1. Für das Eingangsdatum einer Klageschrift und damit für die Fristwahrung kommt es nur auf den Eingang auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts (EGVP-Postfach) in Verbindung mit dem erstellten Transfervermerk an. Wird ein gerichtlicher Eingangsstempel zu einem späteren Zeitpunkt auf der Klageschrift angebracht, kommt es auf dessen Datum nicht an.
2. Zur Ermessensausübung des Senats zur Zurückverweisung an das Sozialgericht.
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22. Juni 2022 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Regensburg zurückverwiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Streitig ist die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegegrad 3.
Die 1966 geborene Klägerin und Berufungsklägerin ist bei der Beklagten und Berufungsbeklagten pflegeversichert und erhält Leistungen nach dem Pflegegrad 2.
Nachdem zwei Höherstufungsanträge bislang ohne Erfolg geblieben sind (gegen die ablehnenden Verwaltungsentscheidungen sind derzeit zwei Klageverfahren beim SG Regensburg anhängig unter den Aktenzeichen S 14 P 159/19 und S 14 P 14/22), stellte die Klägerin am 22.03.2021 einen weiteren Höherstufungsantrag bei der Beklagten. Diese lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst (MD) mit Bescheid vom 04.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2022 ab.
Dagegen hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Regensburg (SG) erhoben.
Auf Blatt 1 der daraufhin angelegten Klageakte S 14 P 74/22 bestätigt ein Transfervermerk vom 08.04.2022, 11.33 Uhr, eine auf dem Server des SG am 08.04.2022, 11.25 Uhr, eingegangene Nachricht aus einem besonderen Anwaltsfach mit folgenden Anhängen: "Klage_gg_WSB_v_09_03_22.pdf, G1_Widerspruchsbescheid v_09_03_22.pdf, G1_Bescheid_v_4_5_21.pdf". Unter dem Stichwort "Visitenkarte des Absenders" ist der Name der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vermerkt.
Auf Blatt 2 der Klageakte findet sich die auf den 08.04.2022 datierte Klageschrift der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 09.03.2022 und den Bescheid vom 04.05.2021. Bezug genommen wird auf die Aktenzeichen S 14 P 159/19 und S 14 P 14/22. Auf der Klageschrift ist vermerkt, dass der Schriftsatz (Klageschrift vom 08.04.2022) über das besondere Anwaltsfach (beA) eingereicht werde. Ferner befinden sich auf der Klageschrift ein Eingangsstempel des SG mit Datum 02.05.2022 und ein weiterer Stempel mit Datum 29.04.2022, mit dem verfügt wird, dass eine neue Klage anzulegen sei.
Auf die Mitteilung des SG vom 05.05.2022, dass die Klageschrift vom 08.04.2022 beim SG am 02.05.2022 eingegangen sei, hat die Beklagte geltend gemacht, dass die Klage verfristet sei. Der Widerspruchsbescheid vom 09.03.2022 sei am 09.03.2022 zur Post gegeben worden und gelte somit am 12.03.2022 als zugestellt.
Die Prozessbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 16.05.2022 widersprochen und ausgeführt, dass die Klage über beA am 08.04.2022 erhoben worden sei. Sie hat einen Zustellnachweis vom 08.04.2022 vorgelegt, auf dem zum Betreff (Name der Klägerin/Name der Pflegekasse) und unter Bezugnahme auf das "Aktenzeichen Empfänger S 14 P 159/19" vermerkt ist, dass am 08.04.2022 um 11.25 Uhr dem Empfänger (SG Regensburg) folgende Anhänge zugegangen seien: "Klage_gg_WSB_v_..."; "G1_Widerspruchsbesch..."; "G1_Bescheid_v_4_5_21". Als Absender wird die Prozessbevollmächtigte der Klägerin benannt.
Das SG hat die Beteiligten mit Schreiben vom 30.05.2022 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und darauf hingewiesen, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe, da die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 09.03.2022 erstmals am 02.05.2022 vorliege und daher verfristet sei.
Mit Schriftsatz vom 15.06.2022 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin erneut vorgetragen, dass die Klage am 08.04.2022 am SG eingegangen und daher nicht verfristet sei. Das sei aus ihrem beA-Postfach ersichtlich. Das Protokoll der beA-Oberfläche weise die Zugangszeit und den Übermittlungsstatus "erfolgreich" aus. Vorsorglich werde ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22.06.2022 abgewiesen, da die Klage verfristet und somit unzulässig sei. Die Klage sei laut Eingangsstempel des Gerichts erst am 02.05.2022 bei Gericht eingegangen und nicht am 08.04.2022, wie die Klägerin ausführe. § 96 SGG greife nicht. Der Bescheid vom 04.05.2021 sei zwar nach Erlass der Bescheide vom 06.02.2019 und 11.09.2020 ergangen, ändere jedoch diese Bescheide und deren Widerspruchsbescheide nicht ab.
Die Klägerin hat gegen den Gerichtsbescheid vom 22.06.2022, der ihrer Prozessbevollmächtigten am 04.11.2022 zugestellt worden ist, am 05.12.2022 (Montag) Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben.
Ihre Prozessbevollmächtigte hat vorgetragen, dass der Eingangsstempel des Gerichts nicht geeignet sei, Beweis dafür zu erbringen, wann eine über beA versandte Klage tatsächlich eingegangen sei. Beweis hierfür erbringe allein das elektronische Protokoll der elektronischen Postfachoberfläche. Wann ein Schriftsatz aus dem elektronischen Posteingangsfach des Gerichts ausgedruckt werde, könne für den Eingang einer Klage nicht entscheidend sein, erst recht nicht, wann ein Gerichtsmitarbeiter einen Eingangsstempel auf diesen Ausdruck setze.
