1. Die kindliche Erinnerung ist auch zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr auf wesentliche Ereignisse beschränkt, die aus kindlicher Wahrnehmung verstanden werden (z.B. wegen sexuellen Wissens).
2. Eine abgespaltene oder verdrängte Speicherung mit Wiederaufleben von Gedächtnisinhalten ist gedächtnispsychologisch nahezu unmöglich.
3. Allein psychische Störungsbilder wie eine Angststörung sind wegen der vielen möglichen Ursachen dafür grundsätzlich nicht geeignet, um mit ausreichender Sicherheit auf einen Missbrauch zu schließen.
4. "Flashback"-Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig tatsächliche Erlebnisse wiedergeben, können aber dennoch Symptome einer PTBS verursachen.
5. Eine aktive Suggestion durch den Psychotherapeuten kann neben Erklärungs- und Deutungsangeboten auch in der fehlenden kritischen Hinterfragung liegen.
6. Es bedarf daher einer vertieften Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung.
7. Die klinische Diagnose der Komplexen PTBS nach ICD-11 6B41 entbindet nicht von der nach § 1 OEG erforderlichen Kausalitätsprüfung.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund behaupteten sexuellen Missbrauchs zwischen 1967 und 1972 durch ihren 1981 verstorbenen Großvater, S.
Sie ist 1963 geboren, hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen und war von 1983 bis 1988 als solche bei der K1 G-K & K GmbH beschäftigt. Von 1988 bis 1997 arbeitete sie als Assistentin der Geschäftsleitung bei der W-C Products mit zwischenzeitlicher beruflicher Weiterbildung zur Direktionsassistentin. Von 1997 bis 2009 war sie als Assistentin im Bereich Organisation bei der B-GmbH & Co. KG beschäftigt und nach einer kurzen Arbeitslosigkeit von September 2009 bis Juni 2015 bei der Handwerkskammer R1 als Ausbilderin und Dozentin im Bereich Wirtschaft und Verwaltung tätig. Seit 2016 ist sie als Personalsachbearbeiterin bei der G-G GmbH, zunächst mit 20 (vgl. die Angaben im Lebenslauf, Blatt 47 SG-Akte) und nunmehr mit 23 Wochenstunden (vgl. die Angaben gegenüber dem Sachverständigen F), tätig.
Sie ist zusammen mit ihrer Zwillingsschwester und einer sieben Jahre älteren Schwester bei den Eltern in B aufgewachsen. Mit ihrem ersten Mann, den sie mit 21 Jahren kennengelernt hat, ist sie nach M umgezogen. Nach fünfjähriger Ehe trennte sie sich von diesem, war nach einem Suizidversuch 1995 im Zusammenhang mit der Trennung von 1996 bis 1998 erstmals in 40-stündiger Gesprächstherapie. Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie in zweiter Ehe verheiratet und bewohnt mit ihrem jetzigen Ehemann eine 135 qm große Wohnung. Die Ehe ist kinderlos, nach einer künstlichen Befruchtung ist es im dritten Monat zu einer Fehlgeburt gekommen, danach ist die Klägerin nicht mehr schwanger geworden (vgl. Sachverständigengutachten B1).
Auf ihren Antrag vom 17. Februar 2009 auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) holte das Landratsamt R (LRA) die versorgungsärztliche Stellungnahme der S1 ein, die für die Depression, die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die seelische Störung einen Teil-GdB von 40 und für die Migräne einen Teil-GdB 20 sah. Die Schwerbehinderung werde knapp erreicht, eine Nachuntersuchung solle in 2 Jahren erfolgen. Mit Bescheid vom 15. Juni 2009 stellte das LRA einen GdB von 50 seit dem 17. Februar 2019 fest. Im ersten Nachprüfungsverfahren 2012 machte die Klägerin geltend, dass sie seit 2003 neben einer Migräne unter einem Clusterkopfschmerz leide, von dem eine immense psychosoziale Belastung ausgehe. S1 bewertete versorgungsärztlich die Migräne und den Clusterkopfschmerz nunmehr mit einem Teil-GdB von 30 und sah den Gesamt-GdB von 50 weiter als gegeben an, eine Nachuntersuchung solle in drei Jahren wegen einer möglichen Stabilisierung erfolgen. Mit Bescheid vom 29. Februar 2012 lehnte das LRA die Neufeststellung des GdB ab, da keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Im zweiten Nachprüfungsverfahren 2015 sah M1 ebenfalls keine wesentliche Änderung, das LRA lehnte mit Bescheid vom 11. Mai 2015 die Neufeststellung des GdB ab, der Widerspruch wurde nach Stellungnahme der Versorgungsärztin A (keine abweichende Bewertung gerechtfertigt) mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums S2 – Landesversorgungsamt – vom 1. September 2015 zurückgewiesen.
Am 30. November 2015 beantragte sie bei dem LRA die Gewährung von Leistungen für Gewaltopfer, welches den Antrag an den damals zuständigen Landschaftsverband W1 (nachfolgend einheitlich: Beklagter) abgab. Angegeben wurde als Tatzeitraum „circa 1967 bis 1972“. Während Besuchen in den Ferien bei den Großeltern oder zu Hause sei es regelmäßig zu wiederholtem schweren sexuellen Missbrauch durch den Großvater gekommen. Dieser habe begonnen, als sie etwa 4 Jahre alt gewesen sei und bis zum Tod der Großmutter angedauert.
Auf Nachfrage des Beklagten legte die Klägerin ihre Schulzeugnisse vor. Auf den Hinweis, dass es einer detaillierten Schilderung der Tathergänge bedürfe und allein die Angabe in ärztlichen Berichten, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sei, nicht ausreiche, führte sie aus, dass ihr Großvater auf S3 gewohnt habe. Sie sei 4 bis 9 Jahre alt gewesen, die genauen Daten erinnere sie nicht. Die Taten hätten bei Besuchen in den Ferien in der Wohnung der Großeltern oder in ihrem Elternhaus, wenn die Großeltern zu Besuch gewesen seien, stattgefunden. Ihr Großvater sei nachts an ihr Bett geschlichen, habe sie über und unter ihrer Kleidung gestreichelt, sei mit seinen Fingern in ihre Scheide eingedrungen und habe ihr dabei den Mund zugehalten. Er habe sie gezwungen sein Geschlechtsorgan anzufassen, zu stimulieren und ihn oral zu befriedigen. Mit circa 8 Jahren habe er sie während eines Urlaubs in W vergewaltigt. Er habe sie massiv unter Druck gesetzt, über diese Taten zu schweigen. Wenn sie nicht lieb gewesen sei, habe er sie mit sexuellen Praktiken oder Nichtbeachtung bestraft. Im Elternhaus habe den Großeltern ein eigenes Gästezimmer zur Verfügung gestanden. Sie erinnere sich an viele einzelne Übergriffe, könne aber die exakte Anzahl nicht beziffern, geschätzt seien es sicher mehr als 50 Übergriffe gewesen. Sie könne sagen, dass ihr Großvater mit der Zeit zudringlicher und brutaler vorgegangen sei. Ihre Eltern hätten keinen Strafantrag gestellt. Sie sei so eingeschüchtert gewesen, dass sie das Erlebte zunächst sehr lange abgespalten, also aus ihrem Bewusstsein gestrichen habe. Später sei ihr nicht bekannt gewesen, dass es Leistungen nach dem OEG gebe. Als sie davon erfahren habe, habe sie den Antrag gestellt.
Zur Akte gelangten Befundberichte des Universitätsklinikums H über die stationären Behandlungen der Klägerin:
Vom 1. Juni bis 15. August 2007 wurde sie mit den Diagnosen rezidivierende depressive Störung, PTBS, dissoziative Störungen gemischt, Migräne mit Aura und chronischem Clusterkopfschmerz behandelt. Die Klägerin sei nach einem Suizidversuch, bei dem sie versucht habe sich die Pulsadern aufzuschneiden, mit dem Verdacht auf eine schwere Episode einer rezidivierenden depressiven Störung eingewiesen worden. Sie habe in der vor einigen Monaten beendeten Psychotherapie den ihr vorher nicht bewussten, regelmäßig bis zum zehnten Lebensjahr erlittenen sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater aufgearbeitet. Vom 17. November bis 19. Dezember 2008 wurde unter den gleichen Diagnosen eine teilstationäre Behandlung durchgeführt.
Nach der stationären Behandlung vom 19. Januar bis 8. Februar 2010 wurde dargelegt, dass die Verschlechterung der Symptome der depressiven und posttraumatischen Störung im Zusammenhang mit der beruflichen Überforderung der Klägerin zu sehen sei. Es werde eine Reduktion der Stundenzahl und die Wiederaufnahme der ambulanten Psychotherapie empfohlen.
Im Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung vom 16. März bis 25. Mai 2011 wurde ausgeführt, dass die Klägerin von Symptomen einer komplexen Traumafolgestörung berichte, mit seit vielen Jahren bestehender latenter Suizidalität. Aktuell erscheine sie insbesondere am Arbeitsplatz deutlich überfordert, weshalb die Arbeitsfähigkeit massiv gefährdet sei.
Bei der stationären Behandlung vom 17. Dezember 2015 bis 17. März 2016 gab die Klägerin an, seit ihrem 20. Lebensjahr an wiederkehrenden Phasen depressiver Verstimmungen zu leiden. Aufgrund eines sexuellen Missbrauchs im vierten bis neunten Lebensjahr leide sie an einer PTBS. Es sei von einer rezidivierenden depressiven Störung, einer PBTS, einer dissoziativen Störung und einem Clusterkopfschmerz auszugehen. Eine histrionische Persönlichkeitsakzentuierung zeichne sich ab. Es werde die Fortsetzung der ambulanten Psychotherapie mit dem Schwerpunkt der Arbeit an Grundannahmen unter Einbeziehung der Biographie empfohlen.
Mit Bescheid vom 5. Oktober 2016 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin habe angegeben, dass es im Zeitraum vom 1967 bis 1972 wiederholt zu sexuellen Übergriffen gekommen sei. Ihr Vater solle Zeuge gewesen sein, dieser sei aber vor über 20 Jahren verstorben. Weitere Zeugen seien nicht benannt worden. Aufgrund der Erinnerungshistorie, insbesondere des Auftauchens von Erinnerungen im Rahmen einer umfangreichen Psychotherapie, des langen Zeitablaufs sowie des Fehlens von objektiven Beweismitteln könnten die geltend gemachten sexuellen Übergriffe nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Für eine Glaubhaftmachung reiche die bloße Möglichkeit nicht aus, weswegen die weiteren Voraussetzungen des § 10a OEG nicht zu prüfen seien.
Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, dass sie sexuell motivierte Handlungen ihres Großvaters an ihr als Kind unter 14 Jahren angegeben habe. Sie verfüge über gute Erinnerungen, die nicht nur gut nachvollziehbar seien, sondern von denen sie auch überzeugt sei und wisse, dass sie so stattgefunden hätten. Tatzeugen seien nicht vorhanden, es kämen aber die Mutter und zwei Schwestern als Zeitzeugen in Betracht, die ihre Erinnerungen in vielen Einzelheiten bestätigen könnten und die als engste Familienangehörige über den sexuellen Missbrauch keineswegs verwundert seien. Ihre ältere Schwester sei, wie sie ihr vor geraumer Zeit offenbart habe, selbst Opfer sexuell motivierter Handlungen des Großvaters geworden, habe sich aufgrund ihres Alters von 12 oder 13 Jahren aber offenbar besser zur Wehr setzen können. Die Angehörigen müssten angehört werde. Sie halte es für möglich, dass auch ihre Zwillingsschwester vom Großvater missbraucht worden sei, diese aber die Erlebnisse nicht erinnern könne. Ihre Mutter halte die Erinnerungen für erlebnisfundiert, da der Großvater keine Moral gehabt habe und sie ihm alles zutraue.
Dass Bilder und Erinnerungen erst später wieder bewusst würden oder erst später wieder abgerufen werden könnten, sei ein bekanntes Phänomen und komme häufig vor. Diese Erinnerungen könnten ohnehin erst im Erwachsenenalter verstanden und eingeordnet werden. Hieraus lasse sich nicht der Schluss ziehen, dass sie deshalb nicht glaubhaft seien, keinen realen Erlebnishintergrund hätten und lediglich auf Träumen und Phantasien beruhten. Klare detaillierte Erinnerungen hätten sich nicht während der Therapie, sondern während eines Urlaubs auf S3 aufgedrängt. In den Behandlungsunterlagen fänden sich keine Hinweise darauf, dass die Erinnerungen in Frage zu stellen seien oder von den behandelnden Ärzten in Frage gestellt worden wären. Es sei die Diagnose einer PTBS gestellt, die gezielt sowie mit Erfolg behandelt worden sei.
Der Beklagte hörte, nach entsprechender Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht, schriftlich die Mutter und die Schwestern der Klägerin als Zeugen.
Die Mutter der Klägerin S4 führte aus, nicht viel beitragen zu können. Persönlich habe sie nie etwas Auffälliges oder Anzügliches gesehen, um einen sexuellen Missbrauch bestätigen zu können. Ihr Schwiegervater habe einen anzüglichen Charakter gehabt, Berührungen gemocht, eher zufällig, aber trotzdem absichtlich. Sie schließe nicht aus, dass er gegenüber der Klägerin übergriffig geworden sei.
Ihre Zwillingsschwester S5 gab an, dass sie in B gewohnt hätten, die Großeltern auf S3. In den Ferien seien sie regelmäßig nach S3 gefahren, außerhalb der Ferien seien die Großeltern ein- bis zweimal im Jahr für drei bis vier Wochen zu Besuch zu ihnen gekommen. Die Wohnung auf S3 sei sehr klein, sodass man auf engem Raum zusammen gewesen sei. Das Haus in B sei dagegen groß gewesen, sodass jeder einen Rückzugsraum gehabt habe. Rückwirkend sei ihr aufgefallen, dass sich ihre Schwester auf S3 oft zurückgezogen habe, wohingegen ihre ältere Schwester und sie viel gealbert hätten. Ihre Schwester habe sich nicht über die Fahrten nach S3 gefreut und auch nicht, wenn ihre Großeltern zu Besuch gekommen seien. Wenn sie am Ende des Besuchs die Großeltern zum Bahnhof gefahren hätten, sei ihre Schwester nie dabei gewesen, habe nie an die Hand des Großvaters gewollt. Rückblickend mache das nachdenklich. Übergriffe oder Taten habe sie nie gesehen oder bemerkt. Obwohl ihr nichts aufgefallen sei, habe sie an der Aussage ihre Schwester keinen Zweifel.
Die ältere Schwester U beschrieb als Kind oft bei den Großeltern auf S4 gewesen zu sein, dies immer als weiteres Zuhause erlebt zu haben. Da sie 7 Jahre älter als ihre Schwestern sei, habe sie die Großeltern eigentlich in guter Erinnerung. Wegen Keuchhustens sei sie im Kleinkindalter vier Monate ohne Eltern auf S3 gewesen. Als die Großeltern auf S3 in eine kleinere Wohnung umgezogen seien, habe sich der Großvater verändert. Es sei zu zufälligen Berührungen gekommen. Bei einer Umarmung zur Begrüßung habe er ihr an den Busen gefasst. Das habe er mehrmals probiert, sie habe dann immer einen so großen Abstand gehalten, dass ihm das nicht mehr gelungen sei. Vorfälle zwischen der Klägerin und dem Großvater habe sie nie gesehen, ihre Schwester habe sich aber immer zurückgezogen, wenn sie auf S3 gewesen seien. Der sexuelle Missbrauch sei sehr gut möglich und vorstellbar.
Der Beklagte veranlasste eine persönliche Anhörung der Klägerin beim LRA. Dort gab diese am 21. Juni 2017 an, dass ihr die erste Erinnerung an einen Missbrauch bei einem Urlaub auf S3 gekommen sei, den sie mit dem Hund einer Freundin verbracht habe. Sie habe sich erinnert, dass sie damals auch die Nähe zu ihrem damaligen Hund gesucht habe. Später sei in diesem Zusammenhang die Erinnerung hoch gekommen, dass ihr Großvater ihr den Rock hochgehoben und in den Schlüpfer gefasst habe. Ihr Vater habe im Türrahmen gestanden. Sie habe erschrocken ihren Schlüpfer wieder hochgezogen, sei aus dem Wohnzimmer gerannt und habe sich zu dem Hund gelegt. Sie sei damals circa sechs Jahre alt gewesen. Später habe sie sich an weitere vorherige und spätere Vorfälle erinnert. Die ersten Vorfälle, an die sie sich erinnern könne, seien in dem Haus in B geschehen. Die Großeltern hätten im Gästezimmer im 1. OG geschlafen. Ihr Großvater sei öfter nachts an ihr Bett gekommen, habe sie über wie unter dem Schlafanzug gestreichelt und sei in ihre Scheide eingedrungen. Danach habe sie manchmal die Nacht auf der Treppe gesessen und geweint. Sie sei circa 4 Jahre alt gewesen. Einmal habe ihre Mutter sie auf der Treppe gefunden und wieder ins Bett gebracht. Später habe ihr Großvater ihr den Mund zugehalten und sie gezwungen, auch ihn anzufassen. Dabei habe er sie öfters im Nacken gepackt. Ihre Hand erscheine ihr in ihrer Erinnerung sehr klein und das Geschlechtsteil von ihrem Großvater riesig. Sie erinnere sich, dass sie das ihrer Zwillingsschwester erzählt habe, die es nicht habe glauben und wissen wollen, ob es weh getan habe. Sie habe ihr eingeschärft, dass sie niemanden etwas erzählen dürfe. Damals sei sie etwa 5 Jahre alt gewesen.
Ihre Großmutter sei plötzlich gestorben, als sie 9 oder 10 Jahre alt gewesen sei. Dann hätten die Übergriffe ihres Großvaters aufgehört, er habe sich in der Zeit sehr verändert. Ihre ältere Schwester habe ihr berichtet, von dem Großvater auch angefasst worden zu sei. Diese habe sich bereits wehren können, sodass es vermutlich nur ein einmaliger Vorgang gewesen sei. Ihre Zwillingsschwester habe ihr gesagt, dass sie niemals von dem Großvater sexuell belästigt worden sei. Sie habe ihr berichtet, dass sie – die Klägerin – sich von dem Großvater distanziert habe. Als sie circa fünf Jahre alt gewesen sei, habe ihr die Großmutter morgens Märchen vorgelesen und sei dann aufgestanden, um Frühstück zu machen. Sie sei dann zu ihrem Großvater ins Bett, der erstmals brutal geworden sei, er habe sie mit Gewalt runtergedrückt und sie gezwungen, seinen Penis in den Mund zu nehmen. Er habe gesagt, das passiere mit Mädchen, wenn sie nicht brav seien und nicht gehorchten.
Sie seien mehrmals im Jahr nach S3 gefahren und hätten im Haus der Großeltern übernachtet. Der Großvater habe keine Gelegenheit ausgelassen ihr nachzustellen. Als sie ganz klein gewesen seien, hätten sie im Zimmer ihrer Eltern auf einer Matratze geschlafen, später dann auf einem Ausziehsofa im Wohnzimmer. Ihre Eltern hätten sie, als sie älter gewesen seien, auch alleine bei den Großeltern gelassen, was für sie fatal gewesen sei. Die Drohung ihres Großvaters habe die ganze Zeit nachgewirkt, sodass sie sich gegen seine Übergriffe nicht gewehrt habe. Sie habe immer Angst gehabt, dass man ihr das ansehen würde. Sie habe sich sehr zurückgezogen und kaum etwas gegessen. Dass sich der Großvater an ihr Bett geschlichen habe, sei oft passiert. Er sei ihr ins Bad gefolgt, dass sie nicht hätten abschließen dürfen. Bei einem Vorfall habe er sich im Bad an die Tür gelehnt, habe sich ausgezogen und sie habe seinen Penis in den Mund nehmen müssen. Ihre Großmutter habe dann nach dem Großvater gerufen. Die ganze Familie sei da gewesen und habe nichts mitbekommen.
