Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch um die Frage, ob die Beklagte für die im MVZ am Krankenhaus H angestellte Ärztin A bei der Berechnung des Regelleistungsvolumens eine Fallzahlerhöhung auf Grundlage der Neupraxenregelung für die Quartale II/12 bis IV/12 zu gewähren hat.
Die Klägerin ist Trägergesellschaft der seit 1. April 2012 errichteten überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft (üBAG), die aus dem MVZ im P (zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen seit 1. April 2006) und dem MVZ am Krankenhaus H (zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen seit 1. Oktober 2010) besteht.
In dem MVZ am Krankenhaus H waren zum Zeitpunkt der Errichtung am 1. Oktober 2010 der Facharzt für Chirurgie Dr. G und die Fachärztin für Neurochirurgie Frau A als Angestellte tätig.
Der Arzt Dr. G war schon seit dem 1. Oktober 1999 in B als Vertragsarzt zugelassen und ab 1. Oktober 2010 mit einem vollen Versorgungsauftrag in dem MVZ tätig.
Die Ärztin A war zunächst vom 1. Juli 2008 bis zum 31. Dezember 2009 im MVZ Gelenk- und Wirbelsäulenzentrum S angestellt. Seit dem 1. Oktober 2010 war sie im MVZ am Krankenhaus H als Angestellte auf einem dort von Seiten des MVZ neu angesiedelten Vertragsarztsitz für Neurochirurgie tätig, und zwar auch nach der Errichtung der üBAG weiter bis zum 31. März 2013. Sie verfügte zu keinem Zeitpunkt über eine eigene vertragsärztliche Zulassung und brachte in das MVZ am Krankenhaus H keinen eigenen Vertragsarztsitz ein.
Das auf die Ärztin A bezogene Regelleistungsvolumen lag in den vorliegend streitigen Quartalen II/12 bis IV/12 unter dem Fachgruppendurchschnitt:
Quartal |
Fallzahl aus RLV-Zuweisung |
Abgerechnete Fallzahl |
Durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe |
II/12 |
176,27 |
295,67 |
486,59 |
III/12 |
235,31 |
371,29 |
503,13 |
IV/12 |
263,38 |
304,20 |
469,68 |
Die Klägerin beantragte für die genannten Quartale bei der Beklagten die Anerkennung als Neupraxis mit der Möglichkeit eines Wachstums bis zum Fachgruppendurchschnitt.
Mit Bescheid vom 23. September 2015 lehnte die Beklagte die Anträge auf Anerkennung einer höheren Fallzahl im Rahmen der Neupraxenregelung für die Quartale II/12 bis IV/12 ab. Es mangele am Status einer Neupraxis, da das MVZ im P schon seit dem 1. April 2006, mithin mehr als 12 Quartale, zugelassen sei.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 2016 zurück; es sei entscheidend, dass dem MVZ im P kein Neupraxenstatus mehr zukomme; mit der Errichtung der üBAG zum 1. April 2012 habe das MVZ am Krankenhaus H seinen Neupraxenstatus verloren, da es mit einem Alt-MVZ zusammengegangen sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 26. August 2016 Klage erhoben. Mit seiner Errichtung zum 1. Oktober 2010 sei das MVZ am Krankenhaus H für 12 Monate in den Genuss der Neupraxenregelung gekommen. Auf den Status des MVZ im P dürfe insoweit nicht abgestellt werden. Die Anstellung der Ärztin A zum 1. Oktober 2010 sei wie eine Neuzulassung zu bewerten, da es insoweit kein Nachbesetzungsverfahren gegeben habe. Danach hätten sowohl das MVZ am Krankenhaus H als auch die Ärztin A die Neupraxenregelung für sich in Anspruch nehmen dürfen. Gegenüber dem jeweiligen Vorjahresquartal sei es in den Quartalen II/12 bis IV/12 zu erheblichen Fallzahlsteigerungen gekommen.
Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten und hat angeführt, das MVZ am Krankenhaus H habe seinen Neupraxenstatus und damit seinen Wachstumsanspruch durch Gründung der üBAG verloren.
Mit Urteil vom 30. Oktober 2019 hat das Sozialgericht Berlin den streitigen Bescheid insoweit aufgehoben, als die Erhöhung der Fallzahlen im Rahmen der Neupraxenregelung für die im MVZ am Krankenhaus H angestellte Ärztin A für die Quartale II/12 bis IV/12 abgelehnt wurde und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin für diese im MVZ am Krankenhaus H angestellte Ärztin bei der Berechnung des Regelleistungsvolumens eine Fallzahlerhöhung im Rahmen der Neupraxenregelung für die Quartale II/12 bis IV/12 zu gewähren. Im Übrigen hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt: Unabhängig von den im HVM der Beklagten getroffenen Regelungen ergebe sich die entsprechende Anwendung der für Vertragsärzte geltenden Regelungen auf MVZ, soweit keine abweichenden Regelungen bestünden, unmittelbar aus § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V. Vorliegend habe (erstens) das MVZ am Krankenhaus H seit seiner Gründung am 1. Oktober 2010 einen grundsätzlich drei Jahre währenden Neupraxenstatus genossen. (Zweitens) habe auch die zum 1. April 2012 errichtete üBAG in den hier streitigen drei Quartalen einen Neupraxenstatus besessen. Schließlich (drittens) habe auch die im MVZ am Krankenhaus H tätige Ärztin A in den drei streitigen Quartalen noch über einen Neupraxenstatus verfügt, denn sie sei erst seit 1. Oktober 2010 vertragsärztlich tätig gewesen. Ihre zuvor ausgeübte Tätigkeit als angestellte Ärztin müsse insoweit außer Betracht bleiben; § 95 Abs. 1 SGB V, der auf „zugelassene Vertragsärzte“ rekurriere, lasse insoweit kein anderes Ergebnis zu. Es sei streng zu unterscheiden zwischen der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung durch zugelassene Leistungserbringer und der Tätigkeit angestellter Ärzte. Danach sei in den streitigen Quartalen für Dr. G kein Neupraxenstatus mehr gegeben, denn dieser Arzt sei bereits seit 1. Oktober 1999 vertragsärztlich tätig gewesen. Hinsichtlich der Ärztin A – und nur für diese – sei aber die begehrte Fallzahlerhöhung im Rahmen der Neupraxenregelung zu gewähren.
Gegen das ihr am 12. November 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. Dezember 2019 Berufung eingelegt. Der hier zu verzeichnende Zusammenschluss zweier MVZ zu einer üBAG sei mit der Aufnahme eines neuen Partners in eine schon länger bestehende BAG gleichzusetzen. Weil das MVZ im P schon seit dem 1. April 2006 bestanden habe, habe das MVZ am Krankenhaus H mit dem Zusammenschluss seinen Wachstumsanspruch verloren. Nichts anderes gelte, wenn man die Neugründung einer üBAG zwischen zwei MVZ mit der Neugründung einer BAG gleichsetze: Denn keiner der Ärzte des MVZ am Krankenhaus H habe sich 2012 noch in der Aufbauphase befunden. Die vorherige Tätigkeit der Ärztin A im Angestelltenverhältnis seit 1. Juli 2008 müsse nämlich angerechnet werden. Angestellte Ärzte würden im Rahmen der Bedarfsplanung berücksichtigt und nähmen im Rahmen ihres Status ebenfalls an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Damit habe sie ab 1. Juli 2011 nicht mehr von der Neupraxenregelung profitieren können. Die Auffassung des Sozialgerichts führe dazu, dass sich eine Praxis stets durch den Zusammenschluss mit einer anderen Praxis verjüngen könne, wenn dort ein Arzt tätig sei, der sich noch in der Wachstumsphase befinde.