Die Beklagte hat vorgetragen, dass der beA-Zustellnachweis nicht geeignet sei, den Zugang der Klageschrift am 08.04.2022 nachzuweisen, da der Nachweis laut "Aktenzeichen Empfänger" das Verfahren S 14 P 159/19, mithin nicht das vorliegende Verfahren in erster Instanz, betreffe.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22.06.2022 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Regensburg zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Der Senat konnte aufgrund der erklärten Einwilligungen der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden.
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und auch begründet.
Das Sozialgericht Regensburg hat die Klage mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 04.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2022 ist nicht verfristet, sondern am 08.04.2022 fristgerecht beim Sozialgericht Regensburg erhoben worden. Da das Sozialgericht zu Unrecht nicht in der Sache entschieden hat, hebt der Senat den Gerichtsbescheid auf und verweist den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurück (§ 159 Abs. 1 SGG).
1. Nach § 87 Abs. 1 und 2 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Vorliegend galt der Widerspruchsbescheid vom 09.03.2022 als am 12.03.2022 als bekanntgegeben (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X).
Die Klageschrift ist als elektronisches Dokument, von der Bevollmächtigten der Klägerin als verantwortende Person signiert (hierfür reicht die Namensnennung der verantwortenden Person aus, vgl. Stäbler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 65a SGG, Rn. 29), über beA, einem als sicher anerkannten Übermittlungsweg (vgl. § 65a Abs. 4 Nr. 2 SGG), eingereicht worden (§ 65a Abs. 3 Satz 1 SGG).
Ein elektronisches Dokument ist eingegangen, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist (§ 65a Abs. 5 Satz 1 SGG). Die automatisch vom Server erstellte und dem Einreicher übersandte Eingangsbestätigung bescheinigt bei EGVP u.a. den Eingang, den Zeitpunkt des Eingangs sowie Anzahl und Dateinamen der übersandten Dokumente. Für das Eingangsdatum und damit für die Fristwahrung kommt es nur auf den Eingang auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts (EGVP-Postfach) in Verbindung mit dem Transfervermerk an, d.h. der Zeitpunkt des Zugangs ergibt sich aus den Daten des Eingangsservers (vgl. Stäbler, a.a.O., Rn 61 f). Damit kann es auf den gerichtlichen Eingangsstempel nicht ankommen (vgl. dazu auch Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 65a SGG (Stand: 23.03.2023), Rn 348).
Im vorliegenden Fall ist die Klageschrift bei der elektronischen Poststelle des SG am 08.04.2022 - also innerhalb der maßgeblichen Monatsfrist - eingegangen. Dies entnimmt der Senat dem Transfervermerk des SG vom 08.04.2022 (Blatt 1 der Klageakte), dem zweifelsfrei zu entnehmen ist, dass die Bevollmächtigte der Klägerin am 08.04.2022 Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 09.03.2022 und den Bescheid vom 04.05.2021 erhoben hat. Dies ergibt sich auch aus dem von der Klägerbevollmächtigten vorgelegten Ausdruck des Protokolls der beA-Oberfläche, in dem zusätzlich die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits genannt werden.
Dass dieses Protokoll das Aktenzeichen eines schon beim SG anhängigen Verfahrens der Klägerin benennt, ist unschädlich, da die auch in der Klageschrift erfolgte Bezugnahme auf dieses Aktenzeichen nichts daran ändert, dass mit dem Schriftsatz vom 08.04.2022 nach seinem eindeutigen Wortlaut Klage gegen die vorgenannten Bescheide der Beklagten erhoben werden sollte.
2. Im vorliegenden Fall macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Das ihm durch § 159 Abs. 1 SGG eingeräumte Ermessen übt der Senat dahin aus, dass er den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückverweist. Bei der Ermessensausübung im Rahmen von § 159 Abs. 1 SGG hat das Landessozialgericht das Interesse der Beteiligten an einem möglichst baldigen Verfahrensabschluss einerseits und ihr Interesse, keine Instanz zu verlieren, andererseits zu würdigen (BeckOGK/Sommer, Stand: 1.5.2021, SGG § 159 Rn. 16). Berücksichtigt werden darf insoweit die Arbeitsbelastung der ersten und zweiten Instanz, die Bedeutung des Verfahrensfehlers, prozessökonomische Gesichtspunkte, der Wille der Beteiligten, aber auch, ob das erstinstanzliches Verfahren überhaupt Grundlage für das Berufungsverfahren sein kann (vgl. insgesamt Sommer a.a.O.; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage, § 159 Rn. 5).
Nach diesem Maßstab sprechen nach Auffassung des Senats die gewichtigeren Gründe für eine Zurückverweisung, insbesondere das Interesse der Klägerin, keine Instanz zu verlieren. Zudem ist der Umfang der erforderlichen Amtsermittlung völlig offen (§ 103 SGG). Schließlich bejaht der Senat den Ausnahmefall einer Zurückverweisung auch im Hinblick auf die kurze Dauer des Berufungsverfahrens von unter vier Monaten und den ausdrücklichen Zurückverweisungsantrag der Klägerin.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten (Keller, a.a.O., § 159, Rn. 5f).
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.