Sie habe noch eine Erinnerung an S3 im Sommer. Ihr Großvater habe sie in dem Bett vergewaltigt, in dem normalerweise ihre Mutter geschlafen habe. Sie sei 8 bis 9 Jahre alt gewesen. Er habe plötzlich nackt im Zimmer gestanden, habe sich auf sie gewälzt, ihre Beine auseinandergezogen und ihr den Mund zugehalten. Sie glaube, es sei das einzige Mal gewesen, dass er sie vergewaltigt habe. Als ihre Mutter zurückgekommen sei, habe sie gefragt, was er mit ihr gemacht habe, da sie geweint habe. Ohne die langjährige Therapie hätte sie das alles nicht aussagen, sie hätte kein Wort dazu sagen können.
S6 führte versorgungsärztlich aus, dass die Klägerin seit vielen Jahren unter einer rezidivierenden depressiven Störung leide, ein erster Suizidversuch sei 1995 im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung von ihrem Ehemann nach fünfjähriger Ehe erfolgt. Seit 2000 sei sie in zweiter Ehe verheiratet. Bei zeitweise starkem Kinderwunsch sei sie 2000 nach künstlicher Befruchtung mit Zwillingen schwanger geworden, die sie im dritten Monat verloren habe. Von 2001 bis 2006 oder 2007 sei eine Psychoanalyse im Umfang von 300 Stunden erfolgt. 2003 seien erstmals Erinnerungen an den Missbrauch durch den Großvater hochgekommen, die später klarer geworden seien.
Der sexuelle Missbrauch sei 2003, während der Zeit der psychoanalytischen Behandlung, überhaupt erst erinnert und wenigstens zweimal, 2008 und 2015, erweitert worden. Es falle auf, dass die Klägerin bis auf die Zeit 1995/1996 ausschließlich bei männlichen Psychotherapeuten in Behandlung gewesen sei und gleichzeitig „ältere Männer“ als Trigger der Traumasymptome angebe. Dies möge mit der im Universitätsklinikum H festgestellten histrionischen Persönlichkeitsstörung zusammenhängen. Es bedürfe weiterer Behandlungsunterlagen, die der Beklagte dann beizog.
D legte seine Berichte zu den Anträgen auf analytische Psychotherapie vor:
Im Bericht zum Erstantrag vom 3. Juli 2000 führte er aus, dass die Klägerin im Dezember einen Panikanfall in einem Parkhaus erlitten habe. Seitdem könne sie nicht mehr in Parkhäuser einfahren. In Menschenmengen und Geschäften fühle sie sich ängstlich, vor kurzem habe sie auf einem Fest einen Angstanfall bekommen, als ein alkoholisierter Mann ihr zu nah gekommen sei. Manchmal habe sie riesige Angst vor Einbrechern. Von Februar 1996 bis Juni 1998 sei eine 40-stündige Gesprächstherapie erfolgt.
Die Klägerin habe angegeben, dass ihre Mutter sich über die Zwillingsgeburt nicht gefreut habe und der vor fünf Jahren verstorbene Vater Alkoholiker gewesen sei. Die Beziehung zu ihren beiden Schwestern sei schwierig. Die Schulzeit sei für sie leistungsmäßig unproblematisch verlaufen. Sie seien die süßen Zwillinge mit den langen Zöpfen gewesen. Sie habe aber furchtbar gelitten, wenn ihre Schwester Probleme gehabt habe, mit dem Lesen etwa. Nach der mittleren Reife habe sie eine Ausbildung als Bürokauffrau absolviert, der Beruf mache ihr bis heute Spaß. Inzwischen habe sie eine leitende Funktion in einem Marketingunternehmen. Mit 16 Jahren habe sie ihre erste Beziehung gehabt, mit 21 ihren ersten Mann kennengelernt, den sie mit 26 Jahren geheiratet habe. Deshalb sei sie vom Ruhrgebiet nach M umgezogen. In der Ehe habe es zunehmend gekriselt, der Mann sei 200 Tage im Jahr abwesend gewesen und habe ihr nicht den kleinsten Erfolg gegönnt. Zum ersten Mal seien Angstanfälle in Verbindung mit Phantasien aufgetreten. Nach der Trennung sei es ihr schlecht gegangen, sie habe einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen. Die damals schon laufende Psychotherapie habe sie stabilisiert. Zu dieser Zeit habe sie ihren jetzigen Ehemann kennengelernt.
Die von der Klägerin vermittelten Bilder der Eltern, die schwache, kalte Mutter und der strenge, aber tolle Vater, deuteten auf eine ödipale Konfliktkonstellation hin. Als Lieblingstochter wehre sie negative Gefühle diesen gegenüber ab, entwerte unbewusst die Mutter und befinde sich in einer stark rivalisierenden Position den Schwestern gegenüber. Enttäuschende und bedrohliche Aspekte in der Beziehung zum Vater, die schon wegen dessen Alkoholproblem angenommen werden müssten, würden zu rivalisierenden Positionen den Schwestern gegenüber. Werde die Verdrängungsschranke instabil, träten Panikgefühle auf, deren eigentliche Hintergründe aber unbewusst blieben. Die phantasierten folternden Einbrecher deuteten auf eine gefürchtete Durchbrechung sadistisch-sexueller Impulse hin, möglicherweise seien dahinter verdrängte Erinnerungen und/oder Phantasien eines bedrohlichen Vaters oder einer sich für die Entwertungen rächenden Mutter verborgen.
Aus dem Bericht zum Fortführungsantrag vom 25. September 2001 ergab sich, dass der Klägerin die ausgeprägte Rivalität zu ihrer Zwillingsschwester bewusst geworden sei. Phantasien, in der Wohnung von Einbrechern oder von aggressiven Spinnen überfallen zu werden, seien als Ängste vor der aggressiv erlebten Schwester verstanden worden. Das Bild vom Vater habe sich geändert, als sie ihre Ängste vor dessen Jähzorn in alkoholisiertem Zustand erinnerte. Als schweren, schmerzlichen Schicksalsschlag habe sie die Fehlgeburt im dritten Monat erlebt. Die Schwangerschaft ihrer Zwillingsschwester habe zur Zunahme der Ängste und Anzeichen einer deutlich ausgeprägten depressiven Verstimmung geführt. Eine Thematisierung der offensichtlichen, heftigen Neidgefühle auf die Schwester sei bislang nicht möglich gewesen.
Im Bericht vom 13. Mai 2003 beschrieb D, dass sich der Charakter der Traumbilder geändert habe. Während bislang Tiere im Vordergrund gestanden hätten, seien es jetzt vermehrt Menschen. Die Klägerin habe sich erinnert, wie unbeteiligt und vorwurfsvoll sie ihre Mutter und die Schwester nach ihrem Suizidversuch erlebt habe. Die Bilderflut der Klägerin sei oft nur nachträglich zu ordnen und zu verstehen gewesen.
Am 23. Februar 2004 legte er dar, dass die Klägerin nach einem Sommerurlaub auf S3 zunehmend von Träumen und Phantasien vor und nach dem Einschlafen gequält werde, in denen sie als kleines Mädchen vom Großvater missbraucht werde. Sie wehre sich heftig dagegen, sage, dass dies unmöglich wahr sein könne. Sie sei verwirrt darüber, dass in den Bildern Großvater und Vater nicht klar getrennt werden könnten. Flashartig tauche die Erinnerung auf, dass sie ohne Höschen auf dem Schoß des Großvaters sitze, mit einem karierten kurzen Rock, den sie auf Bildern identifizieren könne. Der Vater stehe in der Tür und schaue böse. Sie spüre Hände zwischen ihren Beinen, träume von Penissen, die ihr in den Mund geschoben würden und von riesigen Spinnen, die über sie kriechen und eine klebrige Flüssigkeit hinterließen. Die Clusterkopfschmerzen hätten zugenommen. Die Klägerin sei in eine suizidale Krise geraten, die Therapiestunden deshalb erhöht worden. Es sei immer wieder Material mit sexuellem Inhalt, von Erinnerungen schwer zu trennende Traumfragmente sowie Urszenenphantasien aufgetaucht. Die Klägerin habe langsam begonnen, die Möglichkeit einer realen Missbrauchserfahrung für sich zu akzeptieren und die suizidale Krise Anfang Januar teilweise überwunden. Sie habe einen wichtigen Zugang zu verdrängten/dissoziierten Inhalten vorwiegend sexueller Art gefunden, welcher die Möglichkeit eines real erlebten Missbrauchs als wahrscheinlich erscheinen ließe. Vieles von dem vorher schwer zu ordnenden Material habe dadurch besser verstanden und teilweise integriert werden können.
W2 gab an, die Klägerin seit 2. November 2011 zu behandeln. Es liege eine komplexe Traumafolgestörung vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit zurückzuführen seien. Die Symptomatik sei als chronifiziert zu betrachten, eine völlige Heilung sei nicht möglich. An der Glaubwürdigkeit der Klägerin hege er keinen Zweifel und halte die Erinnerungen, die meist flashbackartiger Natur seien, nicht für konstruiert oder suggestiv bedingt. Die Schwere der traumaspezifischen Symptomatik lasse keinen anderen Schluss zu, als dass ein früher langandauernder sexueller Missbrauch stattgefunden habe.
Erneut gehört führte S6 aus, dass die Entstehung der Aussage über Träume und Phantasien während einer regressionsfördernden Psychoanalyse durch einen Psychoanalytiker, der einen realen sexuellen Missbrauch für wahrscheinlich halte und dies seiner Patientin – bewusst oder unbewusst – vermittelt haben werde, aus aussagepsychologischer Sicht hoch problematisch sei. Gleiches gelte für die Aussageentwicklung. Die Traumaerinnerung habe zunächst nur fragmentiert in Form von Träumen und Phantasien vorgelegen. Die anfänglichen Zweifel an der Erlebnisbasiertheit der Erinnerungen hätten sich über die Akzeptanz der Möglichkeit zur Gewissheit entwickelt. Parallel dazu habe sich eine real erscheinende Erinnerung, die durch weitere vermeintlich reale Erinnerungen erweitert worden sei, entwickelt. Nach dem Bericht des W2 gebe es jetzt noch hinzugekommene Traumaerinnerungen. Es sei daher nicht mit der erforderlichen relativen Wahrscheinlichkeit von der Erlebnisbasiertheit der Erinnerung an den sexuellen Missbrauch durch den Großvater väterlicherseits auszugehen.
Die Klägerin legte eine Stellungnahme des D vor, wonach es keine Frage sei, dass vor allem in Phasen der Behandlung, die sich durch stark regressive Prozesse auszeichneten, den in einer Psychotherapie mitgeteilten Erinnerungen große Vorsicht entgegengebracht werden müsse, was deren Realitätsgehalt angehe. Man bewege sich nur im Bereich einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Diesem Verständnis von Wahrscheinlichkeit folgend, bleibe er bei seiner damaligen Einschätzung, wonach die Möglichkeit eines real erlebten Missbrauchs wahrscheinlich sei. Mit „real erlebtem Missbrauch“ meine er ein der besonderen Problemlage Rechnung tragendes hohes Maß an Wahrscheinlichkeit, dass die berichteten Vorkommnisse keine reinen Phantasieprodukte seien. Die Thematik eines möglichen sexuellen Missbrauchs sei erst im fortgeschrittenen Verlauf der Therapie aufgetreten und keineswegs von Beginn an von ihm in Erwägung gezogen worden sei. Auf einen Missbrauch hindeutende Traum- und Vorstellungsinhalte hätten sich in fragmentierter Form gezeigt, da typischerweise dissoziative Prozesse bzw. für die Patientin notwendige Abwehrvorgänge eine wesentliche Rolle spielten. Er habe der Klägerin keinen realen sexuellen Missbrauch vermittelt. Es sei eine Grundregel psychotherapeutischen Handelns, in Fällen realer oder fraglich realer sexueller Gewalt, nicht suggestiv auf die Patienten einzuwirken. Die von der Klägerin über Monate immer wieder berichteten Erlebnisinhalte in Form von qualvollen Traumszenen, Erinnerungen, Phantasien und Vorstellungen, die er nur beispielhaft wiedergegeben habe, hätten ihn zu der Einschätzung gebracht, dass die Wahrscheinlichkeit eines real erlebten Missbrauch als hoch einzustufen sei.
S6 hielt an ihrer Einschätzung fest und betonte, dass sie nicht den Eindruck habe vermitteln wollen, dass der Klägerin der sexuelle Missbrauch eingeredet worden sei.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2018 zurück. In der Gesamtschau könne nicht von der Erlebnisbasiertheit der Erinnerungen ausgegangen werden. Der gesetzlich geforderte Nachweis eines Tatbestandes im Sinne des § 1 OEG sei daher nicht erbracht.
Am 12. März 2018 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat zum einen die aussagepsychologische Stellungnahme der S6 vorgelegt. Diese hat eine intentionale Falschaussage verneint und darauf verwiesen, dass für die Prüfung einer irrtümlichen Falschaussage (Schein-erinnerungshypothese) die Inhaltsanalyse nicht geeignet sei. Es sei empirisch belegt, dass sich suggestionsbasierte Aussagen in ihrer inhaltlichen Gestalt nicht von erlebnisbasierten Schilderungen unterschieden. Eine irrtümlich falschaussagende Person sei psychologisch nämlich in der gleichen Situation wie eine, die einen Erlebnisbericht erstatte. Zur Prüfung der Suggestationshypothese sei auf die Aussagegeschichte abzustellen, um die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, mit der es zu Gedächtnisrepräsentationen und in der Folge zu Angaben gekommen sein könne, die zwar subjektiv für reale Erinnerungen gehalten würden, objektiv aber (zum überwiegenden Teil) aus erlebnisfernen Inhalten bestünden. Die aussagende Person unterläge in diesem Fall einem Quellenverwechslungsfehler, in dem sie Inhalte, die aus fiktiven Quellen stammten, mit vergessen geglaubten „Erinnerungen“ verwechsle.
Die Darstellung der Klägerin, dass Missbrauchserlebnisse grundsätzlich nicht wie andere Erinnerungen abgespeichert und abgerufen werden könnten, Kinder daher Erinnerungen an Missbrauchsgeschehen zwangsläufig abspalteten, verdrängten oder vergessen würden, um damit zu leben, sei nicht zutreffend. Auf einem psychologischen Missverständnis beruhe zudem die Annahme, Kinder würden aus vom Täter induzierter Angst heraus die Dinge, die nicht sein dürften, vergessen. Die Fähigkeiten von Kindern zur Geheimhaltung unterlägen einem komplexen entwicklungspsychologischen Prozess, über den längst nicht alles wissenschaftlich verstanden sei. Als sicher gelte, dass ein forciertes Vergessen in der Regel zu nachhaltigerem Erinnern führe. Werde eine Person zur Geheimhaltung aufgefordert, führe dies in der Regel zu einer verstärkten Elaboration der Gedächtnisinhalte und damit zu einer vertieften Speicherung.
Ebenso wenig wie aus Wiedererinnerungen zwingend geschlussfolgert werden könne, dass diese ohne Erlebnisgrundlage seien, sei der Rückschluss bestimmter Symptombildungen oder die subjektive Plausibilität von konkreten Vorstellungsbildern geeignet, eine zugrunde liegende Ereignisebene zu beweisen.
Es werde nicht in Abrede gestellt, dass die Klägerin ein Krankheitsmodell entwickelt habe, in dem ihre aktuelle Symptomatik plausibel als posttraumatische Symptombildung einer sexuellen Traumatisierung im Kindesalter erklärbar werde und dass es einen sexuellen Missbrauch durch den Großvater gegeben haben könnte. Die Aussagegenese, auch wenn die eigentliche „Geburtsstunde“ der Aussage außerhalb der Therapiestunde gelegen habe, und die weitere Aussageentwicklung beinhalteten die wesentlichen Risikofaktoren für die Entstehung von Scheinerinnerungen. Das Hineinreichen der fraglichen Vorfälle in die frühesten Kinderjahre, das entsprechend lange Behandlungsintervall von mehr als 30 Jahren sowie der empirische Befund, dass Kinder reproduzierbare sprachliche Narrative nur dann ausbilden und abspeichern könnten, wenn sie diese bereits zeitnah in Worte hätten fassen könnten, ihnen also schlicht jemand zugehört habe, führe zu der Beurteilung, dass hier besonders viel für die Möglichkeit einer irrtümlich erlebnisfernen Aussage spreche.
Die Aussagen der Mutter und der Schwestern, die einen sexuellen Missbrauch für möglich hielten, ohne eigene Beobachtungen schildern zu können, seien nicht trennscharf im Hinblick auf die Möglichkeiten einer erlebnisbasierten und Abgrenzung zur suggestionsbasierten Aussage. Denn die Plausibilität eines bestimmten Fehlverhaltens bei einer konkreten Person erhöhe nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person tatsächlich das entsprechende Fehlverhalten gezeigt habe. Sie erhöhe gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Erinnerungsfehler,- irrtümer und autosuggestive Prozesse über die fraglichen Handlungen ausgestalteten und als subjektiv reale Erinnerungen übernommen würden. Empirisch sei belegt, dass Falschinformationen umso eher übernommen würden, je passender sie sich in das Denkschema der betroffenen Person einfügten.
Das therapeutische Setting als solches, insbesondere tiefe regressive Prozesse beförderndes analytisches Setting, wirke als aktive Komponente auf eine Patientin ein, die sich aufgrund ihrer zur Behandlung führenden Beschwerdesymptomatik nicht nur in einem psychologischen Mangelzustand (passive Komponente der Suggestion) befinde, sondern in der therapeutischen Situation auch mit einem „Experten“ konfrontiert sei, dessen Haltung auf den eigenen Reflexionsprozess selbstverständlich Einfluss habe. Die Darlegungen des D deuteten darauf hin, dass er im abstinenten psychoanalytischen Setting durch eine gleichbleibend wohlwollende und annehmende Haltung in den sich bei der Klägerin vollziehenden Reflexionsprozess zumindest nicht korrigierend bzw. kritisch reflektierend eingegriffen habe. Jede der insgesamt 300 Therapiestunden habe die Abrufbarkeit der entsprechenden Gedächtnisrepräsentationen, ihre Lebendigkeit und ihre Plausibilität erhöht, auch ohne konkretes suggestives Einwirken von Seiten des Therapeuten.
Es sei nachvollziehbar, dass der Klägerin die eigenen Gedächtnisrepräsentationen umso plausibler erschienen, als sie bestimmte Dinge aus den Rahmenumständen der damaligen Familie beinhalteten. Aus aussage- und gedächtnispsychologischer Sicht sei dies aber kein Unterscheidungskriterium zwischen Falscherinnerungen und erlebnisbasierten Erinnerungen, denn auch bei suggestionsbasierten Scheinerinnerungen sei eine Verknüpfung mit realen Details eher die Regel als die Ausnahme.
Es sei keine Differenzierung möglich zwischen kontinuierlich vorhandenen Erinnerungen, zwischenzeitlich vergessenen wie korrekt wiedererinnerten Gedächtnisinhalten und nachträglich gebildeten Vorstellungsbildern, die mit vergessen geglaubten „Erinnerungen“ verwechselt würden. Da der prinzipielle Erkenntnisgewinn einer inhaltsorientierten Qualitätsanalyse durch die Aussagegeschichte bereits invalidiert sei, könne durch eine zukünftige persönliche Exploration der Klägerin kein richtungsweisendes, anderes Ergebnis mehr erlangt werden.
Zum anderen hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme der T vorgelegt: Den Angaben der Mutter der Klägerin sei zu entnehmen, dass diese nie etwas Auffälliges oder Anzügliches gesehen habe, um einen sexuellen Missbrauch bestätigen zu können. Aus deren Schilderung, ihr Schwiegervater habe einen anzüglichen Charakter gehabt, könne nicht auf einen tatsächlichen sexuellen Missbrauch geschlossen werden. Entsprechendes gelte für die Angaben der Schwestern. Diese erwähnten nicht, dass sich die Klägerin ihnen anvertraut habe. Der sexuelle Missbrauch könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden.