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Die Neugründung der üBAG zwischen den beiden MVZ könne nicht als Aufnahme eines neuen Partners in eine bestehende BAG begriffen werden, denn das MVZ H habe seine Praxis nicht in das MVZ P eingebracht. Die vorliegende Konstellation unterscheide sich von dem Eintritt eines Vertragsarztes in eine bestehende BAG und es mache Sinn, der Klägerin den Status einer Neupraxis zu belassen, zumal sie auch keinen gemeinsamen Praxisstandort mit dem MVZ P begründet habe. Es gehe auch gar nicht darum, der üBAG insgesamt einen Neupraxenstatus zukommen zu lassen. Zu Recht habe das Sozialgericht weiter entschieden, dass die Neupraxenregelung innerhalb des MVZ H nur für die Ärztin A gelte. Ihre vorangegangene Tätigkeit im Angestelltenverhältnis müsse außer Betracht bleiben, denn in jener Zeit sei sie nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen gewesen. Als angestellte Ärztin habe sie nicht in gleichem Maße wie ein zugelassener Vertragsarzt unternehmerisch gehandelt und auch keinen eigenen Patientenstamm aufbauen können.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, bleibt aber ohne Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin für die Ärztin A bei der Berechnung des Regelleistungsvolumens eine Fallzahlerhöhung im Rahmen der Neupraxenregelung für die Quartale II/12 bis IV/12 zu gewähren.
Die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung sind in jeder Hinsicht überzeugend. Das Sozialgericht hat die einschlägigen Regelungen des Honorarverteilungsmaßstabes der Beklagten zutreffend zitiert und in diesem Zusammenhang zu Recht auch auf § 72 Abs. 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) hingewiesen und hat sich sachlich richtig an der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Komplex MVZ und Neupraxenregelung orientiert (Urteile vom 24. Januar 2018, B 6 KA 2/17 R und B 6 KA 23/16 R sowie vom 17. Juli 2013, B 6 KA 44/12 R). Rechtlich beanstandungsfrei hat das Sozialgericht herausgearbeitet, warum der Arztsitz, auf dem die Ärztin A tätig war, in den drei streitigen Quartalen in den Genuss der Neupraxenregelung kam, dass dies auch für das erst zum 1. Oktober 2010 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene MVZ am Krankenhaus H galt und dass sich daran nichts durch die Errichtung der üBAG zum 1. April 2012 änderte.
Dem ist nichts hinzuzufügen und der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen nach eigener Sachprüfung Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Unter Bezugnahme auf die Begründung der Berufung bleibt zu ergänzen:
Erstens geht die Beklagte mit der Annahme fehl, der vorliegende Zusammenschluss zweier MVZ zu einer üBAG sei mit der Aufnahme eines neuen Partners in eine schon länger bestehende BAG gleichzusetzen. Dieser Denkansatz wird dem tatsächlichen Vorgang nicht gerecht, der sich dadurch auszeichnet, dass sich zwei Subjekte des Vertragsarztrechts (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V) gemeinsam zu einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft zusammenschließen. Es kann nicht davon die Rede sein, dass (nur) das eine MVZ – das am Krankenhaus H – gleichsam ins andere MVZ – das im P – aufgenommen wurde. Vielmehr ist die Errichtung der üBAG zum 1. April 2012 gleichzusetzen mit der Neuerrichtung einer Berufsausübungsgemeinschaft unter Vertragsärzten, die zuvor je für sich vertragsärztlich tätig waren. Daher ist der Neupraxenstatus, über den das MVZ am Krankenhaus H vom 1. Oktober 2010 an für drei Jahre verfügte, auch nicht durch die Gründung der üBAG verloren gegangen; es kann nicht davon die Rede sein, dass das Alt-MVZ im P sich durch Gründung der üBAG „verjüngte“, denn der Neupraxenstatus des MVZ am Krankenhaus H wirkt sich nur auf dieses selbst aus und hier auf den Anteil, der auf die Tätigkeit der Neurochirurgin A entfällt.
