Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juli 2022 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die zulässige Beschwerde vom 26. August 2022 (Montag) gegen den am 28. Juli 2022 zugestellten Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) ist unbegründet.
Es fehlt der Klage an der für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach den §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erforderlichen jedenfalls hinreichenden Erfolgsaussicht.
Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nach den genannten Vorschriften davon abhängig, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Verfahrens in der Sache selbst treten zu lassen. Prozesskostenhilfe darf nur verweigert werden, wenn die Klage bzw. ein Eilantrag völlig aussichtslos ist oder ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. Juli 2005 - 1 BvR 175/05 - NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf BVerfGE 81, 347, 357f). Die vorliegende Klage hat allenfalls fernliegende Erfolgsaussichten.
Das SG hat dies zu Recht und mit zutreffender Begründung im angefochtenen Beschluss dargestellt. Zur Vermeidung bloßer Wiederholungen verweist der Senat entsprechend § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die Ausführungen.
Die Klägerin hat nach aktuellem Sachstand keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis auf der Grundlage von § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Der dies ablehnende Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. November 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol (= Δ9-Tetrahydrocannabinol = THC) oder Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid), wenn
1.) a) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2). Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren (Satz 5).
Es fehlt hier jedenfalls an einer begründeten Einschätzung einer behandelnden Vertragsärztin oder eines Vertragsarztes zu dem erforderlichen Genehmigungsantrag, in welcher unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes die Verordnung für sinnvoll erachtet wird im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V. Dieses Erfordernis muss erfüllt sein, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass für die Leiden der Klägerin, welche das SG aufgelistet hat, keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen könnten.
Die eigenen guten Erfahrungen mit Cannabioniden können diese zwingende Voraussetzung ebenso wenig ersetzen wie der Umstand, dass die behandelnden Ärzte Privatrezepte ausstellen und Atteste erstellen. Gleiches gilt für die eigene Schilderung der Klägerin in ihrer Klagebegründung mit der Angabe, dass sie THC hauptsächlich zur Behandlung von ADHS und zur Unterstützung der psychotherapeutischen Behandlung ihrer Depression und PTBS einsetzt.
Die begründete ärztliche Einschätzung ist einerseits sachliche Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch, andererseits aber gerade Ausdruck der ärztlichen Therapiehoheit. Fehlt sie, ist es selbst bei Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) nicht Aufgabe des Gerichts, die Behandler so lange zu befragen, bis sich in der Zusammenschau eine ausreichende ärztlich begründete Einschätzung einstellt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 8. September 2022 - L 1 KR 118/19 - unter Bezugnahme auf Urteil vom 14. April 2021 – L 9 KR 402/19 – juris Rn. 30).
Unabhängig von der Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Standardbehandlung darstellen. Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. März 2021 – L 11 KR 436/20 – juris Rn. 41).
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in jüngster Zeit zu den Anforderungen an die ärztliche Einschätzung ausgeführt, dass an die begründete Einschätzung hohe Anforderungen zu stellen sind, weil unverändert das Betäubungsmittelgesetz gelte, es sich im bei der Behandlung mit Cannabis im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht um eine Neulandmethode handele sowie aus Gründen des Patientenschutzes. Die begründete Einschätzung muss danach folgendes beinhalten:
- eine Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggfs. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,
- eine Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,
- die bereits angewendeten Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,
- die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen sowie eine Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung dürfen dabei nur Nebenwirkungen einfließen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen (BSG, Urteil vom 10. November 2022 - B 1 KR 28/21 R – juris Rn. 32-36).
Es fehlt hier unter anderem an der Darstellung der bereits angewendeten Standardbehandlungen aufgrund eigener Behandlung und der Hinzuziehung anderer ärztlicher Erkenntnisse und an der Darstellung der noch verfügbaren Standardtherapien bzw. deren zu erwartenden Nebenwirkungen:
Die Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. K im „Arztfragebogen zu Cannabinoiden“ vom 22. April 2021 beschränkt sich zur Frage angewendeter Standardbehandlungen auf die lapidaren Stichworte „Opiate nicht vertragen, Ex Junkie, THC im Eigenverbrauch mit gutem Erfolg“. Zur Frage nach Behandlungsalternativen wird keine Aussage getroffen. Die Bemerkung, dass Opiate nicht vertragen würden, steht mittlerweile im Widerspruch zur Angabe der Klägerin, seit Januar 2022 wieder Opiate einzunehmen. Der ärztliche Bericht desselben Arztes vom 16. Juni 2021 beschränkt sich auf die Auflistung der diagnostizierten Leiden der Klägerin und eine Bitte um Kostenübernahme.
Im „Ärztliches Attest für Widerspruch“ des Facharztes für innere Medizin Dr. S vom gleichen Tag wird nur unspezifisch referiert, dass die psychischen Erkrankungen – in der Vergangenheit - mit Antidepressiva und Neuroleptika behandelt worden seien. Aktuell finde manuelle Therapie satt. Die Schmerzbehandlung erfolge durch die Kollegen Dres. K.
Das mit der Beschwerde eingereichte Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P äußert sich nur zu positiven Effekten von THC für die Traumafolgenbewältigung und zur Behandlung der ADHS.
Ohne Erfolg muss auch das Argument der Klägerin bleiben, für sie sei das (für die Behandlung der ADHS zugelassene) Arzneimittel Strattera® ausreichend wirksam gewesen, das sie sich nicht leisten könne, weil die Beklagte nur den Festbetrag übernehme, im Gegensatz zu Generika-Arzneimitteln (mit dem gleichen Wirkstoff Atomoxetin). Damit zeigt sie selbst eine Behandlungsalternative auf. Träfe es zu, dass die erforderliche Einnahme von Arzneimitteln mit diesem Wirkstoff, die zum Festbetrag erhältlich sind, bei der Klägerin zu unzumutbaren Nebenwirkungen führte, was bei gleichem Wirkstoff allerdings nicht nahe liegt, hätte sie einen Anspruch auf Strattera® ohne Zuzahlung. Zwar erfüllen die Krankenkassen ihre Leistungspflicht gegenüber einer Versicherten in aller Regel mit dem Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V). Dagegen greift in atypischen Ausnahmefällen, in denen aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, die Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag nicht ein. Dies ist der Fall, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erreichen (BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 24/18 R – juris Rdr 23; Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris Rn. 16).
Soweit die Klägerin argwöhnt, als ehemaligen Drogenkonsumentin stigmatisiert zu werden, trifft dies nicht zu. Die bestehende Heroinabhängigkeit ist selbst kein Grund für das derzeitige Fehlen der Voraussetzungen einer Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V. In der erforderlichen – hier fehlenden - begründeten ärztlichen Einschätzung im oben skizzierten Sinne muss der Vertragsarzt aber in seine Abwägung einbeziehen, in welcher Darreichungsform die Anwendung von Cannabis das geringste Risiko in Bezug auf schädliche Wirkungen und auf einen möglichen Missbrauch des verordneten Cannabis in sich birgt. Das gilt insbesondere bei einem vorbestehenden Suchtmittelkonsum oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit (so
weitgehend wörtlich, BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R –, Rdnr. 36, juris).
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten, § 73 a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.
Gegen diesen Beschluss findet die Beschwerde zum Bundessozialgericht nicht statt (§ 177 SGG).