Nach den Unterlagen sei von 1996 bis 1998 eine 40-stündige Gesprächstherapie durchgeführt worden, die im Zusammenhang mit einer Trennungskrise gestanden habe. Der Erstantrag zur analytischen Psychotherapie beschreibe bei der Klägerin im Dezember 1999 einen Panikanfall in einem Parkhaus und nachfolgend weitere Angstanfälle. Der erste Suizidversuch habe im Rahmen der Trennungskrise stattgefunden. Diese Gründe für die körperliche und psychische Verfassung der Klägerin seien nicht auf OEG-relevante Ursachen zurückzuführen. Ursachen von Angsterkrankungen seien multifaktoriell. Es bestünden sowohl genetische, als auch neuro-biologische und psychische Faktoren. Traumatische Kindheitserlebnisse könnten ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Angststörung sein, hieraus erlaube sich aber nicht der Rückschluss von einer bestehenden Angststörung auf einen sexuellen Missbrauch.
Die Klägerin ist den Darlegungen entgegengetreten und hat eine weitere Stellungnahme des D vorgelegt. S6 sei darin zuzustimmen, dass die settinginduzierte Regression als aktive Komponente einwirke, was auf deren Reflexionsprozess Einfluss habe. Zu Unrecht werde eine fehlende professionell-kritische Haltung bemängelt. Mit der Klägerin seien Probleme hinsichtlich des Realitätsgehaltes von Erinnerungen besprochen worden. Angesichts des schwer depressiven Zustands habe er eine gleichbleibend wohlwollende und annehmende Haltung einnehmen müssen. Der „quälende innere Zweifel“ der Klägerin bezüglich des Realitätsgehaltes ihrer Erinnerungen sei keineswegs Anlass gewesen, mehr oder weniger subtil auf sie dahingehend einzuwirken, dass es schon seine Richtigkeit habe von realen Geschehnissen auszugehen, sondern dessen Hintergründe zu verstehen. Seine Einschätzung einer hohen Wahrscheinlichkeit des sexuellen Missbrauchs gründe sich auf einem die Therapiestunden begleitenden Abwägens. In einem über viele Stunden sich erstreckenden Prozess bilde sich ein aus verschiedenen Quellen speisender Eindruck, von dem man wisse, dass ihm keine absolute Gewissheit, sondern nur eine mehr oder große Wahrscheinlichkeit zukomme.
W2 hat eine Behandlung seit dem 2. November 2011 beschrieben. Die Haltung eines jeden professionellen Psychotherapeuten sei von parteilicher Abstinenz geprägt, d.h. die Erinnerung der Patientin an die traumatischen Erfahrungen werde zunächst nicht in Frage gestellt, was aber keineswegs bedeute, dass die Sichtweise kritiklos übernommen werde. In der Therapie auftauchende, sogenannte recovered memories seien weder grundsätzlich unzuverlässig, noch aber unbedingt zutreffend. Patienten würden im Therapieprozess generell bei der Rekonstruktion ihrer persönlichen Geschichte unterstützt, ohne sie dabei in eine bestimmte Richtung zu drängen bzw. suggestiv vorzugehen. Traumabezogene Erinnerungen, wenn sie einer expliziten Erinnerung noch zugänglich seien, äußerten sich häufig in Form unterschiedlicher Symptome, wie Albträumen, als Reizinszenierungen im Verhalten oder als körperliche Symptome. Komplexe Inszenierungen innerhalb und außerhalb der Therapie könnten diagnostisch als Hinweis auf die verborgene, zum Teil der Amnesie unterliegende Realgeschichte der Traumatisierung verstanden werden. Erinnerungen, die auf ein Realtrauma zurückgingen seien von einer anderen Qualität als durch Suggestion entstandene Erinnerungen. Reale Traumaerinnerungen lägen meist fragmentiert vor, ohne zeitliche und kontextbezogene Einordnung und würden oft auf mehreren Sinneskanälen erlebt. Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung berücksichtige in der Regel diese Befunde nicht. Die klassischen sogenannten Realitätskriterien der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beruhten im Wesentlichen auf der normalpsychologischen Gedächtnisleistung und würden den Besonderheiten von traumatischen Erinnerungen nicht gerecht. Häufig würden bei Erinnerungen an Missbrauchs- und Misshandlungserlebnisse in der Kindheit zutreffende, d.h. validierbare Elemente und solche, die sich als unzutreffend herausstellten, vermischt. In den meisten Fällen treffe aber ein wahrer Kern zu, wie z.B. die Missbrauchserfahrung selbst. Eine wissenschaftliche Untersuchung lege nahe, dass die Genauigkeit der Erinnerung bei einem Teil der Patienten bei fortgeschrittener Psychotherapie im Vergleich zu den ersten drei Monaten zunehme. Wieder verfügbare Erinnerungen, für die sich im Nachhinein externe Evidenz finden lasse, träten häufiger in Therapiesitzungen auf, in denen die Beziehung zum Therapeuten von den Patienten als positiv erlebt werde. Vor diesem Hintergrund halte er die Wahrscheinlichkeit, dass die immer wieder auftauchenden Kernerinnerungen der Klägerin, nämlich der sexuelle Missbrauch selbst, auf realen Begebenheiten beruhten, für weitaus höher als die Annahme, dass diese möglichweise auf Suggestionseffekten beruhen könnten. Die versorgungsärztlichen Stellungnahmen berücksichtigten fundamentale Erkenntnisse der Psychotraumatologie nicht und seien daher falsch.
Anschließend hat das SG von Amts wegen das psychologische Sachverständigengutachten der B2 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 25. Juni 2020 erhoben. Diese hat ausgeführt, dass die Glaubhaftigkeit der zu prüfenden Aussage selbst im Zentrum der Begutachtung stehe. Anzuwendender Beweismaßstab sei die Glaubhaftmachung, also ob sich die vorliegende Aussage mit relativer Wahrscheinlichkeit auf eine Erlebnisbasis stützen lasse.
Den Angaben der Klägerin sowie der Aktenlage sei zu entnehmen, dass sie schon seit ihrer Jugend an deutlichen psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen gelitten habe, die ab 1995 immer wieder ambulant und stationär behandelt worden seien. Mehrfach werde eine dissoziative Störung beschrieben. Die angegebenen Ereignisse lägen schon mehrere Jahrzehnte zurück, sodass sich Probleme beim Gedächtnisabruf von Erinnerungsinhalten aufgrund von gedächtnispsychologisch zu erwartenden Vergessensprozessen ergeben könnten. Weiter gebe die Klägerin eine langjährige Amnesie hinsichtlich der geltend gemachten traumatischen Erfahrungen an, sodass sich die Frage nach einer relevanten Einschränkung ihrer spezifischen Aussagetüchtigkeit stelle. Vor dem Hintergrund des jahrelangen Nichterinnerns und des plötzlichen Auftretens sachbezogener Erinnerungen stehe die Validität der Angaben in Frage.
Zu ihren persönlichen Verhältnissen habe die Klägerin angegeben, mit ihrem jetzigen Ehemann seit 20 Jahren verheiratet zu sein und eine 135 qm große Maisonette-Wohnung zu bewohnen. Die Ehe sei kinderlos. Ihr Ehemann arbeite in Vollzeit, sie an vier Tagen die Woche für insgesamt 20 Stunden als Personalsachbearbeiterin. Ihr Ehemann sei Bankkaufmann, finanziell seien sie abgesichert, hätten keine Schulden und keine anderweitigen finanziellen Nöte. Ihre besten Freunde seien andere Mieter in dem Haus, die ebenfalls keine Kinder hätten, aber Tiere. Sie passten gegenseitig auf diese auf. Sie selbst habe zwei Nymphensittiche und zwei Pflegepferde, mit denen sie viel Zeit draußen verbringe. Mit den Nachbarn träfen sie sich an den Wochenenden, kochten öfters gemeinsam. Ihr Ehemann treffe sich mit Kollegen, sie selbst mit Freunden aus ihrem Reitverein. Sie gehe auch gerne ins Kino.
Morgens nach dem Aufstehen dusche sie sich und frühstücke. Ihr Mann stehe normalerweise nach ihr auf, da er später mit der Arbeit anfange. Sie selbst arbeite von 8.30 Uhr bis 14.30 Uhr, sie empfinde die Arbeit als stressig, insbesondere, da sie zu viert in einem Büro seien. Mehr als fünf Stunden am Tag könne sie nicht arbeiten, danach sei sie erschöpft. Nach ihrer Arbeit fahre sie nach Hause und benötige eine Pause. Von 18.00 Uhr bis 19.30 Uhr sei sie bei den Pferden, danach esse sie mit ihrem Mann gemeinsam zu Abend. Abends würden sie sich manchmal mit Freunden treffen, gingen gemeinsam ins Kino oder zum Essen.
Die Klägerin habe angegeben, weiter unter dissoziativen Zuständen zu leiden, z.B. in der S-Bahn, wenn sie einen bestimmten Geruch wahrnehme oder Atmen an ihrem Ohr höre. Sie weise dann einen Tunnelblick auf und bemerke, dass sie plötzlich im Büro sei. Diese Symptomatik sei ihr richtig erst während der Arbeit aufgefallen, mit ungefähr 24 oder 25 Jahren das erste Mal. Je nachdem, wie stark überlastet sie gewesen sei, sei es fast jeden Tag vorgekommen. Zu dieser Zeit sei ihr das Trauma aber schon bewusst gewesen. Es seien ihr Sachen aus der Hand gefallen, teilweise habe sie nicht mehr gewusst, wo sie gewesen sei. Sie sei dreimal in Folge von ihrem Pferd gefallen und habe an epileptische Anfälle geglaubt. Heute sei ihr der Zusammenhang klar. Diese dissoziativen Zustände beeinträchtigten sie im Alltag sehr. Sie erkenne Trigger oder deren Kombination nicht immer. Sie habe allgemein Probleme mit Menschenmengen, da dann viele sensorische Eindrücke auf sie einströmten. Unabhängig von den dissoziativen Zuständen sei ihre Konzentration ein sehr großes Problem. Nachts liege sie oft bis 3.00 Uhr wach. Sie habe Angst im Dunkeln und sei sehr unruhig. Manchmal könne sie gar nicht einschlafen. Schon als Kind habe sie diese Angst und Ängste vor unbekannten Geräuschen gehabt.
Es gebe Phasen, in denen sie schlimme Albträume habe. Klare Bilder von dem, was sie erlebt habe, habe sie nur in Form von Wacherinnerungen. In ihren Albträumen werde sie verfolgt und verbrannt, könne nicht entkommen. Sie träume von Autounfällen oder, dass sie als Kind in der Wüste zurückgelassen werde. Sie sei auch schon in einem See ertrunken und habe Spinnen auf ihrem Körper gehabt. Als Kind habe sie von Insekten geträumt. Zu ihrem Zusammenbruch sei es gekommen, nachdem sie sich von ihrem ersten Mann getrennt habe und erstmals in ihrem Leben alleine gewesen sei. In ihrer Ursprungsfamilie habe sie mit ihren zwei Schwestern gelebt, sei nie alleine gewesen. Sie habe die Schule besucht, eine Ausbildung absolviert, Jobs wahrgenommen und berufliche Erfolge erzielt. Es sei eine spannende Zeit gewesen. Als sie nach M gezogen sei, habe sie eine Stelle als Assistentin der Geschäftsführung gehabt, es sei dort toll und spannend gewesen.
„Anders“ gefühlt habe sie sich schon mit 18 oder 19 Jahren. Die anderen hätten sich freuen und loslassen können, seien einfach locker gewesen. Ihre Schwester habe ihr immer den Unterschied widergespiegelt und zu ihr gesagt, dass sie nicht immer so ernst sein solle. Ekel habe sie schon als Kind empfunden, z.B. keinen Fisch mehr gegessen, im Nachhinein wisse sie jetzt, was da passiert sei. Es sei ihr schwergefallen, mit der ganzen Familie zu essen. Es gebe für sie ein Leben vor und eins nach dem Zusammenbruch. Sie wünsche sich oft ihr altes Leben zurück. Der erste Suizidversuch sei aus einem Reflex heraus geschehen. Wenn sie in Panik gerate, verliere sie ihre Stimme. Als Kind sei sie teilweise tagelang stimmlos gewesen. Als Dozentin habe sie von einer Sekunde auf die nächste nicht mehr sprechen können.
Befragt zu psychotherapeutischen Behandlungen habe die Klägerin geschildert, schon vor 1995 in Therapie gewesen zu sein. Dort sei die Frage aufgekommen, warum sie nicht klar Stellung zu sich beziehen könne. Sie habe die Therapie noch zu Ende geführt, dann sei ihre Therapeutin umgezogen. Es sei ihr danach aber nicht langfristig besser gegangen. Damals habe sie noch Tennis gespielt und sich positiv motivieren können. Die Psychoanalyse habe sie 2003 angefangen. Anfänglich sei es in der Behandlung um ihre Familie gegangen und darum, was ihre Albträume bedeuteten und wo diese herkommen könnten, ob es Tagesreste seien. Es sei um die Beziehung zu ihren Eltern und ihren Schwestern gegangen, weiter seien die Fehlgeburt und der Suizidversuch thematisiert worden. Sie habe unter Symptomen gelitten, die nur schwer auszuhalten gewesen seien, sie habe es aber nicht benennen können. Es sei ihr nur schlecht gegangen. Nach einer 13-wöchigen stationären Therapie habe sie bei W2 eine Traumatherapie begonnen.
Zu den inkriminierten Handlungen habe die Klägerin angegeben, dass sie in der Erinnerung, die sich als erstes bei ihr eingestellt habe, sehe, wie sie als ungefähr Sechsjährige in dem Wohnzimmer ihrer Großeltern auf S3 vor ihrem Großvater stehe, der auf der dortigen Couch sitze. Ihr Großvater greife ihr unter den karierten Rock, in ihren Slip und an ihre Scheide. Dabei ziehe er ihren Slip ein wenig herunter. Sie stehe da wie erstarrt und mache nichts. Sie blicke nach rechts und sehe ihren Vater im Türrahmen stehen. Sie erschrecke sich und ziehe ihren Slip hoch. Sie renne an ihrem Vater vorbei in den Flur und zu ihrem Hund. Sie sehe das Gesicht ihres Vaters, wobei er ihr das Gefühl vermittle, dass er sauer auf sie sei. Ihr Großvater sei bei ihnen zu Hause immer wieder zu ihr ins Zimmer gekommen und habe sich an ihr Bett gesetzt. Sie habe sich schlafend gestellt und nicht geatmet. Sie höre den Atem des Großvaters bis heute. Dieser fasse sie an ihrem Bein an. Im Laufe der Zeit habe er sie erst über ihrem Schlafanzug angefasst, später auch darunter, dann unter ihren Slip und bei einem weiteren Mal sei er mit den Fingern in sie eingedrungen.
In einer weiteren erinnerten Szene habe ihre Großmutter ihr morgens noch ein Märchen vorgelesen, während sie bei ihren Großeltern in dem Gästezimmer in B gewesen sei. Die Großmutter habe dann den Raum verlassen und sie selbst sei zu ihrem Großvater in das Bett gekrochen. Ihr Großvater habe dann ihren Kopf festgehalten und unterhalb der Decke nach unten auf seinen Penis gedrückt. Sie habe gesagt, dass sie das nicht wolle. Er habe dennoch weiter gemacht und sich zwischenzeitlich ausgezogen. Sie habe gedacht, dass sie ersticke. Sie erinnere noch den Geruch und die Schamhaare ihres Großvaters in ihrem Gesicht, was ekelhaft für sie gewesen sei. Ihr Großvater habe noch zu ihr gesagt, dass sie dies öfter machen müsse, wenn sie darüber nicht schweige. Sie sei danach in das Badezimmer gegangen, habe ihre Hände angesehen und befürchtet, dass man ihr das Geschehene ansehen könne.
Dass sie ihren Großvater habe oral befriedigen müsse, sei einmal auf S3 gewesen. Während sie bei dem ersten Mal noch nicht in der Schule gewesen sei, sei sie bei dem anderen Mal schon Schulkind gewesen sei. Die Familie sei vom Strand zurückgekommen. Sie sei im Badezimmer gewesen und habe einen dunkelblauen Badeanzug mit gelben Rand am Träger angehabt. Ihr Großvater sei hereingekommen, sie habe mit dem Rücken zur Toilette, er mit dem Rücken zur Tür gestanden. Er habe dann wortlos ihren Badeanzug heruntergezogen und sie überall angefasst. Dann er habe er seine Hose geöffnet und sie gezwungen, seinen Penis in den Mund zu nehmen. Sie habe sich dabei furchtbar geekelt. Er habe ihren Kopf festgehalten und sie habe das Gefühl gehabt zu ersticken. Dann höre sie ihre Großmutter nach dem Großvater rufen. Dieser habe sich daraufhin hastig angezogen und sich aus dem Badezimmer herausgeschlichen. Sie habe danach bei dem gemeinsamen Frühstück nichts essen können. Seitdem habe sie Fisch nicht mehr gemocht.
Bei einem weiteren Vorfall sei sie ungefähr 8 oder 9 Jahre alt gewesen. Sie habe in dem Bett ihrer Mutter bei den Großeltern auf S3 gelegten. Wo ihre Familie gewesen sei, wisse sie nicht. Ihr Großvater sei vollkommen nackt in das Zimmer hereingekommen, habe die Rollos heruntergelassen und sich hinter sie auf die Bettdecke gelegt. Dann habe er die Bettdecke weggezogen und sich auf sie gelegt. Sie habe das Gefühl gehabt, erdrückt zu werden. Sie sehe, dass ihre Augen weit aufgerissen gewesen seien, da sie die Szene von außen beobachte. Ihr Großvater habe ihr dann die Beine auseinandergerissen und sei in sie eingedrungen. Dann sei sie weg gewesen, sie meine, dass sie dissoziiert sei. Danach sei ihre ganze Familie in die Wohnung zurückgekehrt. Ihre Mutter habe gefragt, was ihr Großvater mit ihr gemacht habe. Sie selbst habe nur geweint und als Erklärung gesagt, dass sie Bauchschmerzen habe.
Zur Aussagegenese habe die Klägerin beschrieben, zu der Zeit des Wiedererinnerns in psychoanalytischer Behandlung gewesen zu sein. Sie sei mit dem Hund von Freunden in den Urlaub nach S3 gefahren. Sie sei davor auch immer wieder einmal dorthin gefahren, mit ihrem Mann, auch den Freunden und deren Hund. Sie habe anfangs schon das Gefühl gehabt, dass sie einen Hund neben sich im Bett kenne. Dann sei, am Anfang des Urlaubs, das erste Bild aufgetaucht. Es sei eine Hand an ihrem Oberschenkel gewesen. Sie habe einen Kinderoberschenkel gesehen und einen karierten Rock. Das Bild sei im Halbschlaf oder beim Wachwerden gekommen und sei einfach da gewesen. Dieses Bild habe sie dann öfter gesehen, was schwer auszuhalten gewesen sei. Als sie es für sich zugelassen habe, seien noch andere Bilder gekommen. Die neuen Bilder seien dann die Gesichter ihres Großvaters und ihres Vaters gewesen. Sie habe gewusst, dass es zusammengehöre, es aber nicht wahrhaben wollen. Es sei für sie so furchtbar gewesen, dass sie gedacht habe ihre Welt zerbreche. Alles auf S3 sei vorher für sie positiv gewesen. Heute wisse sie, dass es nicht nur einmal passiert sei. Ihr Großvater habe sie schon angefasst, als sie 4 Jahre alt gewesen sei. Er habe sie massiv unter Druck gesetzt, dass sie sich nicht getraut habe, etwas zu sagen. Sie habe sich gegen die Bruchstücke gewehrt, innerlich aber gewusst, dass es gestimmt habe. Sie habe Beweise gesucht und ihre Mutter nach dem karierten Rock gefragt. Als die Erinnerungen klarer geworden seien, habe sie auch gefragt, wie es im Wohnzimmer ausgesehen habe, wo die Couch ihrer Großeltern gestanden sei. Die Erinnerungen seien nach und nach gekommen. Ihre Mutter habe das dann bestätigen können.