Grundsätzlich gilt insoweit, bezogen auf „einfache“ Berufsausübungsgemeinschaften: Für die Frage, ob sich eine Berufsausübungsgemeinschaft in der Aufbauphase befindet, kommt es sowohl darauf an, ob die Berufsausübungsgemeinschaft selbst sich noch in der Aufbauphase befindet als auch, ob die jeweiligen in der Berufsausübungsgemeinschaft tätigen Ärzte noch den Neupraxenstatus beanspruchen können; die Neupraxenregelung ist nur auf die Ärzte anzuwenden, die selbst noch einen Neupraxenstatus beanspruchen können. Diesen Status verlieren „Jungärzte“ aber nicht durch einen Zusammenschluss mit Ärzten (im Sinne der Neugründung einer Berufsausübungsgemeinschaft), die einen Neupraxenstatus nicht mehr beanspruchen können (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Januar 2018, B 6 KA 2/17 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 26ff.). Mit anderen Worten: Bei Neugründung einer Berufsausübungsgemeinschaft bleibt einem Gründungsmitglied sein gegebenenfalls vorhandener Neupraxenstatus erhalten (so ausdrücklich SG Marburg, Urteil vom 26. Oktober 2016, S. 12 KA 59/15, zitiert nach juris, dort Rdnr. 35 [„Weiterwirken als Aufbaupraxis“]); diese Fallgruppe ist streng zu trennen von derjenigen, in der ein in der Aufbauphase befindlicher Vertragsarzt in eine Berufsausübungsgemeinschaft eintritt, die der Aufbauphase schon entwachsen ist; in dieser Konstellation verliert der neu hinzutretende „Jungarzt“ seinen Neupraxenstatus (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Juli 2013, B 6 KA 44/12 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 27).
Diese Überlegungen können – und müssen wegen § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V – auf den Zusammenschluss zweier MVZ zu einer üBAG übertragen werden.
Zweitens spricht die Beklagte dem auf die Ärztin A entfallenden Arztsitz den Neupraxenstatus ab 1. April 2012 zu Unrecht ab. Der Senat folgt auch hier der Argumentation des Sozialgerichts und im Übrigen der in der Berufungserwiderung der Klägerin zum Ausdruck gekommenen Sichtweise. Es liegt auf der Hand, dass sich für einen Arzt, der ohne eigenen Vertragsarztsitz in einem schlichten Anstellungsverhältnis tätig ist, die Frage der Neupraxenregelung nicht stellt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Praxen in der Aufbauphase hatte stets den in freier Unternehmerschaft selbständig tätigen Vertragsarzt im Blick, dem es ermöglicht werden sollte, zur Herstellung von Honorarverteilungsgerechtigkeit eine Steigerung des Honorars auf den Fachgruppendurchschnitt ohne zeitliche Verzögerung zu realisieren (vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Januar 2018, B 6 KA 2/17 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 25). Diese an Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG gemessene Frage stellt sich für einen abhängig beschäftigten angestellten Arzt nicht, der über keine vertragsärztliche Zulassung verfügt (vgl. auch § 95 Abs. 1 und Abs. 9 SGB V sowie die Regelungen in § 32b Ärzte-ZV). Daher hat die Ärztin A in ihrer Angestelltentätigkeit vor dem Eintritt ins MVZ am Krankenhaus H (1. Juli 2008 bis 31. Dezember 2009) auch nicht Teile eines Jungarztstatus „verbraucht“. Gleichzeitig durfte das bis 30. September 2013 im Neupraxenstatus befindliche MVZ am Krankenhaus H die auf einem zum 1. Oktober 2010 neu geschaffenen Arztsitz tätige und angestellte Ärztin A abrechnungstechnisch wie eine Jungärztin behandeln; anderenfalls käme es zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung mit einer im Neupraxenstatus befindlichen BAG, in die ein weiterer Jungarzt eintritt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 VwGO. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.