsitzenden erfolglos wegen der Besorgnis seiner Befangenheit abgelehnt (Sozialgericht Karlsruhe, 08.03.2023, S 13 SF 459/23 AB). Die in den vorgelegten elektronischen Verwaltungsvorgängen fehlenden Unterlagen betreffend das stattgehabte Widerspruchsverfahren hat der Beklagte auch nach der Anhörung zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht nachgereicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Inhalte der Verwaltungs- und Prozessakte.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach vorangegangener Anhörung der Beteiligten ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter sowie ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, soweit er entscheidungserheblich ist.
Die form- und fristgerecht zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 23.05. 2022 (Seite 640 ff. der Verwaltungsakte) in der Fassung seiner zwei Bescheide zur Aufhebung, Erstattung und Aufrechnung vom 18.08.2022 (Seite 688 ff. bzw. 691 ff. der Verwaltungsakte) in seiner durch den Widerspruchsbescheid vom 02.09.2022 (Seite 16 der Prozessakte) erlangten Gestalt ist teilweise aufzuheben. Diese Bescheide verletzten in rechtswidriger Weise klägereigene Rechte. Zudem können die Kläger vom Beklagten die Bewilligung höherer Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe unter einkommensmindernder Absetzung der Ausgaben der Klägerin zu Ziff. 1 für die Haftpflichtversicherung ihres Kraftfahrzeugs beanspruchen.
Die zwei Aufhebungsverfügungen des Beklagten vom 18.08.2022 sind schon deswegen rechtswidrig ergangen und aufzuheben, weil es eines Aufhebungsbescheides nach den Vorschriften des SGB X nicht bedarf, falls sich – wie hier – im Falle einer vorläufigen Leistungsbewilligung zum Zeitpunkt der endgültigen Leistungsfestsetzung ein niedrigerer Leistungsanspruch ergibt als zunächst bewilligt worden war [vgl. Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 41a (Stand: 13.01.2023), Rn. 75], da es für behördliche Aufhebungsentscheidungen neben der endgültigen Leistungsfestsetzung (hier: vom 23.05.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2022) keinen Regelungsbedarf gibt, denn die vorläufigen Leistungsbewilligungen (hier: vom 25.10.2021, 27.11.2021, 03.01.2022 und 07.03.2022) erledigen sich gemäß § 39 Abs. 2 SGB X kraft Gesetzes, sobald eine endgültige Leistungsfestsetzung nach § 41a SGB II erfolgt.
Auch der Bescheid des Beklagten vom 23.05. 2022 (Seite 640 ff. der Verwaltungsakte) und der Widerspruchsbescheid vom 02.09.2022 (Seite 16 der Prozessakte) sind rechtswidrig und wegen der Verletzung klägereigener Rechte aufzuheben, weil bei Beklagte der Berechnung ihrer Leistungsansprüche entgegen der Gesetzvorgabe aus § 41a Abs. 4 SGB II ohne ersichtlichen Grund (bzw. Ausnahmetatbestand) von der Berechnung eines Durchschnittseinkommens abgesehen hat.
Aufgrund der unterlassen Bildung des Durchschnittseinkommens sind in den beiden Bescheiden vom 18.08.2022 folgefehlerhaft auch die Erstattungsforderungen gegenüber den vier Klägern unrichtig festgesetzt worden, rechtswidrig und aufzuheben, zumal sie der Beklagte im vorliegenden Falle der endgültigen Festsetzung nach vorläufiger Bewilligung zu Unrecht auf § 50 SGB X gestützt hat [vgl. Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 41a (Stand: 13.01.2023), Rn. 75].
Allein deswegen können die Kläger die höhere Neufestsetzung ihrer Leistungsansprüche unter Aufhebung der entgegenstehenden rechtswidrigen Bescheide des Beklagten beanspruchen und obsiegen im Klageverfahren S 12 AS 2454/22. Ungeachtet dessen hat der Beklagte überdies bislang zu niedrige Leistungsansprüche auch deshalb festgesetzt, weil er unter Vernachlässigung der von den Klägern bereits im Widerspruchsverfahren geltend gemachten Absetzungsvorschrift aus § 11b Abs. 1 Nummer 3 SGB II anspruchsmindernd zu viel Einkommen der Klägerin zu Ziff. 1. Berücksichtigt hat, indem er bei der Klägerin zu Ziff. 1 als Inhaberin der Kfz-Zulassung keine Kfz-Haftpflichtversicherungskosten berücksichtigt hat, obwohl hier von einer überwiegend privaten Nutzung des Kfz auszugehen ist, weil die betrieblich bedingten Kraftfahrzeugnutzungen des Klägers zu Ziff. 2. nur geringfügig waren und binnen sechs Monaten nur Tankfüllungen von insgesamt nicht mehr als 60,- € erforderten.