Aus dem einzelnen Bild sei eine Abfolge geworden, wobei der Kern immer gleich geblieben sei. Sie wisse, was damals passiert sei. Ihr Vater habe es gesehen. Es sei dann auf einmal das gesamte Geschehen gekommen. Sie glaube, dass sie zu diesem Zeitpunkt alleine zu Hause gewesen sei. Sie habe diese Bilderfolge gesehen und versucht, ihren Alltag aufrecht zu erhalten. Als das Bild hochgekommen sei, habe sie in der Therapie erzählt, dass es ihr schlecht gehe, aber nicht so klar was sie quäle, dieses Wachbild.
Es seien Puzzleteile dazugekommen, manchmal habe sie sofort den gesamten Erinnerungsfilm vor sich gesehen. Irgendwann habe sie gewusst, was passiert sei, aber nicht, dass da noch so viel dazukomme. Sie habe gedacht, dass es der einzige Übergriff gewesen sei. Sie habe sich gefragt, wie ihr Vater am Türrahmen habe lehnen können, ohne ihr zu helfen. Sie habe sich zu Hause Bilder angesehen und aufgeschrieben, was es mit ihr mache. Bei dieser gedanklichen Beschäftigung sei ihr manches klarer geworden.
Sie habe unter Depressionen gelitten und dem Gefühl, dass es ein Leben davor und danach gebe. Sie habe sich als Opfer gefühlt, ihre heile Familie sei nicht mehr ihre heile Familie gewesen. Sie habe sich dafür geschämt, was passiert sei. Es sei dann zu einem zweiten Suizidversuch gekommen. Während der stationären Traumtherapie hätten sie untereinander nicht über ihre Missbrauchserfahrungen sprechen dürfen. Sie habe sich mit anderen Opfern nur über ihre Symptome und Skills ausgetauscht, mit ein bis zwei Mitpatientinnen auch inhaltlich. Sie hätten sich Zahlen der Kriminalstatistik angeschaut, wonach ein Missbrauch häufiger vorkomme.
Die Klägerin habe ihre Mutter und ihren Schwestern damit konfrontiert, die aber entgegnet hätten, nie etwas mitbekommen zu haben. Ihre Mutter habe ihr gesagt, dass sie das nie geduldet hätte. Sie meine aber, dass es doch offensichtlich gewesen sei, weil sie ja nachts auf der Treppe gesessen und die ganze Nacht geweint habe.
Während der Traumatherapie seien mehr Bilder gekommen, immer außerhalb der Sitzungen im Alltag. Meistens seien diese durch Auslöser getriggert worden. Sie könne sich erinnern, dass ihr Großvater an ihrem Bett gesessen habe und sie in seinem Bett gewesen sei. Es sei auch in dem Badezimmer ihrer Großeltern passiert. Es sei die Zeit zwischen ihrem 4. und 9. Lebensjahr gewesen. Teilweise habe sie sich alte Bilder angesehen und ihre Mutter gefragt, ob ihre große Schwester mitgefahren sei oder nicht, ob Schulferien gewesen seien oder nicht. Sie glaube nicht, dass sie alles erinnere, was vorgefallen sei. Sie erinnere ungefähr sechs bis sieben Szenen. Sie habe dann die Wochen gezählt, die sie Urlaub gehabt und die Großeltern gesehen hätten. Sie habe das hochgerechnet und sei so ungefähr auf 50-mal gekommen. Die letzte Erinnerung sei im Sommer 2014 gekommen, vollkommen losgelöst von irgendetwas. Es habe lange gedauert, bis eine ganze Geschichte daraus geworden sei, sie habe realisiert, dass ihr Großvater sie vergewaltigt habe. Sie habe viele Bilder gemalt, die damit zusammenhingen. Ein Bild stelle einen beschützten Kern dar. Es gebe einen feuerspeienden Drachen, der ein Befreiungssymbol für sie sei. Dann habe sie ein aufgespaltenes Kind gemalt, es sei ein furchtbar dunkles Bild.
Bei der Untersuchung hätten sich Psychomotorik und Antrieb regelrecht gezeigt. Die Klägerin sei in der Kommunikation aufgeschlossen und kooperativ gewesen, ein dissoziatives Wegtreten nicht zu beobachten. Prinzipielle Einschränkungen kognitiver Fähigkeiten hätten nicht eruiert werden können. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite hätten in der mehrstündigen Untersuchung nicht bestanden, ebenso keine Anzeichen für eine akute schwere psychiatrische Störung.
Das rezidivierende depressive Beschwerdebild mit suizidalen Krisen begründe keinen grundsätzlichen Ausschluss der allgemeinen Aussagetüchtigkeit, sondern sei im Rahmen der Aussagequalität der konkreten Sachaussage, gegebenenfalls als moderierender Faktor zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Speicher- und Gedächtnisfunktion hätten sich nur punktuelle Einschränkungen gezeigt.
Hinsichtlich der spezifischen Aussagetüchtigkeit sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin angebe, bis zum Alter von circa 40 Jahren keine Erinnerungen mehr an den fraglichen sexuellen Missbrauch gehabt zu haben. Die Erinnerungen daran hätten sich vielmehr erst im Rahmen eines Flashbackerlebens eingestellt und parallel zu späteren therapeutischen Interventionen weiter differenziert. Zusätzlich habe sie berichtet, dass es sich lediglich um einzelne Bilder und Bildabfolgen handele, ohne dass sie über einen Erinnerungsfilm mit einem Vorher und einem Nachher verfüge. Forschungsergebnisse zeigten, dass entsprechende „Flashback-Erinnerungen“ nicht zwangsläufig tatsächlich Erlebtes wiedergäben. Vielmehr könne es sich bei den Erinnerungsfragmenten um eine Mischung aus realen, befürchteten und vorgestellten Elementen handeln. Die Klägerin erlebe die einzelnen Bildsequenzen teilweise aus einer Position außerhalb ihres eigenen Körpers, woraus Zweifel an einer realitätsangemessenen Wahrnehmung zum möglichen Geschehenszeitpunkt folgten. Bei den sexuellen Missbrauchshandlungen handele es sich um Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse, sodass Abrufschwierigkeiten hinsichtlich hierauf bezogener Erinnerungen zu erwarten seien.
Die vorliegenden Anknüpfungstatsachen zum Prozess der Wiedererinnerns und der therapeutischen Bearbeitung indizierten die Prüfung der Validität der vorgetragenen Aussage, d.h. die Betrachtung des Zustandekommens der Angaben, deren Entwicklung im zeitlichen Verlauf und die möglicherweise wirksamen externen und internen Störfaktoren, insbesondere in Form von fremd-und/oder autosuggestiven Prozessen. Die Erinnerungslücke zwischen den möglichen Übergriffen und der sich erst später einstellenden Erinnerung könne gedächtnispsychologisch nur schwer erklärt werden.
Vielmehr hätten empirische Untersuchungen gezeigt, dass grundsätzlich extrem stressreiche Ereignisse oder mit hoher affektiver Intensität prinzipiell besser behalten und besonders dauerhaft erinnert würden, oft stellten sich diese Erinnerungen sehr detailliert dar, sich also nicht bruchstückhaft und der Erinnerung nur schwer zugänglich zeigten. Die Existenz eines so genannten Traumagedächtnisses sei umstritten. Studien wiesen darauf hin, dass Missbrauchsopfer kein generelles Defizit in der Erinnerung an emotionale Ereignisse hätten. Darüber hinaus sei das Gedächtnis als Funktionssystem und Funktionsgeschehen zu verstehen. Dies bedeute für Gedächtnisinhalte, dass diese prozesshaft und nicht fixe Sedimente seien, sodass sie von einer wiederholten Reaktivierung lebten. Eine abgespaltene oder verdrängte Speicherung und ein später originalgetreues Wiederaufleben von Gedächtnisinhalten sei gedächtnispsychologisch daher nahezu unmöglich.
Eine Modifikation der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, insbesondere im Hinblick auf die Aussageanalyse von Realkennzeichen, werde von der herrschenden Meinung abgelehnt. Es sei fraglich, ob und unter welchen konkreten Umständen traumabedingte Amnesien überhaupt reversibel seien und inwieweit vielmehr rekonstruktive Prozesse bei Fehlen einer Endkodierung von Inhalten eine Rolle spielten.
In einem Alter von etwa 5 bis 7 Jahren würden nur einige Ereignisse erinnert, die nur wenige Details und vor allem solche enthielten, die aus einer kindlichen Wahrnehmungsperspektive heraus möglich gewesen und entsprechend diesem Stand endkodiert worden seien. Ein Kind, das zum Zeitpunkt des Erlebnisses über kein sexuelles Wissen verfüge, werde Handlungselemente, die es selbst nicht verstehen und einordnen könne, eher nicht langfristig erinnern.
Es fehle an einer frühen Erstaussage der Klägerin, die gegen einen ausgeprägten autosuggestiven Prozess spreche. Es gebe kein Beurteilungsverfahren, um Scheinerinnerungen von solchen, die auf genuinen Erinnerungen gründeten, zu unterscheiden. Die von der Klägerin angeführte Methode, mittels Kernspintomographie (MRT) zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Inhalten zu unterscheiden, sei ihr – der Sachverständigen – nicht bekannt und eine solche werde in der Literatur nicht beschrieben. Vielmehr stünden keine entsprechenden bildgebenden Verfahren zur Differenzierung im forensischen Kontext zur Verfügung.
Psychische Störungsbilder seien aufgrund der Vielgestaltigkeit möglicher Ursachen nicht geeignet, allein daraus mit ausreichender Sicherheit auf eine Missbrauchserfahrung zu schließen. Zudem könnten Symptome einer PTBS ohne das Vorliegen eines traumatischen Ereignisses auftreten, gegebenenfalls sogar als Reaktion auf eine Scheinerinnerung über ein traumatisches Erlebnis.
Bei der Klägerin bestehe zwar keine Persönlichkeitspathologie. Hinsichtlich der gestellten Diagnose einer dissoziativen Störung habe in Untersuchungen aber nachgewiesen werden können, dass Personen mit erhöhten dissoziativen Tendenzen und guten Imaginationsfähigkeiten möglicherweise gelernt hätten, Informationen aus externen Quellen in autobiographische Narrative zu integrieren und deshalb stärker geneigt seien, suggerierte Inhalte zu übernehmen. In weiteren Arbeiten seien Zusammenhänge zwischen dissoziativer Neigung und besonderer Anfälligkeit gegenüber suggestiven Einflüssen beschrieben.
Ausgangspunkt für die Entstehung von Scheinerinnerungen sei ein subjektiver Mangelzustand auf Seiten des Individuums. Diese passive, in der Person selbst liegende Suggestionskomponente könne eine erhöhte Bereitschaft der Beeinflussbarkeit durch fremdsuggestive Faktoren oder eine Disposition für autosuggestive Prozesse begründen. Aktive Komponenten der Suggestion, also von außen herangetragene, könnten Deutungsangebote durch Therapeuten oder Medien sein. Für die Übernahme einer Pseudoerinnerung müsse in zweierlei Hinsicht eine Plausibilitätsschwelle überschritten werden. Zum einen müsse das Stattfinden des suggerierten Ereignisses an sich von der Person als plausibel erachtet werden, zum anderen müsse es der betroffenen Person einleuchtend erscheinen, dass dieses Ereignis zwischenzeitlich nicht erinnert worden sei. Schließlich sei ein Quellenverwechslungsfehler nötig, um die erzeugte Ereignisrepräsentation für eine genuine, tatsächliche und zutreffende Erinnerung zu halten, wobei eine über längere Zeit anhaltende Beschäftigung mit der Thematik dazu führe, dass die vermeintlichen Erinnerungen besonders schnell abgerufen werden könnten und besonders vertraut erschienen.
Der Zustand einer Mangelsituation werde häufig durch ein schon bestehendes psychisches Leiden und das damit für das Individuum verbundene Bedürfnis, eine Erklärung für die Beschwerden bzw. die eigenen Besonderheiten im Verhalten und Erleben zu finden, begründet. Nach Angaben der Klägerin hätten bei ihr schon seit ihrer Jugend und im frühen Erwachsenenalter psychische Auffälligkeiten in Form ausgeprägter Ängste und depressiver Phasen bestanden, welche sogar bis zu konkreten Suizidhandlungen reichten. Im Alter von 24 bzw. 25 seien der Klägerin dissoziative Zustände bei sich aufgefallen. Zu einer akuten psychischen Krise sei es nach der Trennung von ihrem ersten Ehemann gekommen, nach der sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben habe. Einige Jahre später habe sie eine psychoanalytische Therapie aufgenommen, sodass vor dem Wiedererinnern ein Bedürfnis der Klägerin erkennbar werde, sich selbst und ihre Symptomatik zu verstehen. Innerhalb der Therapie seien regressive Prozesse angestoßen worden, die mit einer starken Traum- und Fantasietätigkeit bei ihr und mit dem Aufkommen grausamer und bedrohlicher Bilder einhergingen, wie aus den Berichten des D folge. Die Klägerin gebe an, dass ihr viele Erlebnis- und Verhaltensweisen von sich durch die Erkenntnis, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein, besser verständlich seien, sodass zumindest von einer sekundär wirkenden Erleichterung durch die Erklärung eines stattgehabten vermeintlichen sexuellen Missbrauchs auszugehen sei. Der von der Klägerin geschilderte Wiedererinnerungsprozess zeige, dass sie sich bewusst mit der Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs auseinandergesetzt habe. Als sie diesen für sich zugelassen habe, seien ihr vor dem Hintergrund dieser Bereitschaft neue Bilder hochgekommen.
Für aktive Suggestionskomponenten bedürfe es keines direkten Einflusses Dritter. Eine charakteristische Komponente aktiver Suggestion bildeten Erklärungs- und Deutungsangebote durch Psychotherapeuten sowie eine fehlende kritische Hinterfragung durch dieselben. Um diese suggestive Wirkung zu erzeugen bedürfe es, anders als D meine, keiner „Aufdeckungsarbeit“ mit Aufforderung zu aktiven Erinnerungsbemühungen, sondern es reiche zur Unterstützung und Beförderung entsprechender Prozesse schon das psychoanalytische Setting aus, in dem assoziativ gearbeitet und regressive Prozesse gefördert würden, um bildhaftes Material und eine unbewusste Suche nach möglichen Ursachen und biografischen Verknüpfungen mit den geklagten Beschwerden zu finden. Indem D von verdrängten/dissoziierten Inhalten spreche, sei davon auszugehen, dass er eine zumindest annehmende Haltung gegenüber der von der Klägerin selbst angebotenen Deutungsmöglichkeiten eingenommen habe. Diese Haltung des Therapeuten könne ungewollt und unbewusst den Akzeptanzprozess begünstigt haben. Dafür spreche die Angabe der Klägerin, sich zu Hause Bilder angesehen, sich damit schriftlich und mit ihren Gefühlen auseinandergesetzt zu haben, wobei ihr manches klarer geworden sei. Weiter habe sie sich über Randumstände, wie die Räumlichkeiten der Großeltern vergewissert. Diese Erinnerungen seien nicht auf das Kerngeschehen bezogen, sodass hieraus keine Schlussfolgerungen auf ein mögliches Missbrauchsgeschehen zu ziehen seien.
Dafür, dass die Angaben der Klägerin in der Folge unkritisch übernommen worden seien, spreche, dass die sexuellen Missbrauchserfahrungen anamnestisch als tatsächliche Vorkommnisse beschrieben seien und als Erklärungsmodell zur Störungsgenese beibehalten würden. Die Bilder und Gefühle seien bei der Traumatherapie als reale Erinnerungen akzeptiert worden, wobei ein solches therapeutisches Vorgehen die Ausweitung bereits bestehender, möglicherweise irrealer Vorstellungen begünstigen könne. Dementsprechend berichte die Klägerin, dass während der Therapie neue Bilder aufgetaucht seien, sodass sich ein konstruktiver, aber nicht allein rekonstruktiver (Erinnerungs-)Prozess abzeichne. Diese Erinnerungsbilder müssten nicht zwangsläufig während einer therapeutischen Sitzung auftauchen, insbesondere, da sich die Klägerin auch außerhalb der Therapiesitzungen stark mit den Erinnerungen beschäftigt habe.
Sei bei dem Betroffenen die Plausibilitätsschwelle überschritten, förderten alle Aktivitäten, die eine gedankliche Beschäftigung mit diesem Ereignis beinhalteten, die Konstruktion einer visuellen und narrativen Repräsentation des Ereignisses, das tatsächlich nie stattgefunden habe. Die Annahme der Möglichkeit, dass ein sexueller Missbrauch in ihrer Kindheit die Ursache und eine plausible Erklärung für ihre psychischen Beschwerden wie Schwierigkeiten im sozialen Umgang sei, sei durch die psychotherapeutischen Behandlungen bestärkt worden. Der von der Klägerin geäußerte Verdacht auf einen sexuellen Missbrauch sei ausweislich der Therapieberichte nie in Frage gestellt worden. Zusätzlich müssten bildhafte Vorstellungen erzeugt werden, wobei sich bei der Klägerin Persönlichkeitszüge zeigten, die mit besonderen Erlebnisweisen, insbesondere dissoziativen Abwesenheitszuständen einhergingen und damit die Ausbildung von Scheinerinnerungen im Sinne bildhafter Schlussfolgerungen begünstigten. Wenn ein Betroffener intrusiven, irritierenden, nicht einzuordnenden fragmatischen Erinnerungen ausgesetzt sei, sei daher anzunehmen, dass diese fragmentarischen Erinnerungen mit Schemata versehen würden, unabhängig davon, ob die so einer fragmentarischen Erinnerung zugeordneten Bedeutung mit dem Ursprungsereignis etwas zu tun habe oder nicht. Solche „Erinnerungen“ könnten zutreffend, aber auch völlig falsch sein. Unter therapeutischen Gesichtspunkten könnten wenig erlebnisfundierte Realitäten ihre Funktion erfüllen, wobei sich ein Beleg für die Zuverlässigkeit hieraus nicht ergebe.
Lebhafte mentale Bilder, die zudem sensorische Details enthielten, würden in besonderem Maße für tatsächliche Erinnerungen gehalten. So habe die Klägerin intensive Atemgeräuschserlebnisse, ein seltsames Körpergefühl und Ekelempfinden während der und nach den möglichen Vorfällen beschrieben. Ein zusätzlich fördernder Faktor sei die Unterstützung von außen bei Unsicherheiten der Person bezüglich der Quelle der Repräsentation, dass jedes auftauchende Bild als Erinnerung zu bewerten sei. In den vorliegenden Therapieberichten werde explizit die Diagnose „PTBS“ und „dissoziative Störung“ gestellt, wobei die zugrundeliegenden Beschwerden ohne Zweifel auf ihre möglichen traumatischen Erfahrungen zurückgeführt worden seien, sodass die Klägerin hierdurch explizit noch einmal in ihrer Quellenverwechslung Unterstützung gefunden habe.
Der Umstand, dass die Erinnerungen bei der Klägerin erst im Rahmen eines fortschreitenden Prozesses während eines psychoanalytischen Prozesses aufgetreten seien, unterstütze die Hypothese von suggestiv bedingten oder verfälschten Erinnerungsinhalten. Es stelle ein Charakteristikum der Genese von Pseudoerinnerungen dar, dass diese sich mit dem wiederholten Abruf von anfänglich fragmentarischen Bildern und Eindrücken zunehmend klarer und inhaltlich detaillierter darstellten. Aus den Berichten des D werde deutlich, dass der Klägerin in der Folgezeit immer mehr Erinnerungen im Hinblick auf einen sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater im Sinne einer Ausweitung der erinnerten Szenarien zugänglich geworden seien. Inhaltlich wiesen ihre Angaben zu ihren Erinnerungen auf ausgeprägte Erinnerungsunsicherheiten hin, indem sie mehrfach den fragmentarischen Charakter ohne Einbindung in ein Vorher und Nachher betont habe, wie es der Charakteristik von Scheinerinnerungen entspreche. Hierbei überschritten sie in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nicht ein schemenkonformes Wissen und formelhaftes Niveau.
Bei der Klägerin überwiege nach aktuellem Forschungsstand die Möglichkeit von Scheinerinnerungen. Die geschilderten Erlebnisse hätten traumatogenes Potential und seien grundsätzlich geeignet, eine PTBS oder eine andere schwere Traumafolgestörung hervorzurufen. Eine solche erfordere aber das Vorliegen eines äußeren Ereignisses, welches objektiv belegt sein müsse, also auf Angaben mit einem realen Erlebnishintergrund zurückgeführt werden könne, was nicht der Fall sei. Die dissoziative Störung und die rezidivierende depressive Störung könnten diagnostisch nachvollzogen werden, ließen sich aber mangels Nachweises des schädigenden Ereignisses nicht auf dieses zurückführen und seien daher keine Schädigungsfolge.
Die Klägerin ist dem Sachverständigengutachten entgegengetreten. Ihre Behandler könnten diesem nicht zustimmen und hielten es für falsch. Die Frage, ob die Angaben zum Missbrauchsgeschehen auf einem realen Hintergrund basierten, sei eine Fragestellung, die für die bisherige Therapie entscheidend und richtungsgebend gewesen sei. Es sei deshalb erstaunlich, dass eine Sachverständige ausgewählt worden sei, die keinerlei Qualifikation zur Behandlung und Therapie von psychischen Erkrankungen vorweisen könne. Nachdem sie ausdrücklich nur einer Begutachtung durch einen speziell im Bereich der Psychotraumatologie zertifizierten Gutachter zugestimmt habe, sei sie erstaunt darüber, dass die Sachverständige über keinerlei klinische Ausbildung verfüge. Dennoch stelle sie die klinische Diagnose in Frage und halte diese für fehlerhaft. Dies überschreite die Kompetenzen der Sachverständigen.
W2 hat in seiner psychotherapeutischen Stellungnahme zu dem Sachverständigengutachten ausgeführt, dass es dem wissenschaftlichen Stand und Erkenntnissen der aktuellen Traumaforschung widerspreche, wenn die Sachverständige davon ausgehen, dass sich die Erinnerungslücken nur schwer erklären ließen und dass Missbrauchsopfer kein generelles Defizit in der Erinnerung aufwiesen. Diese Schlussfolgerungen verwunderten vor dem Ausbildungshintergrund der Sachverständigen nicht, da sie keine praktischen psychotherapeutischen Kompetenzen vorweisen könne. Die Frage einer möglicherweise durch Psychotherapeuten ausgelösten suggestiven Erinnerung könne nicht alleine auf dem Hintergrund von angelesenem theoretischem Wissen beurteilt werden. Traumatische Ereignisse wie sexueller Missbrauch im frühen Kindesalter führten dazu, dass das kindliche Gehirn in den Überlebensmodus gehe, indem das Erlebte dissoziativ abgespalten werde, damit so in der weiteren Entwicklung die Alltagsfähigkeit aufrechterhalten werden könne. In der Folge eines solchen dissoziativen Prozesses würden Sachverhalte fragmentiert/bruchstückhaft im Gedächtnis abgespeichert. Wenn dann im Rahmen einer späteren Psychotherapie die eigene Lebensgeschichte vertieft reflektiert werde, könnten solche Erinnerungsfragmente wieder auftauchen, was nichts mit Suggestionseffekten oder implantierten Erinnerungen zu tun habe. Im Übrigen erinnerten Menschen allgemein oft auch nach Jahren lang vergessene Sachverhalte, ohne dass jemand auf die Idee käme, diese Erinnerungen als Suggestionseffekte zu bezeichnen.
In beiden Klassifikationssystemen psychischer Störungen werde die Diagnose einer dissoziativen Amnesie beschrieben, was soviel bedeute wie, dass für Erinnerungen an Ereignisse – auch traumatischer Art – eine Amnesie bestehen könne. Oft bestehe das Missverständnis, das Traumatherapie daraus bestehe, Erinnerung zu rekonstruieren. Traumafokussierte Psychotherapie, eine sichere und von aktuellen Leitlinien empfohlene Therapieform für die Behandlung der PTBS, arbeite insbesondere mit dem Umgang mit Erinnertem und dessen psychischen Folgen. Sie könne traumatisierten Menschen helfen, in den Alltag zurückzukehren und mit den Erinnerungen zu leben. Traumatherapeuten seien sich der Tatsache subjektiv gefärbter, manchmal trügerischer Erinnerungen stets bewusst. Es werde gemeinsam an den Erinnerungen des traumatischen Ereignisses gearbeitet. Eine traumafokussierte Psychotherapie ziele darauf ab, biographische Erinnerungen aus „Fragmenten“ zusammenzusetzen. Dies sei insbesondere dann erforderlich, wenn durch schwere dissoziative Störungen umfassende Erlebnis- und Erfahrungsbereiche dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich seien. Auch wenn traumatische Erfahrungen im neurobiologischen Sinne nicht „vergessen“ werden könnten, könnten sie doch wegen ihrer toxischen Wirkung jahrelang abgekapselt und abgespalten werden, sodass sie dem Alltagsbewusstsein nicht oder nur sehr unvollständig zugänglich seien. Es gebe also wiedererlangte Erinnerungen. Die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sei in der Behandlung traumatisierter Patienten Standard. Selbstverständlich sei es nicht Fokus der aktuellen Psychotherapien, Erinnerungen suggestiv hervorzurufen. Es gehe vielmehr darum, genau diejenigen Reaktionen und Vorgänge während des Traumas besser zu verstehen, die der Patient nicht gut einordnen könne. Auf dieser Basis könne die Therapie dazu beitragen, mit quälenden Erinnerungen oder Erinnerungsfetzen umzugehen zu lernen und diese in ein autobiographisches Gesamtverständnis einzubauen. Die Arbeit mit Erinnerungsbewertungen und subjektiven Erklärungen sei wesentlich.
Die Patienten würden im Therapieprozess generell bei der Rekonstruktion ihrer persönlichen Geschichte unterstützt, ohne sie jedoch dabei in eine bestimmte Richtung zu drängen bzw. suggestiv vorzugehen. Dies sei im Übrigen Gegenstand in jeder psychotherapeutischen Ausbildung, die zur Approbation als Psychologischer Psychotherapeut führe. Traumabezogene Erinnerungen, wenn sie einer expliziten Erinnerung noch unzugänglich seien, äußerten sich häufig in Form von unterschiedlichen Symptomen wie etwa Albträumen, als Reizinszenierungen im Verhalten oder als körperliche Symptome. Als Therapeut müsse man stets die Frage prüfen, ob und wieweit das, was zwischen Therapeut und Patient geschehe, ein Hinweis auf ein Realtrauma sein könne oder aber vor dem Hintergrund der Therapeut-Patient-Beziehung zu verstehen sei. Solche komplexen Inszenierungen innerhalb und außerhalb der Therapie könnten diagnostisch als Hinweis auf die verborgene, zum Teil der Amnesie unterliegende Realgeschichte der Traumatisierung verstanden werden.
Zweitens seien Erinnerungen, die auf ein Realtrauma zurückgingen, von einer anderen Qualität als durch Suggestion entstandene Erinnerungen: Reale Traumaerinnerungen lägen meist fragmentiert vor, ohne zeitlich und kontextbezogene Einordnung, würden oft auf mehreren Sinneskanälen erlebt und gingen mit heftigen negativen Gefühlen einher. Erinnert würden einzelne, voneinander isolierte Segmente der traumatischen Erfahrung, die in unterschiedlichen Erlebniszuständen abgebildet seien. Häufig würden bei Erinnerungen an Missbrauchs- oder Misshandlungserlebnisse aus der Kindheit validierbare Elemente und solche, die sich als unzutreffend herausstellten, vermischt. In den meisten Fällen treffe aber ein wahrer Kern zu, wie z.B. die Missbrauchserfahrung selbst.
D hat in seiner Stellungnahme vom 18. Januar 2021 ausgeführt, dass niemand bestreiten werde, dass in Psychotherapien aktive und passive Suggestibilität eine Rolle spiele. Gerade die Psychoanalyse zeichne jedoch aus, dass allem, was sich im Beziehungsgeschehen oder auf der Ebene von Übertragung und Gegenübertragung ereigne, eine fundamentalte Rolle beigemessen werde. Als sich bei der Klägerin in einem fortgeschrittenen Verlauf Bilder und Phantasien gehäuft hätten, sei es zunächst darum gegangen, einen therapeutischen Raum aufrecht zu erhalten, der es möglich mache, sich mit diesen Bildern und vor allem den damit verbundenen, für die Klägerin schwer erträglichen Emotionen zu befassen um diese bearbeiten, bewältigen, verstehen aber auch hinterfragen zu können. Einer Patientin in einer Phase des therapeutischen Prozesses, in dem bei ihr bzw. aus ihrer Sicht Erinnerungen an Missbrauchssituationen auftauchten, mit der Haltung zu begegnen, dass es sich doch wahrscheinlich um Erinnerungstäuschungen handele, sei ein grober Kunstfehler. Erstens sei sexuelle Gewalt in Familien keine Seltenheit und zweitens liefe ein verfrühtes Infragestellen ebenfalls auf ein suggestives Einwirken auf die Patientin hinaus, die ja selbst mit der Frage ringe, ob das, was sich in ihrem Bewusstsein abspiele, wirklich Erinnerung sei oder Phantasie. Dass sich bei ihm, bei allen Unwägbarkeiten, die Überzeugung gebildet habe, dass ein reales Missbrauchsgeschehen vorliege, bedeute nicht, dass jede Erinnerung etwas wiederspiegele, was sich tatsächlich ereignet habe. Seine Erfahrung helfe, zwischen Real- und Pseudoerinnerungen unterscheiden zu können, absolute Gewissheit gebe es natürlich nicht.
Er stimme B1 zu, dass das Bedürfnis für das eigene Leiden eine für den Betroffenen selbst plausible Erklärung zu finden bzw. zu haben, sicherlich stark ausgeprägt sei und die Frage des Realitätsgehalts von Erinnerungen beeinflussen könne. Dies bei der Klägerin als entscheidend anzunehmen, liefe aber darauf hinaus, ihr zu unterstellen, sie habe die Missbrauchserinnerungen quasi erfunden, um eine plausible Erklärung für ihr Leiden gefunden zu haben. Die drastischen und quälenden Bilder und Gedanken seien auf jeden Fall real gewesen und seien aufgetreten, bevor sich die Frage des Missbrauchs gestellt habe. Sie seien nicht in dem Sinne induziert worden, dass man als Analytiker glaube, wenn man gemeinsam mit dem Patienten ein Narrativ gefunden habe, der Weg zum therapeutischen Erfolg geebnet sei. Der Prozess bei der Klägerin sei nicht durch das Erklärungsmodell „Missbrauch“ angestoßen worden, sondern resultiere aus ihm.
Dass der Abruf biographischer Erinnerungen lückenhaft, verzerrt oder fehlerhaft sein könne, bedürfe keiner Diskussion. Aber das kritische Prüfen des Realitätsgehalts gehöre zum basalen Handwerkszeug eines Psychotherapeuten, da jeder um das Risiko des „false-memory“-Syndroms wisse. Forschungen belegten, dass das Erinnern selbst infolge neurobiologisch bedingter Bewältigungsmechanismen nie in jeder Hinsicht das real Geschehene abbilden könne. Die bei der Klägerin diagnostizierten Dissoziationen und Flashbacks seien deutliche Anzeichen für traumatische Geschehnisse. In diesem Zusammenhang sei zu würdigen, dass Mutter und Schwester der Klägerin ihre Angaben bestätigten. Es gehe ja nicht darum, den Realitätsgehalt jeder Erinnerung nachweisen zu können, was aus bekannten Gründen nicht möglich sei, sondern um die Frage, ob ein realer Missbrauch stattgefunden habe.
Weiter zur Akte gelangt ist die Stellungnahme des L vom 9. Februar 2021. Danach habe er die Klägerin seit 2007 ärztlich begleitet. Als langjähriger Leiter der Ambulanz für Traumafolgestörungen könne er zusammenfassend konstatieren, dass der Verlauf der Symptomatik mit klassischem dissoziativem Erleben, Alpträumen, Intrusionen, Flashbacks und Hyperarousal einer PTBS bei frühkindlichen traumatischen Widerfahrnissen entsprochen habe. Inhaltlich seien die am Anfang zum Teil fragmentierten Nachhallerinnerungen, die sich unter therapeutischer Begleitung zunehmend zu den Narrativen der einzelnen Szenen durch den Großvater entwickelten, absolut glaubhaft und stimmig, hätten in ihrer Phänomenologie und den psychodynamischen Zusammenhängen nicht sogenannten Deckerinnerungen oder therapeutisch induzierten Narrativen entsprochen. Der Hypothese des Gutachtens, dass Suggestionseffekte bei der Erinnerungsarbeit eine Rolle gespielt hätten, sei zu widersprechen. Vielmehr seien die Kernerinnerungen des sexuellen Missbrauchs von Anfang an szenisch und mit allen Sinnen präsent gewesen, sodass von Erinnerungen an reale Begebenheiten ausgegangen werden müsse.
Auf Antrag der Klägerin hat das SG das Sachverständigengutachten des F, Institut für Psychosomatik und Psychotraumatologie A1, aufgrund ambulanter Untersuchung vom 17. Juni 2021 erhoben. Diesem gegenüber hat sie auf die Frage nach bewussten Erinnerungen aus der Kindheit, die sie mit sexuellem Missbrauch in Verbindung bringe, angegeben, dass sie erst nach und nach gelernt habe, die Erinnerungen einem früheren Alter zuzuordnen. Hilfreich sei dabei gewesen, dass sie sich an bestimmte Kleider habe erinnern können und mit welchem Haarschnitt sie in verschiedenen Erinnerungen wahrzunehmen sei. Sie habe dazu in der Vergangenheit ihre Mutter befragt und so teilweise eine zeitliche Einordnung der Ereignisse vornehmen können. Sie erinnere, dass sie in der Kindheit häufig stumm gewesen sei und über das, was in ihr vorgegangen sei, nicht habe sprechen können. Von ihrer ersten Erinnerung wisse sie, dass sie sich auf S3 zugetragen habe. Der Großvater habe in einem Sessel gesessen, auf das Meer geblickt und sie zu sich gerufen. Sie sehe sich dann in ihrer Erinnerung auf seinem Schoß sitzen und wisse, dass es damals ganz normal für sie gewesen sei, dass er die Hand unter ihren Slip geschoben und sie an der Scheide berührt habe. Eine andere Erinnerungsszene könne sie ebenfalls S3 zuordnen. Sie sehe sich stehend mit hochgeschobenen Kleid und heruntergeschobenen Slip, der Großvater habe einen Finger in ihrer Scheide. Sie wisse noch, dass sie damals einen karierten Trägerrock getragen habe. Plötzlich sei der Vater in der Tür gestanden und habe kein Wort gesagt. Sie wisse noch, dass sie seinen Blick nicht habe deuten können. Sie habe sich schuldig gefühlt, sei in den Flur gelaufen und habe sich zu dem damaligen Hund auf den Boden gelegt.
Auf die Nachfrage, ob weitere Details zu der Szene oder dem Großvater abrufbar seien, habe die Klägerin angegeben, dass es eher allgemeine Details zu dem Großvater seien. Er habe weißes Haar gehabt, dass stets zurückgekämmt gewesen sei und einen kräftigen Bart. In ihren frühen Erinnerungen sei er immer warm und kuschelig gewesen. Zu der Zeit ihrer jetzt benannten Erinnerungen sei dieses warme und kuschelige Gefühl aber schon vorbei gewesen. Sie wisse, dass sie damals schon immer ganz steif geworden sei und sich ohnmächtig gefühlt habe, wie eine Puppe.
Es gebe eine weitere Erinnerung aus B. Nachts habe sie die knackenden Dielen hören können, wenn der Großvater zu ihr gekommen sei. Er habe dann an ihrem Bett gesessen und sie gestreichelt. Zuerst über dem Schlafanzug, dann auf der Haut und am ganzen Körper. Er habe sie abgetastet und begrapscht. Wenn es heute ähnliche Geräusche gebe wie damals, dann erstarre sie immer noch für einen kurzen Moment. Sie habe damals das Zimmer mit ihrer Zwillingsschwester geteilt. Sie erinnere sich weiter, dass ihr Großvater ihr teilweise den Mund zugehalten und ihr verboten habe, zu anderen zu sprechen. Er habe jeden Moment genutzt, ihr die Finger in die Scheide zu stecken. Sie wisse, dass er ihr den Penis in den Mund geschoben, ihr dabei den Hals zugehalten und sie teilweise gewürgt habe. Sie habe nachts alleine und weinend auf der Treppe im Flur gesessen, sich nicht getraut, der Mutter etwas zu sagen.
Im Alter von 7 bis 8 Jahren sei sie auf S3 vom Strand in die Wohnung der Großeltern zurückgelaufen. Sie sei ins Badezimmer gegangen, dass sie nicht habe abschließen dürfen. Der Großvater sei ihr nachgekommen, habe ihr wortlos den Badeanzug runtergezogen und sie überall gestreichelt. Er habe eine graubraune Anzugshose, schwarze Schuhe und ein weißes Unterhemd getragen. Er habe die Hose geöffnet und ihr sein Glied in den Mund gesteckt. Als ihre Großmutter nach ihm gerufen habe, habe er von ihr gelassen. Abends sei es ihr nicht gut gegangen und die Großmutter und die Mutter hätten gefragt, was sie habe, aber sie habe nichts sagen können.
Mit 4 oder 5 Jahren habe sie der Zwillingsschwester mal gesagt, dass Opa sie angefasst habe. Auf die Frage „hat es weh getan“, habe sie geantwortet „nein, aber ich darf dir das gar nicht sagen“. Der Großvater sei nicht immer brutal gewesen, aber er sei über den langen Zeitraum zunehmend brutaler geworden. Sie glaube, dass sie tatsächlich am Anfang Nein gesagt habe und dass sie das nicht wolle.
Sie erinnere eine andere Szene in B. Sie sei zu dem Großvater ins Bett gekrabbelt und habe schmusen wollen. Er habe einen gestreiften Schlafanzug angehabt und sie ganz fest an sich gedrückt. Dann habe er sie unter die Bettdecke gedrückt, sie habe seinen Penis anfassen und in den Mund nehmen müssen. Sie habe das Gefühl gehabt, unter der Bettdecke fast zu ersticken. Danach sei sie ins Badezimmer gelaufen und habe ihre Hände angeschaut, ob man den Händen ansehen könne, was passiert sei.
Auf die Nachfrage, ob sie das Alter der Missbrauchserinnerungen näher eingrenzen könne, habe die Klägerin angegeben, dass es das Alter zwischen etwa 5 und 9 Jahren gewesen sein müsse. Es gebe aus dieser Zeit circa zehn Erinnerungen, die inzwischen bewusstseinsfähig seien. Seit etwa zwei Jahren kämen keinen neuen Erinnerungen dazu. Sie habe aber beobachten können, dass die einzelnen Erinnerungen mit der Zeit teilweise klarer geworden seien.
Auf die Frage, welche Erinnerung die schlimmste Szene gewesen sei, habe die Klägerin angegeben, eine weitere Szene berichten zu können. Es sei wieder auf S3 gewesen, sie habe in dem Bett gelegen, in dem sonst ihre Mutter geschlafen habe. Der Großvater sei zu ihr gekommen und habe sich zu ihr ins Bett gelegt. Sie habe keine Erinnerung dazu, wie er damals ausgesehen habe, aber sie habe eine Erinnerung, wie sich sein Körper angefühlt habe. Sie sehe die Szene wie von außen. In ihrer Erinnerung sei er zunächst an ihrer rechten Körperseite gewesen. Er sei nackt, es sei Sommer und die Rollläden geschlossen gewesen. Er habe sich auf sie gelegt, habe ihre Beine gespreizt und sei dann in sie eingedrungen. Dabei sei sie innerlich ausgestiegen, es habe fürchterlich weh getan. Sie könne sich noch an ihren Haarschnitt von damals erinnern, danach habe sie geweint. Später habe ihre Mutter in der Tür gestanden und den Großvater gefragt, was er mit ihr gemacht habe. Sie wisse, dass sie zwischendurch noch im Bad gewesen sei und sich gewaschen habe. Sie müsse damals circa 9 Jahr alt gewesen sein. Sie glaube, dass der Großvater nur einmal in sie eingedrungen sei. Ihre Erinnerung gehe nur bis zu dem Moment dieses großen Schmerzes, sie erinnere aber noch das Gefühl, seinen schweren und warmen Körper auf sich zu spüren, könne dies heute noch intensiv wahrnehmen.