Entgegen seinen Ausführungen im Widerspruchsbescheid kann der Beklagte wegen der Absetzung der Kraftfahrzeugversicherungskosten auch nicht mit Erfolg einwenden, die Kläger hätten diesbezügliche außergerichtlich nur unvollständige und daher nicht prüfbare Unterlagen eingereicht.
Aus § 444 ZPO ist herzuleiten, dass im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist, wenn ein Beteiligter schuldhaft die Beweisführung der beweispflichtigen Gegenpartei unmöglich macht [Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 128 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 78 m.w.N.]. Nach den Rechtsgrundsätzen zur schuldhaften Beweisvereitelung sind wegen des behördlichen Organisationsverschuldens Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr auch unabhängig davon gerechtfertigt, ob in der Sphäre der Behörde irgendein konkretes, persönlich schuldhaftes Fehlverhalten feststellbar ist, soweit die Beweisführung eines Bürgers nachweislich durch Lücken in elektronischen Verwaltungsakten vereitelt wird.
Dass sich Lücken in elektronischen Verwaltungsvorgängen während der ersten Jahre der Digitalisierung nicht ausnahmslos vermeiden lassen, verkennt das Gericht indessen gerade nicht. Der Systemwechsel von Papier zum Computer bedingt neben menschlichen Fehlern bei neu einzuübenden und sukzessive anzupassenden Verfahrensabläufen auch zahlreiche technische Anlaufschwierigkeiten. Diese können zu ggfs. unbeabsichtigten Datenverlusten führen und insbesondere im Zusammenhang mit dem Einscannen, Zuordnen und Versenden von Aktenbestandteilen selbst dann auftreten, wenn bei der Anwendung der elektronischen Akte keinerlei konkretes Fehlverhalten einer natürlichen Person ersichtlich ist. Vor solcherlei Umstellungsschwierigkeiten ist eine (inländische) Behörde ebenso wenig gefeit wie das (Sozial-) Gericht (Karlsruhe), wo Prozessakten ebenfalls elektronisch geführt werden und gelegentlich aus nicht nachvollziehbaren Gründen Lücken aufweisen.
Gleichwohl sind selbst unvermeidbare Lücken in elektronischen Verwaltungsakten im Außenverhältnis der Behörde zum Bürger als schuldhaftes Verwaltungshandeln zu bewerten. Die vorhersehbare Gefahr eines digitalen Datenverlustes hat nämlich erst die Behörde geschaffen durch ihren Umstieg auf eine elektronische Aktenführung. Die zur Abwendung dieser Gefahr erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen muss die Verwaltung treffen. Es ist daher nur recht und billig: Behörden tragen verschuldensunabhängig das Risiko eines Verlusts durch sie digitalisierter Daten.
Gemessen daran ist wegen der seitens der Kläger geltend gemachten Ausgaben für die Kraftfahrzeugversicherung des auf die Klägerin zu Ziff. 1. zugelassenen Autos im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung festzustellen, dass der Beklagte erfolglos einwendet, die Kläger hätten hierfür nichts ausgegeben, weil insofern die Beweislast zu Gunsten der Kläger umzukehren ist. Den Beweis der Ausgaben hat der Beklagte schuldhaft vereitelt. Diesbezüglich sind seine elektronischen Verwaltungsvorgänge nachweislich lückenhaft. Darin befinden sich keinerlei Unterlagen betreffend das Vorverfahren. Dieses hat ausweislich des durch die Kläger mit der Klageschrift vorgelegten Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 02.09.2022 aber stattgefunden. Gleichwohl sind in seinen elektronischen Verwaltungsvorgängen die Widerspruchsschrift, der Widerspruchsbescheid und sonstiger diesbezüglicher Schriftverkehr der Verfahrensbeteiligten nicht auffindbar.
Indessen ist im vorliegenden Einzelfall auszuschließen, dass die Unterlagen in den elektronischen Verwaltungsvorgängen des Beklagten vor ihrer Versendung an das Gericht noch vorhanden waren und erst bei oder nach ihrer Übermittlung an das das Gericht abhandengekommen sind, was – gerichtsbekanntermaßen – in anderen Verfahren des beklagten Jobcenters leider auch schon vorgekommen ist. In diesem Verfahren hat der Beklagte nämlich auf den Hinweis des Gerichts die fehlenden Teile seiner elektronischen Verwaltungsvorgänge nicht nachgereicht, nachdem das Gericht deren Unvollständigkeit moniert und den Beklagten sowohl auf die Grundsätze der Beweisvereitelung als auch auf die hieraus resultierende Aussichtslosigkeit der Rechtsverteidigung hingewiesen hatte.
Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 193 SGG und dem vollständigen Obsiegen.
Dieser Gerichtsbescheid ist nicht mit der Berufung anfechtbar. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt. Im Berufungsverfahren bedürfte es einer Zulassung, weil der Beschwerdegegenstand nicht mehr umfasst als die Anerkennung von Kfz-Haftpflichtversicherungskosten als Absetzungsbetrag für sechs Monate. Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
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