Zu der Entwicklung der Beschwerden habe die Klägerin angegeben, dass ihr Leben vor dem Wiederauftauchen der Erinnerungen einfacher gewesen sei. Ungefähr 2007 nach dem Auftauchen müsse der erste Krankenhausaufenthalt gewesen sein. Das sei damals in der Zeit gewesen, als ihre Psychoanalyse bereits im Ausklingen gewesen sei. Sie habe Jahre zuvor die Analyse begonnen, da sie immer wieder Albträume mit Szenen von Verfolgung, großer innerer Unruhe und Bedrängnis erlebt habe. Sie habe die Analyse in der Zeit nach ihrer gescheiterten Ehe und einem Jobwechsel begonnen, weil es ihr damals nicht so gut gegangen sei.
Sie wisse noch, dass die erste Erinnerung damals zu Hause gekommen sei, es sei die Szene mit Opa gewesen, als Vater plötzlich in der Tür gestanden sei. Sie sei danach verunsichert gewesen und habe Erkundigungen bei Mutter und Schwester eingeholt. Die Erinnerung sei damals „schwarz-weiß“ gewesen und habe ihr Angst gemacht. Sie habe gezweifelt, wie sehr sie sich auf die Erinnerung verlassen könne. Sie sei verunsichert gewesen und habe sich gefragt, warum Vater denn wohl nichts gesagt habe. Mit den Erinnerungen sei damals innerlich eine heile Welt zusammengebrochen. Die zunehmenden Erinnerungen hätten sie unsicher und vermehrt depressiv gemacht. 2007 habe es einen Suizidversuch gegeben, einen ersten bereits 1996. Damals habe sie eine so große innere Leere verspürt. Bereits seit dem 20. Lebensjahr habe sie ein Gefühl von abgespalten sein in sich getragen. Dann sei vieles zusammengekommen, sie sei 1995 aus der ersten Ehe rausgegangen und habe ihren Job gewechselt.
Im Jahr 2007 sei sie zunächst für drei Monate stationär behandelt worden. Die Analyse habe sie nach etwa 300 Stunden und der stationären Behandlung schließlich beendet. Von 2009 bis 2011 habe sie eine Traumatherapie durchgeführt. Sie habe dort gelernt, über die Erinnerungen zu sprechen. In der damaligen Zeit habe sie einen neuen Job als Dozentin begonnen und sei Ausbilderin in einer Berufsvorbereitungsgruppe für Jugendliche geworden. Gegenwärtig bestünden weiter Beschwerden, vor allem die Depressionen. Die letzte Phase habe sie vor zwei bis drei Tagen gehabt, als ihre Mutter gestorben sei. Meist habe sie solche depressiven Phasen im Frühjahr und im Herbst. Sie fühle sich häufig orientierungslos und habe Konzentrationsstörungen, ihre Gedanken schweiften ab. Es könne sein, dass die Symptome teilweise mit ihrem Clusterkopfschmerz zusammenhingen, der seit 2003 aktuell an vier bis fünf Tagen pro Monat bestehe. Früher seien es bis zu 15 Tage im Monat gewesen.
Sie erlebe immer noch dissoziative Momente, in denen sie wegdrifte. Häufig fehle ihr die Erinnerung, wohin sie mit ihrer Aufmerksamkeit abrutsche. Es gebe Situationen, in denen ihr Sachen aus der Hand fielen und sie dadurch wieder aufgeschreckt werde. Im Alltag fühle sie sich schnell durch Reizüberflutung überfordert, vor allem in Zeiten, in denen sie den Clusterkopfschmerz habe. Sie werde dann leicht getriggert, durch Gerüche oder durch Licht. Es gebe vielfältige Trigger, auf die sie reagiere und dann Panikgefühle entwickle. Bei gemeinsamen Essenszenen mit anderen Personen müsse sie häufig aufstehen und flüchten. Sie habe dann ein Gefühl von zu viel Nähe oder aber dem Gegenteil, dass sie sich wieder ausgegrenzt fühle. Sie versuche, den Erinnerungen so wenig Raum wie möglich zu geben. Die Tatsache, dass sie einen OEG-Antrag gestellt habe, sei hilfreich gewesen, um mehr Abstand zu den Erinnerungen zu bekommen und nicht mehr zu schweigen. Ihre jetzige Ehe bestehe seit 21 Jahren. Von Anfang an habe sie aber auf getrennte Schlafzimmer achten müssen, da sie einen lauten Atem oder ein Schnaufen neben sich nicht aushalten könne. Sexualität sei uneingeschränkt und lustvoll möglich.
Zum Tagesablauf habe die Klägerin angegeben, morgens nach dem Frühstück zur Arbeit zu fahren. Sie sei als Personalsachbearbeiterin mit 23 Stunden die Woche beschäftigt. Es herrsche insgesamt eine gute Arbeitsatmosphäre, sie könne ihre Arbeitszeit auf vier Arbeitstage verteilen. Zuhause sei sie meist gegen 16.00 Uhr oder sie fahre direkt zum Reitstall, wo sie ein Pflegepferd betreue. Bis vor einem Jahr sei sie selbst geritten. Meist sei sie zwei- bis dreimal pro Woche für zwei bis drei Stunden im Reitstall beschäftigt. Zuhause bereite sei meist für ihren Mann einen Gemüseteller vor, da er im Home-Office arbeite. Anschließend erledige sie Haushaltsarbeiten oder gehe mit ihrem Mann zusammen einkaufen. Außerhalb von Corona-Zeiten gehe sie gerne zum Shoppen in die Stadt oder verabrede sich mit Bekannten. Abends gebe es entweder Essensverabredungen mit Freunden oder sie schaue sich mit ihrem Mann Filme an.
Die Klägerin sei zu Zeit, Ort und Person voll orientiert gewesen. Im Kontakt sei sie anfänglich leicht ängstlich, dann aber freundlich zugewandt und durchgehend kooperativ gewesen, Stimmung und Antrieb erschienen insgesamt nicht auffällig verändert. Themenbezogen entstünden kurze Phasen des Eindrucks von Versunkensein und innerlichem Wegdriften, die Ansprechbarkeit bleibe aber jederzeit erhalten, die affektive Schwingungsfähigkeit sei unbeeinträchtigt. Es bestehe kein Anhalt für inhaltliche oder formale Denk- oder Wahrnehmungsstörungen, ebenso keine auffälligen mnestischen oder erkennbaren Störungen der Konzentrationsfähigkeit. Während der anamnestischen Befragung zu den Missbrauchserinnerungen hätten sich wechselnd deutliche Zeichen psychovegetativer Übererregung gezeigt. Zu keiner Zeit habe sich ein klarer Hinweis auf wesentliche intrusive Erinnerungsqualitäten oder dissoziative Zustände ergeben. In den psychometrischen Befunden habe sich die Symptomatik einer PTBS gezeigt, allerdings mit grenzwertiger Symptomausprägung. Diagnostisch bestehe eine komplexe PTBS (KPTBS) mit zur Zeit noch leichter Ausprägung sowie eine zur Zeit remittierte rezidivierende depressive Störung.
In Übereinstimmung mit B1 könne davon ausgegangen werden, dass es bei der Klägerin bereits seit ihrer Jugend psychische Auffälligkeiten gegeben habe, ab Mitte des 20. Lebensjahres auch dissoziative Zustände. Diese Angaben stünden in Übereinstimmung mit dem Explorationsbefund und wiesen auf ein über Jahre sich chronifizierendes Krankheitsbild hin. Nach der Trennung von ihrem ersten Mann sei es zu einer Destabilisierung gekommen, danach habe sich die Klägerin aber soweit stabilisieren können, dass es zu einem beruflichen Aufstieg und der Übernahme von Verantwortung als Prokuristin gekommen sei. Im Hintergrund dieser positiven beruflichen Entwicklung scheine es dennoch eine weitere Krankheitsentwicklung gegeben zu haben, die sich klinisch mit den Diagnosen einer Angststörung und somatoformen Störungen beschreiben lasse. Bis zum Jahr 2007 sei eine psychoanalytische Behandlung durchgeführt worden, in deren Mitte damals noch unklare Erinnerungsbilder eines möglichen sexuellen Missbrauchs durch den Großvater aufgekommen seien.
D habe festgehalten, dass die Klägerin langsam begonnen habe, die Möglichkeit einer realen Missbrauchserfahrung zu akzeptieren, gegen Ende Januar sei die suizidale Krise teilweise überwunden gewesen. Die weiteren Befundberichte über die stationären und teilstationären Behandlungen zeigten eine hohe Konsistenz und eine ebenso gute Übereinstimmung mit den Vorberichten aus der psychoanalytischen Behandlung. Neurologisch sei geklärt, dass die geklagten Anfallszustände nicht durch eine organische Erkrankung zu erklären, sondern als dissoziative Anfallsleiden einzuordnen seien.
Die Erlebniskriterien, die die Klägerin den einzelnen Erinnerungen zuordnen könne, stimmten mit sämtlichen Vorangaben überein, bildeten aber immer nur Momentaufnahmen eines Augenblicks ab. Die bis heute bewusstseinsfähigen Erinnerungen an Missbrauchsszenen seien durch ihren fragmentierten Charakter zu beschreiben, wobei sensorische Wahrnehmungsdetails zu zahlreichen Erinnerungen begleitend vorlägen. Zu keiner Szene bestehe jedoch eine in sich abgeschlossene Handlungsfolge, wie dies bei einer klassischen autobiographischen Erinnerung erwartet werden könne. Charakteristisch für den Erinnerungsprozess bei der Klägerin sei, dass nach flashartigem Beginn einzelner Szenen eine schleichende Bewusstwerdung weiterer szenischer Details, begleitet von Erlebensanteilen, einsetze.
Die PTBS-spezifischen Symptome hätten durch zahlreiche Befundberichte gut abgesichert in den Jahren 2007 bis 2016 diagnoserelevant vorgelegen, während sich in der aktuellen Untersuchung nur noch ein deutlich milderes Beschwerdebild abbilden lassen. Sämtliche Befundberichte aus den behandelnden Kliniken seien fehlerhaft, da das angewandte Diagnosesystem ICD-10 nur den Erkenntnisstand bis zum Jahr 1992 berücksichtige. Das Symptombild, wie es typischerweise als Folge von kindlichen Missbrauchserfahrungen abgebildet werde, sei nach der ICD-11 aber die KPTBS. Die ICD-10 bilde Typ-II-Traumatisierungen, die durch wiederholte Belastungserfahrungen entstünden, nicht hinreichend ab. Die S3-Leitlinie zur PTBS verweise darauf, dass Traumafolgestörungen nur selten isoliert als klassische PTBS aufträten, sondern typischerweise in einer Komorbidität einhergingen. Dabei würden depressive Störungen bei über 80 % der nach einer Traumatisierung erkrankten Patienten beobachtet, die weiteren häufigsten Diagnosen in Kombination mit einer PTBS seien Angst-, Somatisierungs-, Sucht- sowie dissoziative Störungen. Im Standardwerk zu Komplexen Traumafolgestörungen werde bezüglich der Differentialdiagnostik ein differenziertes Vorgehen empfohlen. Hier sei der Hinweis wesentlich, dass wiederholte Traumatisierungen, hierzu zähle der sexuelle Missbrauch in der Kindheit, also in der Phase, in der sich die Persönlichkeit entwickle, häufig auch Veränderungen der entstehenden Persönlichkeit, bis hin zu schweren Persönlichkeitsstörungen verursachen könnten.
Die KPTBS sei in der Regel die Folge wiederkehrender Erfahrungen, emotionaler, körperlicher, sexueller und/oder vernachlässigender Misshandlung im Kindesalter. Traumatisierungen dieser Art führten typischerweise zu einer weitreichenden Anpassung an die schädigenden Lebensumstände, hinterließen so tiefe Spuren in der Persönlichkeit und im Erleben der Betroffenen, was die diagnostische Nähe zu den Persönlichkeitsstörungen nochmals begründe.
Der Erkrankungsverlauf der Klägerin mit der schleichenden und chronifizierten Beschwerdeentwicklung ab dem jungen Erwachsenenalter, mit zunächst unspezifischen ängstlichen, depressiven Symptomen und der Ausbildung somatoformer Körperbeschwerden gebe in geradezu klassischer Weise den Verlauf einer komplexen Traumafolgeerkrankung wieder, wie er sich bei zahlreichen Patienten nach sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit ausbilde. Als Charakteristik sei festzuhalten, dass verdrängte und abgespaltene Erinnerungen an kindliche Missbrauchserfahrungen, typischerweise in einem schleichenden Prozess und häufig erst Jahre bis Jahrzehnte der Unfähigkeit, sich zu erinnern, langsam bewusstseinsfähig würden. Charakteristisch sei weiter, dass nach zunächst spontan einschießenden, getriggerten oder assoziativen Erinnerungsfragmenten über einen längeren Zeitraum von zum Teil mehreren Jahren weitere Details erinnerungsfähig würden, wobei typischerweise der fragmentierte Charakter der bewusst werdenden Erinnerung erhalten bleibe.
Während der Abwehrmechanismus der Verdrängung allen erwachsenen Personen zur Verfügung stehe, die mit nicht erwünschten Konflikten oder Belastungen konfrontiert würden, fänden sich bei Kindern im Entwicklungsalter deutliche unreifere Abwehr- und Schutzmechanismen, die bei einer Überforderung der emotionalen Wahrnehmung unbewusst aktiviert und eingesetzt würden. Im Sinne eines inneren Sicherungssystems griffen bei kindlicher und unreifer Persönlichkeitsentwicklung die Abwehrmechanismen von Abspaltung und Dissoziation, um Wahrnehmungsinhalte aus dem Bewusstsein zu entfernen, für die es im jeweiligen Entwicklungsalter noch keine ausreichenden Bewältigungsstrategien gebe. Typischerweise seien dies Erfahrungen von wiederholter sexueller und körperlicher Gewalt im Kindesalter oder von schwerer emotionaler und körperlicher Vernachlässigung. Die traumatische Erinnerungsabspeicherung sei dadurch charakterisiert, dass sie nicht, wie bei einem normalen autobiographischen Erlebnis, das Geschehen wie einen in sich kohärenten Film abbilde, sondern lediglich emotional relevante Details und einzelne sensorische Wahrnehmungen in fragmentierter Form abspeichere, sodass auch bei gelingender Wiedererinnerung häufig nur Erinnerungsfragmente zur Verfügung stünden. Schon die Erinnerungsabspeicherung sei gestört, sodass bei späterem Wiedererinnern nur eine fragmentierte Erinnerungsfähigkeit wiedererlangt werden könne.
Selbst bei psychisch gesunden Personen sei festzustellen, dass autobiographische Erinnerungen in den seltensten Fällen zuverlässig reproduzierbare Inhalte aufwiesen. Trotzdem gehe die aussagepsychologische Begutachtung zu Recht davon aus, dass eine gesunde Erinnerungsfähigkeit autobiographischer Inhalte sensorische und emotionale Erlebnisinhalte ausreichend zuverlässig reproduzieren könne. Die Besonderheiten der traumatischen Erinnerungsabspeicherung machten aber deutlich, dass bereits der Prozess der kindlichen Traumatisierung dazu führe, dass die Anforderungen an eine ungestörte Erinnerungsfähigkeit in der Regel nicht erfüllt werden könnten. Da das Vorgehen der aussagepsychologischen Begutachtung fordere, dass die Nullhypothese (die Erinnerung bzw. die Aussage ist nicht wahr) verworfen werden müsse, ergebe sich aus der traumatypischen Störung der Erinnerungsbildung das Dilemma, dass die Nullhypothese in der Regel nicht widerlegt werden könne. Zudem sei das Vorgehen der aussagepsychologischen Begutachtung ursprünglich als forensisches Instrument entwickelt worden, um durch mögliche falsche Erinnerungen (die es gebe) die Verurteilung unschuldiger Personen zu vermeiden. Die Verwendung der aussagepsychologischen Begutachtung im Sinne eines Beweisverfahrens, ob eine kindliche Traumatisierung stattgefunden habe oder nicht, reproduziere ein Dilemma, welches durch das Verfahren selbst nicht aufgelöst werden könne. Denn die aussagepsychologische Begutachtung weise das Störungsbild nach, dass aufgrund der traumatisierenden Erfahrung in der Kindheit entstanden sei, ohne eine ätiopathogenetische Herleitung des zu beurteilenden Störungsbildes anbieten zu können. Er gehe davon aus, dass die Empfehlung des Bundesgerichtshofes (BGH) von 1999, eine aussagepsychologische Begutachtung als Standard zur Überprüfung bei kindlichen Missbrauchshandlungen zu berücksichtigen, mit den inzwischen vorliegenden psychotraumatologischen Forschungsbefunden nicht mehr dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspreche und eine Verzerrung der Beweisführung bewirke.
Aus der klinisch-traumatologischen Perspektive sei es für eine gutachterliche Bewertung üblich und möglich, die Konsistenz und die Plausibilität der Beschwerdeangaben und Störungsentwicklung zu beurteilen. Mit der Anwendung traumaadaptierter Behandlungsmethoden könne es in einem mehrjährigen Prozess zu einer emotionalen Nachbearbeitung der traumatischen Erfahrungen und zu einer Rückbildung der klinischen Beschwerdesymptomatik kommen, in der Regel verbleibe eine Restsymptomatik. Die Bedeutung einer klinisch-psychotraumatologischen Begutachtung liege darin, dass das psychische Verletzungsmuster erfasst und diagnostiziert werden könne und so Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Verletzungsarten ermögliche. Dieses Vorgehen finde sich vergleichbar bei Unfallsachverständigen oder bei Pathologen, die aufgrund von Autopsiebefunden auf die zugrundeliegenden Verletzungen rückschließen könnten. Er gehe davon nicht davon aus, dass jedes Erinnerungsdetail bei der Klägerin im Detail die ursprüngliche kindliche traumatisierende Szene wiederspiegele, sondern die Erinnerungen insgesamt den Verletzungshintergrund abbildeten, auf dem die spätere Störungsentwicklung aufbaue. Mit den beschriebenen Erlebnisdetails gehe er davon aus, dass die kindlichen Missbrauchserfahrungen tatsächlich stattgefunden hätten und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Großvater als Täter angenommen werden könne. Gleichzeitig gehe es im Rahmen des OEG nur um die Glaubhaftmachung, dass eine betreffende Person Opfer einer Gewalttat geworden sei. Diese Annahme sei durch die zahlreichen klinischen Befunde und den aktuellen Explorationsbefund mit ausreichender Wahrscheinlichkeit aus dem Verletzungsmuster ableitbar.
Hinsichtlich Plausibilität und Konsistenz sei der klinische Eindruck entstanden, dass sämtliche Angaben der Klägerin mit guter Authentizität vorgetragen worden seien, Hinweise auf Aggravation oder Simulation hätten sich nicht ergeben. Die Beschwerdevalidierungstests hätten keine Hinweise auf negative Antwortverzerrungen gezeigt.
Das bei der Klägerin vorliegende Beschwerdebild könne prinzipiell durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit entstanden sein, genauso aber durch wiederholte körperliche Gewalterfahrung oder andere emotional überfordernde traumatisierende Erfahrungen. Die seit 2003 zunehmenden bewusstseinsfähigen Erinnerungen mit intrusivem Wiedererleben bildeten bei fehlenden Hinweisen auf alternative Schädigungsmuster mit hoher Wahrscheinlichkeit die Realität eines früheren sexuellen Missbrauchs ab, ohne dass, aufgrund der anzunehmenden traumaspezifischen Störung der Erinnerungsbildung im Kindesalter, überprüft werden könne, ob jedes Detail der aktuellen Erinnerung sich tatsächlich so zugetragen habe.
Aufgrund der traumaspezifischen Störung der Gedächtnisbildung sei dabei nicht der Maßstab anzulegen, dass jedes Erinnerungsdetail an eine frühe traumatisierende Handlung eins zu eins abgebildet werden müsse. Jedoch sei beim aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erwarten, dass der Schweregrad der Ausbildung einer Traumafolgestörung den Schweregrad der zugrundeliegenden emotionalen Traumatisierung abbilde. Die Beschwerdeentwicklung bei der Klägerin sei mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als Folge der erinnerungsfähigen sexuellen Missbrauchshandlungen anzuerkennen.
B1 weise darauf hin, dass Gedächtnisinhalte ebenso durch autosuggestive oder fremdsuggestive Prozesse veränderbar seien. Dies betreffe gesunde genauso wie erkrankte Personen und trage nicht dazu bei zu erklären, warum sich über zwei Jahrzehnte eine spezifische Traumafolgestörung entwickelt habe. Die Beeinflussbarkeit von Gedächtnisinhalten definiere die Sorgfaltspflicht, die bei intensiven psychotherapeutischen Prozessen zu berücksichtigen sei, um fremdsuggestive Veränderungen auszuschließen.
Hierfür fänden sich in den Behandlungsberichten keine Hinweise. Die aussagepsychologische Behauptung, dass dies nicht auszuschließen sei, werde sich in keinem Fall widerlegen lassen. Von B1 würden keine Hinweise erarbeitet, die diese pauschalisierende Hypothese stützten. Selbst- oder fremdsuggestive Einflüsse auf den Gedächtnisinhalt seien außerhalb jeglicher therapeutischer Bearbeitung prinzipiell möglich. Es gebe in der Vorgeschichte der Klägerin aber keine Hinweise darauf, dass andere schwere Belastungsfaktoren oder sonstige traumatisierende Lebensereignisse eingewirkt hätten, die als Alternativhypothese die Ausbildung des vorliegenden Störungsbildes begründen könnten. Insofern sei davon auszugehen, dass die als Kind erfahrenen Missbrauchshandlungen als gleichwertige Mitursache für sämtliche psychischen Störungsbilder anzusehen seien. Die Tatsache, dass trotz dieses einheitlichen Ursachenzusammenhangs verschiedene Diagnosen nebeneinander benannt würden, sei letztlich in der Logik der ICD-10 begründet, die nach rein deskriptiven Kriterien unterschiedliche Krankheitszustände nebeneinander ordne, wenn ein einheitlicher Ursachenzusammenhang bestehe.
Er stimme nicht mit der Sichtweise von D überein, wenn dieser davon ausgehe, dass die von ihm zu Beginn der therapeutischen Behandlung fokussierten Ängste und Panik sowie die rezidivierende depressive Störung mit suizidalen Krisen unabhängig von der kindlichen Traumatisierungs-Vorgeschichte gedacht werden könne. Die Krankheitsentwicklung sei einer KPTBS zuzuordnen, was zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der noch nicht bewusstseinsfähigen Erinnerungen noch nicht möglich gewesen sei. D schreibe korrekt, dass traumatische Kindheitserlebnisse wie zum Beispiel sexueller Missbrauch einen Risikofaktor für die Entstehung einer Angststörung darstellten. Umgekehrt sei selbstverständlich eine Angststörung nicht immer durch einen stattgehabten sexuellen Missbrauch begründet. Aus der inzwischen vorliegenden Gesamtperspektive ergäben sich im Falle der Klägerin aber keine belastbaren Alternativhypothesen. W1 verweise ebenso auf die spezifischen Besonderheiten des Traumagedächtnisses.
Hinsichtlich des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) sei eine zeitliche Staffelung vorzunehmen, da eine deutliche Besserung des Beschwerdebildes vorliege. Bis zum Jahr 2016 könne von einem GdS von 40 ausgegangen werden, mit der inzwischen vorliegenden deutlichen klinischen Besserung sei nur noch ein solcher von 20 gegeben.
Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 6. Mai 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Es bestehe kein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen des behaupteten sexuellen Missbrauchs durch ihren Großvater. Nicht erwiesen sei, dass es einen solchen tätlichen Angriff gegeben habe. Vorliegend bedürfe es des Vollbeweises eines schädigenden Vorgangs und nicht lediglich seines Glaubhafterscheinens, was die Klägerin verkenne. Der Großvater habe sich zum Tatvorwurf nie geäußert und sei ebenso verstorben wie ihr Vater, den sie als Tatzeugen angegeben habe. Der Anwendungsbereich der Glaubhaftmachung sei aber nicht eröffnet, da die Klägerin aus eigener Erinnerung keine näheren Angaben zu dem schädigenden Vorgang machen könne. Die sexuellen Missbrauchshandlungen seien ihr nicht bewusst gewesen, sondern zu den „Erinnerungen“ sei es erst über eine im Jahr 2000 begonnene analytische Therapie gekommen. Soweit die Klägerin nunmehr vortrage, sich an die sexuellen Missbrauchshandlungen durch den Großvater zu erinnern, sei dies nicht erwiesen.
Auf nicht bewusst Erlebtes deute die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse hin, wobei sich die Klägerin durch die therapeutische Maßnahme auf die hierbei angestellte Mutmaßung fokussiert habe. Aufgrund der angewandten Therapie könnten tatsächliche Erinnerungen nicht mehr zuverlässig von subjektiven unterschieden werden. Es bestehe sowohl die Möglichkeit, dass bis dahin abgespaltene Erinnerungen an traumatische Vorfälle in der Therapie aufgedeckt und damit wiederentdeckt worden seien, als auch die Möglichkeit, dass es sich um Folgen einer Gedächtnistäuschung oder Suggestion handele. Auf die Ausführungen der B1 komme es nicht an, da die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zuträfen, zu den ureigensten Aufgaben des Tatrichters gehöre. Anhaltspunkte dafür, dass die von der Klägerin vorgenommenen Einlassungen durch eine psychische Erkrankung oder deren Behandlung beeinflusst gewesen sein könnten, stellten sich nicht.
Die Wohnung auf S3 sei klein gewesen, wie den Angaben der Zwillingsschwester zu entnehmen sei, sodass es ausgeschlossen sei, dass in dieser Konstellation niemand etwas von den sexuellen Missbrauchshandlungen mitbekommen haben solle. Die Mutter der Klägerin habe weder etwas Auffälliges, noch etwas Anzügliches bestätigen können. Auch die Schwestern hätten keine entsprechenden Beobachtungen geschildert. Es liege zudem fern, dass die sexuellen Missbrauchshandlungen, die nach Angaben der Klägerin immer brutaler geworden seien und sich zu einer Vergewaltigung gesteigert hätten, nicht zu Verletzungen geführt hätten, die ärztlicher Versorgung bedurften. Sexuelle Missbrauchshandlungen seien weder aus gestellten Diagnosen, noch Beschwerdebildern oder einer Therapienotwendigkeit abzuleiten. Es überzeuge daher nicht, wenn F aus dem aktuellen Beschwerdemuster Rückschlüsse auf den Schweregrad der zugrundeliegenden Traumatisierung ziehe. W2 habe nur realitätsnahe Erinnerungen nicht ausschließen können und habe sich auf einen wahren Kern der Missbrauchserfahrung zurückgezogen. Dies sei aber nicht damit vereinbar, dass die angeschuldigte Tat nach ihrem Sachverhalt, ihrem Ort und der Tatzeit ausreichend konkretisiert werden müsse.
Für eine Beschädigtengrundrente wie auch in Bezug auf die sonstigen Versorgungsleistungen fehle es bereits an einem tätlichen Angriff als jeweilige Anspruchsvoraussetzung. Dahinstehen könne deshalb auch, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 OEG vorlägen, wonach Leistungen versagt werden könnten, wenn Geschädigte es unterlassen hätten, dass ihnen Mögliche zur Aufklärung des Sachverhaltes und zur Verfolgung des Täters beizutragen.
Am 17. Juni 2022 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie habe in ihren Stellungnahmen die Vorgänge geschildert und in der vom Beklagten durchgeführten Anhörung habe sie ebenfalls Angaben gemacht, wobei der Beklagte davon ausgegangen sei, dass die Angaben glaubhaft seien und die erforderlichen Realkennzeichen aufwiesen. Sofern sich das SG darauf berufe, dass es der tatrichterlichen Würdigung obliege, ob Angaben zuträfen, sei es angezeigt gewesen, die Schwester und die inzwischen verstorbene Mutter als Zeugen anzuhören. Ferner sei nicht ersichtlich, dass das SG besondere fachliche Kenntnisse im Hinblick auf die Entstehung (traumatischer) Erinnerungen durch Suggestion habe. Sie habe eigene Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch, sodass eine Parteivernehmung durchzuführen sei. Auch wenn das SGG nicht auf die Vorschriften zur Parteivernehmung verweise, müsse die Anhörung der Beteiligten als Aufklärungshilfe akzeptiert werden. Sie habe sich beim SG nur damit einverstanden erklärt, die beabsichtige Zeugeneinvernahme bis zum Vorliegen eines psychotraumatologischen Fachgutachtens zurückzustellen. Es liege ein gut dokumentierter Krankheitsverlauf über einen langen Zeitraum vor der Antragstellung vor, an der Behandlung seien Kliniken beteiligt gewesen, die gerade ihren Schwerpunkt im Bereich der Psychotraumatologie hätten. Die Möglichkeit von Suggestiverinnerungen werde klinisch aus psychotraumatologischer Sicht durch das Verletzungsbild widerlegt. Dies stehe auch nicht dem Grundsatz des BSG entgegen, dass auf das Vorliegen eines tätlichen Angriffs nicht allein aus dem Verletzungsmuster geschlossen werden könne. Das BSG zeige hier zwar die Grenzen auf, wolle aber mit diesem Grundsatz sicherlich nicht verhindern, dass wissenschaftlich zulässige und mögliche Aussagen bei der Beweiserhebung berücksichtigt würden.
Es sei unstreitig, dass keine absichtlich falschen Behauptungen vorlägen. Die Ausführungen des F seien mit der Ausnahme derjenigen zur Höhe des GdS gut begründet. Das SG habe sich den aktuellen Erkenntnissen der Psychotraumatologie nicht verschließen dürfen. Das Sachverständigengutachten der B1 lasse bereits mangels entsprechender Fachkompetenz eine eigenstände Befunderhebung vermissen. Es stehe im Widerspruch zu den Vorbefunden, ohne diese Widersprüche zu erklären. Zwar habe das BSG in Glaubhaftigkeitsgutachten ein akzeptables Verfahren gesehen, um die Glaubhaftigkeit von Aussagen zu beurteilen, jedoch sei nie geäußert worden, dass klinisch traumatologische Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben dürften. Hätte die Sachverständige entsprechende Fachkenntnisse genutzt, wäre sie zu einer anderen Beurteilung gelangt. Über das Sachverständigengutachten des F habe sich das SG ohne nachvollziehbare medizinische Begründung hinweggesetzt.
Die Abweisung der Klage im Hinblick auf eine fehlende Glaubhaftmachung sei höchst fraglich und angreifbar. Aus der Wohnungsgröße und Anzahl der Familienmitglieder könnten keine Rückschlüsse auf den Realitätsgehalt des geschilderten Missbrauchsgeschehens gezogen werden. So sei nicht belegt, dass in kleineren Wohnungen sexueller Missbrauch seltener vorkomme als in größeren oder die Anzahl der Familienmitglieder eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von sexuellem Missbrauch spiele. Ganz im Gegenteil schilderten Opfer sexuellen Missbrauchs regelmäßig Situationen, in denen anwesende Schutzpersonen entweder nichts hätten wahrnehmen können oder wollen. Gerade bei einem Strandurlaub sei es die Regel, dass Familien einen erheblichen Teil des Tages am Meer oder Strand verbrächten, ebenso, das bei Krankheit des Kindes ein Familienmitglied mit diesem alleine zu Hause bleibe. Sexuelle Übergriffe geschähen bekanntermaßen so subtil, dass missbrauchte Kinder regelmäßig schwiegen und keine Hilfe holten. Schließlich erinnere sie sich sogar daran, dass ihr Vater bei einem der Übergriffe im Türrahmen gestanden habe, sie von der Mutter weinend auf der Treppe gefunden worden sei und sich sogar der Schwester anvertraut habe, ohne jedoch für den sexuellen Missbrauch die passenden Worte gefunden zu haben oder vom Gegenüber verstanden worden zu sein.
Offenbar gehe das SG weiter davon aus, dass die Aussage in ihrem Kerngehalt nicht klar genug sein könne, weil die angeschuldigten Taten schon nach ihrem Sachverhalt, ihrem Ort und der Tatzeit nicht ausreichend konkretisiert seien. Die Angaben des D stellten indessen nur beispielhafte Aufzählungen dar, wobei es der Natur der Sache entspreche, dass in derartigen Berichten nicht zwischen realen Erinnerungen und Träumen unterschieden werde. Ihre Schwester sei als Zeugin zu hören, da sie bestätigen könne, dass der Großvater sexuell übergriffig gewesen sei. Das Überschreiten der Grenzen zwischen dem Großvater und der Schwester sei so auffällig, dass sich ein deutlicher Hinweis auf die Persönlichkeit des Großvaters ergebe, sodass die Aussage als Indiz bei der Entscheidung berücksichtigt werden müsse.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Mai 2022 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2018 Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 60 unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit sowie jeweils in gesetzlicher Höhe eine Ausgleichsrente und einen Berufsschadensausgleich, aufgrund sexuellen Missbrauchs durch ihren Großvater im Zeitraum von 1967 bis 1972 ab dem 1. Januar 2011 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 6. Mai 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 15. Februar 2018 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).
Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 5. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch zur Überzeugung des Senats kann sie die Gewährung von Beschädigtenversorgung aufgrund des behaupteten sexuellen Missbrauchs durch den Großvater in den Jahren 1967 bis 1972 nicht beanspruchen, da sich der erkennende Spruchkörper weder davon überzeugen konnte noch die Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Rente vorliegen. Das SG hat die Klage daher zu Recht abgewiesen, weswegen der Senat ergänzend auf die Entscheidungsgründe nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug nimmt, denen er sich nach eigener Würdigung anschließt.
Das Rubrum ist bereits erstinstanzlich zutreffend geändert worden, da nach Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (OEG) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes vom 15. April 2020 (BGBl. I S. 812) für die Entschädigung dasjenige Land zuständig ist, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz hat. Durch den somit kraft Gesetzes eingetretenen Beteiligtenwechsel war das Passivrubrum zu ändern (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 18. November 2015 – B 9 V 1/15 R –, juris, Rz. 14) und das Land Baden-Württemberg aufzunehmen.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS - bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).
Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):
Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.
Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 ‑ B 9 VG 2/10 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 1/13 R ‑, juris, Rz. 23 ff.).
In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176, § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 ‑ B 9 VG 1/09 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 4/93 -, BSGE 77, 7, <8 f.> und - 9 RVg 7/93 -, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R -, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 6/13 R -, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 ‑ B 9 V 23/01 B ‑, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend - seit Juli 2004 - den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 und 12 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 6/13 R ‑, juris, Rz. 17).
Nach diesen Maßstäben besteht zur Überzeugung des Senats nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass sich ein sexueller Missbrauch zu Lasten der Klägerin durch ihren Großvater zugetragen hat, sodass dieser nicht wenigstens glaubhaft gemacht ist.
Der Senat geht ausgehend von den dargelegten Grundsätzen wie das SG von dem Beweismaßstab des Vollbeweises aus, weil es für die behaupteten Tatkomplexe wenigstens vier mögliche Tatzeugen gibt, die allesamt zu keinem Zeitpunkt die Version der Klägerin gestützt haben. Da ist zum einen der mittlerweile verstorbene Vater zu nennen, der direkt bei dem laufenden Missbrauch anwesend gewesen sein soll, aber diesen weder verhindert, geschweige denn etwas gesagt haben soll, was schwerlich so sein kann und wofür noch nicht einmal die Klägerin ein Motiv benennen kann. Da ist zum anderen die ebenfalls verstorbene Großmutter, in deren Bett während deren Abwesenheit der Großvater wiederholt in die Scheide der Klägerin eingedrungen sein soll, ohne dass diese etwas bemerkt oder gar darüber geäußert hat, obwohl sie bei dem Vorfall im Bad ihren Gatten fast entdeckt haben soll. Und schließlich sind das vor allem ihre Zwillingsschwester und ihre Mutter, die beide von dem Beklagten nach entsprechender Belehrung gehört worden sind, aber die Vorwürfe nicht bestätigen konnten. In deren gemeinsamen Bett bzw. Zimmer soll nämlich der regelmäßige Missbrauch stattgefunden haben, den die Klägerin abschließend in einem Ausmaß geschildert hat, dass ihr Großvater bei jeder Gelegenheit seine Finger in ihre Scheide eingeführt habe, ohne dass beide jemals etwas davon bemerkt oder darüber geäußert haben. Das ist im Falle der Zwillingsschwester deswegen bemerkenswert, weil die Klägerin dieser gegenüber als einzige davon erzählt haben will, was zu der Nachfrage führte, ob ihr Schmerzen zugefügt wurden, ein Umstand, der eigentlich zu erhöhter Wachsamkeit hätte führen müssen. Am deutlichsten wird das indessen bei der Mutter, die Zeugin des brutalsten Übergriffs hätte sein müssen, nämlich der Vergewaltigung im mütterlichen Bett, was ein hohes Entdeckungsrisiko für den Täter begründet. Die Mutter muss nach ihrer Rückkehr nach der Schilderung der Klägerin einen Verdacht gehabt haben, denn anders ist ihre Rückfrage, „was er mit ihr gemacht habe“, nicht zu erklären, zumal die Klägerin geweint haben soll. Bei der vollendeten Vergewaltigung eines nicht geschlechtsreifen Kindes muss es darüber hinaus zu entsprechenden Verletzungen, zumindest Blutung infolge des Einreißen des Jungfernhäutchens (Hymen) gekommen sein, was ihre Mutter hätte bemerken müssen, ebenso das anschließende typische Reinigen der Intimregion nach einem solchen Missbrauch, was in dem kindlichen Alter ungewöhnlich ist. Die Mutter, die ebenfalls während des erstinstanzlichen Verfahrens verstorben ist, hat indessen von dem Beklagten gehört keine eigenen Beobachtungen schildern können. Dass dies in falsch verstandener Familiensolidarität begründet ist, erachtet der Senat angesichts des Umstandes, wie bereitwillig Mutter und Zwillingsschwester dem Großvater die Taten zutrauen, für ausgeschlossen.
Der Umstand, dass die möglichen Tatzeugen also sämtlich nichts beobachten konnten, führt nicht dazu, dass es zu einer Beweiserleichterung kommt, sondern dass konsequent die Maßstäbe der Beweiswürdigung angelegt, die beweisverpflichtete Klägerin den erforderlichen Beweis also nicht erbringen kann.
Nichts Anderes gilt bei Zugrundelegung des § 15 Satz 1 KOVVfG, also unter der Annahme, dass für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 9 RVg 3/89 –, juris, Rz. 12). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R –, juris, Rz. 30).
Der Senat hatte insoweit zu würdigen, dass sich die Klägerin zeitnah nicht bewusst an die Ereignisse erinnern konnte, also eine frühe Erstaussage fehlt, obwohl es sich um einschneidende Erfahrungen gehandelt haben muss. Zwar ist die kindliche Erinnerung auch zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr auf wesentliche Ereignisse beschränkt, die aus kindlicher Wahrnehmung verstanden werden. Also wäre vorliegend sexuelles Wissens erforderlich, was aus dem wissenschaftlich fundierten, mit aktuellen Literaturrecherchen belegten Gutachten der Sachverständigen B1 folgt (unter Hinweis auf die Veröffentlichungen von M. Howe, Memory Development, 2013, 2015). Das ist über die behauptete abgespaltene oder verdrängte Speicherung mit Wiederaufleben von Gedächtnisinhalten gedächtnispsychologisch nicht erklärbar, vielmehr nahezu unmöglich (Rohmann, Erlebnis und Gedächtnis, in: Praxis der Rechtspsychologie 2018, S. 23 ff.), worauf B1 zutreffend verweist.
Die konkrete Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung ergibt, dass sich die Klägerin erst 2003 im Rahmen einer Psychotherapie im Alter von 40 Jahren erinnern, anfangs nur pauschale Angaben zu den vermeintlichen Ereignissen machen konnte, diese nur in einen äußerst groben zeitlichen und inhaltlichen Bezug setzte, im Laufe des Verfahrens wie der Therapien hat sie diese dann immer mehr präzisiert und ausgeweitet. Das kann aus forensischer Sicht dazu führen, dass Gedächtnisinhalte therapeutisch beeinflusst werden, also nicht mehr auf realem Erleben beruhen, sondern Scheinerinnerungen sind. Die dafür erforderliche aktive Suggestion durch den Psychotherapeuten kann neben Erklärungs- und Deutungsangeboten auch allein in der fehlenden kritischen Hinterfragung liegen, worauf die B1 verweist, was aber in der fachlichen Auseinandersetzung mit W2, D und nicht zuletzt dem Gutachten des F nicht als Erklärungsmodell gewürdigt, sondern negiert wird.
Ausgehend davon hat die Klägerin im Laufe der Therapie, wie B1 schlüssig aufgezeigt hat, die Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs für sich als real akzeptiert, was zum Auftauchen weiterer Bilder führte. Nicht anderes beschreibt D in seinen Berichten. Die Sachverständige hat weiter aufgezeigt, dass bereits vor dem Wiedererinnern ein Bedürfnis der Klägerin bestanden hat, sich selbst und ihre Symptomatik zu verstehen, nämlich, dass sie sich anders erlebt und damit einhergehend seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr psychisch auffällig mit starkem Therapiebedarf war. Von der Erklärung durch einen sexuellen Missbrauch geht damit nachvollziehbar eine sekundär wirkende Erleichterung oder Entlastung aus. Im Übrigen verweist sie, wissenschaftlich belegt (vgl. den Verweis auf Volbert/Schemmel/Tamm, Die aussagepsychologische Begutachtung: eine verengte Perspektive? in: Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2, 108 – 124 [2019]), darauf, dass es für eine aktive Suggestionskomponente keines direkten Einflusses Dritter bedarf, sondern das therapeutische Setting und die Reaktionen des Therapeuten bereits ausreichend sind um den Akzeptanzprozess zu fördern, wovon bei der Klägerin auszugehen ist. Diese Akzeptanz begünstigt gleichzeitig die Ausweitung irrealer Vorstellungen, sodass wenn, wie bei der Klägerin, neue Bilder auftauchen, ein konstruktiver und nicht allein rekonstruktiver Prozess einsetzt. Daneben weist sie auf die Bedeutung autosuggestiver Prozesse hin. Solche haben mit B1 bei der Klägerin einerseits dadurch stattgefunden, dass sie sich Fotos angeschaut, sich schriftlich mit diesen und ihren Gefühlen auseinandergesetzt und andererseits dadurch, dass sie sich über Randumstände vergewissert hat. Diese intensive Beschäftigung mit den Erinnerungen außerhalb der Therapiesitzungen erklärt zusätzlich, weshalb die Erinnerungsbilder dabei aufgetaucht sind. Daneben verneint die Sachverständige schlüssig einen Automatismus dahingehend, dass die Erinnerungen zwingend während Therapiesitzungen auftreten müssen, was F bestätigt. Wenn letzterer hingegen meint, die Frage nach der Beeinflussbarkeit definiere nur die Sorgfaltspflicht im psychotherapeutischen Prozess, greift dies deshalb zu kurz, da die Ebene der Autosuggestion, die bei der Klägerin ebenso eine Rolle gespielt hat (vgl. oben), ausgeblendet wird.
Insbesondere die „Flashback“-Erinnerungen, die bei der Klägerin nach den Berichten des D, die der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), aufgetreten sind, müssen nicht tatsächlich Erlebtem entsprechen, können aber dennoch Symptome einer PTBS verursachen. Dies entnimmt der Senat den Ausführungen der Sachverständigen B1, die diese wissenschaftlich untermauert hat (vgl. der Verweis auf Volbert, Beurteilungen von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung, Göttingen 2004). Bei den Erinnerungsfragmenten kann es sich um eine Mischung aus realen, befürchteten und vorgestellten Elementen handeln, was D und W2 letztlich bestätigen, wenn sie ausführen, dass nicht alle Fragmente auf tatsächlich Erlebtem basieren und sich hier keine Abgrenzung vornehmen lässt. Dass es aus therapeutischer Sicht unerheblich sein mag, wie D und W2 meinen, das nicht hinsichtlich jeder Erinnerung der Realitätsbezug geprüft und festgestellt werden kann, vielmehr davon ausgegangen werden muss, dass auch Scheinerinnerungen aufgetreten sind, führt zu keiner anderen Beurteilung im Hinblick auf die Glaubhaftmachung des schädigenden Ereignisses.
Dem Sachverständigengutachten der B1 entnimmt der Senat weiter, dass es charakteristisch für Scheinerinnerungen ist, dass diese nur fragmentarisch sind, keine Einbindung in ein Vor- und Nachher zeigen. Ausgehend von ihren Schilderungen hat die Klägerin ein nach Sachverhalt, Ort und Tatzeit hinreichend konkretisiertes Geschehen zunächst nicht beschrieben. Dabei ist insbesondere die Tatzeit nicht nur für die Anwendung der Übergangsregelung (vgl. § 10a OEG) relevant, sondern darüber hinaus für Fragen beispielsweise hinsichtlich der Verjährung des Regresses (vgl. Senatsurteil vom 6. Dezember 2018 – L 6 VG 2096/17 –, juris, Rz. 73). Die Angaben überschreiten in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung ein schemenhaftes Wissen und ein formelhaftes Niveau nicht, wie die Sachverständige B1, für den Senat überzeugend, herausgearbeitet hat. Im Übrigen hat die Klägerin selbst bekundet, die Häufigkeit der Taten nur anhand der hochgerechneten Kontakte zu den Großeltern berechnet zu haben. Die 50 Taten beruhen damit auf ihrer fiktiven Annahme, bei jedem Besuch der Großeltern sei es zu Übergriffen gekommen, sodass ein realer Hintergrund gänzlich fehlt.
Dass die Klägerin schon früh an Angststörungen gelitten hat, wozu dann weitere psychische Störungsbilder hinzutraten, entbindet nicht davon, die behauptete Missbrauchserfahrung zu validieren, was aber der Gutachter F meint (dazu im Einzelnen unten). Denn die psychische Erkrankung der Klägerin kann mannigfaltige Ursachen haben und ist deshalb nicht allein geeignet, mit ausreichender Wahrscheinlichkeit den Beweis zuführen (Aymans/Friedrich, Aussagepsychologische Gutachten in der Opferentschädigung, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, 2016, S. 626 ff.).
Ebenso wie das SG konnte sich daher der Senat nicht davon überzeugen, dass es sich bei dem geltend gemachten Missbrauch um erlebnisbasiertes Vorbringen handelt.
Die Mutter und den Schwestern der Klägerin, deren Aussagen der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, haben übereinstimmend verneint Wahrnehmungen getätigt zu haben, die Übergriffe des Großvaters auf die Klägerin belegen. Die Klägerin selbst hat gegenüber der Sachverständigen B1 erzählt, dass ihre Schwestern und die Mutter nie etwas mitbekommen haben und die Mutter ihr gesagt hat, dass sie so etwas nicht geduldet hätte. S7, deren Stellungnahme im Klageverfahren der Senat als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet, hat hierzu schlüssig ausgeführt, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Fehlverhalten einer Person nicht dadurch erhöht wird, dass dieser ein solches zugetraut wird und dass empirisch eine erhöhte Bereitschaft belegt ist, dass Falschinformationen über eine Person umso eher übernommen werden, je mehr sie in das Denkschema passen. Die Angaben der Mutter und der Schwestern, dass sie einen Missbrauch durch den Großvater für möglich hielten, sind deshalb kein tragfähiges Indiz.
D geht daher zu Unrecht davon aus, dass die Mutter und die Schwestern der Klägerin diese Angaben bestätigt hätten. Tatsache ist vielmehr, dass sie zu den fraglichen Geschehnissen gerade keine Angaben machen konnten und lediglich außerhalb des Missbrauchsgeschehens liegende Umstände, wie die Wohnungseinrichtung der Großeltern, bezeugt haben. Aus diesen – bestätigenden – Angaben zu dem Randgeschehen lassen sich keine Schlussfolgerungen auf ein mögliches Missbrauchsgeschehen ziehen. Sie sind nicht auf das Kerngeschehen bezogen, eine Verknüpfung von Falscherinnerungen mit realen Details ist eher die Regel als die Ausnahme, wie B1 dargelegt hat.
Den Beweisantrag, die Schwester der Klägerin als Zeugin zu hören, hat der Senat abgelehnt. Diese ist vom Beklagten bereits schriftlich befragt worden, sodass es sich um eine wiederholte Beweiserhebung handeln würde, die nicht geboten ist. Im Übrigen hat die Schwester bereits deutlich bekundet, zu Vorfällen zwischen der Klägerin und ihrem Großvater keine Beobachtungen gemacht zu haben. Selbst wenn der Großvater gegenüber der Schwester sexuell übergriffig gewesen sein sollte, was sie so nicht bestätigt hat, ließen sich daraus keine Rückschlüsse hinsichtlich der Klägerin ziehen. Der Senat hat keinen Anlass, an der Glaubwürdigkeit der Zeugin zu zweifeln. Einer persönlichen Anhörung bedurfte es deshalb nicht.
Der Klägerin ist durch die anberaumte mündliche Verhandlung Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden, einer weitergehenden Anhörung durch den Senat zur Sachverhaltsaufklärung bedurfte es, entgegen der Auffassung der Klägerin, nicht. Dass es sich bei der Parteivernehmung im sozialgerichtlichen Verfahren um kein zulässiges Beweismittel handelt, weil §§ 118 Abs. 1 SGG nicht auf die §§ 445 ff. ZPO verweist, legt die Klägerin selbst dar (vgl. BSG, Beschluss vom 14. Oktober 2008 – B 13 R 407/08 B –, juris, Rz. 18), im Übrigen ist der Sachverhalt indessen vollständig aufgeklärt. Die Klägerin hat sowohl gegenüber dem Beklagten als auch gegenüber den Sachverständigen ausführliche Angaben zum Sachverhalt gemacht, die der Senat bei seiner Entscheidung gewürdigt hat.
Die Argumentation des F führt zu einem Zirkelschluss und überzeugt daher nicht. Dieser unterstellt einen sexuellen Missbrauch als gegeben, baut auf dieser Mutmaßung die Diagnosestellung dadurch auf, dass er vermeintlich typische Erkrankungsverläufe zu identifizieren versucht und schließt dann aus dem zu erhebenden Befund bzw. den „typischen“ Symptomen, auf die schwere des Ereignisses. Er setzt damit das schädigende Ereignis, um dessen Prüfung es geht, initial voraus und nimmt dann aus der Ausprägung der Symptome einen Rückschluss auf die Schwere des Ereignisses vor. Ein Erkenntnisgewinn zu dem Ereignis selbst ergibt sich hieraus nicht. Es bedarf vielmehr zunächst – im anzuwendenden Beweismaßstab – der Sicherung der Anknüpfungstatsachen und erst hieran kann sich die Diagnosestellung anschließen, wie dies B1 richtigerweise angewandt und dargelegt hat. F verkennt, dass aktuelle Behandler/Untersucher gerade keine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten hinsichtlich des schädigenden Ereignisses haben, sondern nur Angaben über Symptome machen können und im Übrigen auf Angaben vom Hörensagen angewiesen sind (vgl. Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 73).
Der Vergleich des F mit der Arbeit eines Unfallsachverständigen oder eines Gerichtsmediziners geht deshalb fehl, da diese sich auf objektivierbare Anknüpfungstatsachen, wie eine tatsächlich bestehende Stichverletzung, stützen, um hieraus Schlussfolgerungen auf einen Ereignishergang oder ein Tatwerkzeug ziehen zu können. Solche objektivierbaren Anknüpfungstatsachen bestehen vorliegend indessen gerade nicht, sondern F will aus rein subjektiven Angaben und einem aus subjektiven Überzeugungen der Klägerin verfestigten Bild, dessen Realitätsgehalt er letztlich nach eigenem Bekunden nicht prüfen kann, Rückschlüsse auf einen objektiv geschehenen Missbrauch ziehen.
Soweit er die Anwendung der sogenannten Nullhypothese bei kindlicher Traumatisierung bemängelt, übersieht er, dass das BSG dem ausdrücklich eine Absage erteilt und dargelegt hat, dass es aus diesen Gründen keines Hinweises des Gerichts an den aussagepsychologischen Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S. 1 KOVVfG bedarf. Aussagepsychologische Gutachten sind nämlich von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit von alternativen Hypothesen zu prüfen. Von einem aussagepsychologischen Sachverständigen dennoch eine derartige Prüfung zu verlangen, hieße, diesen in seiner Sachkompetenz zu überfordern (BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 23, Rz. 45). In diesem Zusammenhang ist insbesondere in Rechnung zu stellen, dass bloße Scheinerinnerungen auch ohne tatsächliche traumatische Ereignisse Symptome einer PTBS auslösen können, wie der Senat den wissenschaftlich untermauerten Ausführungen (vgl. die Verweise auf Rosen/Lilienfeld, Posttraumatic stress disorder: An empirical evaluation of core assumptions in: Clinical Psychology Review 28 [5], S. 837 bis 868; Rosen/Taylor, Pseudo-PTSD in: Journal of Anxiety Disorders 21 [2], S. 201 bis 210; Rubin/Berntsen/Bohni, A momory-based model of posttraumatic stress disorder: Evaluating basic assumptions underlying the PTSD diagnosis in: Psychological Review 115 [4], S. 985 bis 1011) der B1 entnimmt.
S7 konnte schlüssig aufzeigen, dass der Erkenntnisgewinn einer inhaltsorientierten Qualitätsanalyse bei der Klägerin invalidiert ist und deshalb keine richtungsweisenden anderen Ergebnisse bei Untersuchungen mehr zu erwarten sind. Dabei hat sie insbesondere herausgestellt, dass auch bei suggestionsbasierten Scheinerinnerungen die Verknüpfung mit realen Details eher die Regel als die Ausnahme ist. Dass die Gedächtnisrepräsentationen bestimmte Dinge aus den Rahmenumständen der damaligen Familie beinhalten, ist daher, so S6, kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen Falscherinnerungen und erlebnisbasierten Erinnerungen. Es überzeugt deshalb nicht, wenn F meint, sämtliche bisherigen Diagnosen seien falsch und müssten aufgrund der jetzigen Symptome revidiert werden. Diese Vorgehensweise führt lediglich dazu, die vertiefte Rekonstruktion der Aussageentstehung und –entwicklung zu übergehen, die aber zentral für die Wertung ist (vgl. die Darlegungen von S7 und B1).
F übersieht weiter, dass die von ihm herangezogenen Befundunterlagen jeweils nur Rückschlüsse aus den anamnestischen Angaben der Klägerin selbst enthalten, diese aber weder kritisch hinterfragt wurden, noch Feststellungen zu den vermeintlichen Missbrauchsereignissen getroffen wurden, wie B1 zu Recht bemängelt. Unschlüssig ist es deshalb, wenn L in seiner Stellungnahme meint, Pseudoerinnerungen deshalb ausschließen zu können, weil die Klägerin ein typisches Symptombild für einen Missbrauch gezeigt habe. Er berücksichtigt hierbei nicht, dass es ein Charakteristikum der Genese von Pseudoerinnerungen darstellt, dass diese sich mit dem wiederholten Abruf von anfänglich fragmentarischen Bildern und Eindrücken klarer und inhaltlich detaillierter darstellen, wie der Senat dem Sachverständigengutachten der B1 entnimmt.
F verkennt die rechtlichen Maßstäbe des OEG, wenn er ausführt, dass die traumaspezifische Erinnerungsbildung prinzipiell durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit entstanden sein könne, genauso aber durch wiederholte körperliche Gewalterfahrung oder andere emotional traumatisierende Erfahrungen. Das OEG verlangt nämlich tatbestandsmäßig keine emotional traumatisierende Erfahrung, sondern einen tätlichen rechtswidrigen Angriff, wobei ein solcher nicht in jeder emotional traumatisierenden Erfahrung liegen kann und – gerade im Hinblick auf das früher geltende elterliche Züchtigungsrecht – nicht in jeder wiederholten körperlichen Gewalterfahrung. Das BSG hat erst kürzlich bekräftigt (Urteil vom 24. September 2020 – B 9 V 3/18 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 24 Rz 20), dass im Unterschied zu dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG daher in der Regel durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person auszeichnet, also körperlich auf einen anderen einwirkt, aber nicht unbedingt durch ein aggressives Verhalten des Täters (unter Verweis auf Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 37). Es führt daher nicht weiter, wenn der Sachverständige, nachdem er das schädigende Ereignis als solches schon unterstellt (vgl. oben), sich darauf beschränkt, alternative Ursachen deshalb auszuschließen, weil die vom sexuellen Missbrauch subjektiv überzeugte Klägerin solche nicht beschrieben habe.
Weiter übersieht er, ebenso wie D und W2, dass Prüfungsgegenstand des Verfahrens weder die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten einer PTBS noch deren richtlinienkonforme Durchführung sind. Wenn W2 ausführt, dass die Arbeit mit Erinnerungsbewertungen und subjektiven Erklärung wesentlich sei und D darauf hinweist, dass es grober Kunstfehler sei, in einer Phase des therapeutischen Prozesses dem Patienten mit der Haltung zu begegnen, dass es sich wahrscheinlich um Erinnerungstäuschungen handele, mag dies aus therapeutischen Gesichtspunkten zutreffend sein und ein leitliniengerechtes Vorgehen darstellen. Dies hat B1 in ihrem Sachverständigengutachten weder in Frage gestellt, noch ein therapeutisches Fehlverhalten angenommen. Ausdrücklich weist sie darauf hin, dass eine wenig erlebnisfundierte Realität zwar ihren therapeutischen Zweck erfüllen kann, hieraus aber kein Beleg für die Zuverlässigkeit der Angaben resultiert. Weiter hat sie hat lediglich die Wirkungen des therapeutischen Prozesses dahingehend beschrieben, dass Scheinerinnerungen hierdurch zum einen erzeugt wie unterhalten werden können und zum anderen diese Scheinerinnerungen selbst geeignet sind, Symptome einer PTBS auszulösen. Damit bestätigt sie die Ausführungen der T-F, dass psychische Störungsbilder hinsichtlich ihrer möglichen Ursachen so vielgestaltig sind, dass nicht von einer Diagnose auf ein schädigendes Ereignis geschlossen werden kann. Hinsichtlich der Wirkungen der Therapie hat bereits S5 versorgungsärztlich im Verwaltungsverfahren schlüssig dargelegt, dass sich im therapeutischen Prozess die anfänglichen Zweifel an der Erlebnisbasiertheit bei der Klägerin zu einer Gewissheit entwickelt haben, was letztlich so in den Befundberichten des D dokumentiert ist. Es führt daher nicht weiter, wenn die Klägerin meint, dass erst über die Diagnose eine erfolgreiche Therapie habe erfolgen können. Im Übrigen hat W1 selbst beschrieben, dass die Zielrichtung der Traumatherapie ist, den Umgang mit Erinnerungen zu erlernen und helfen soll damit zu leben, die Aufklärung des vermeintlichen schädigenden Ereignisses also nicht im Vordergrund steht.
Der Umstand, dass die ICD-11, die erst zeitlich nach der Begutachtung des F, nämlich ab 1. Januar 2022, überhaupt in Deutschland anwendbar ist, die Diagnose einer KPTBS enthält, stellt einen gegenüber der ICD-10 aktuelleren wissenschaftlichen Erkenntnisstand dar (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 – B 2 U 9/20 R –, juris, Rz. 21), der bereits in der AWMF S3-Leitlinie „Posttraumatische Belastungsstörung“ in der Version vom 19. Dezember 2019 Berücksichtigung gefunden hat. Der Sachverständige hat somit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und die Änderungen in den diagnostischen Klassifikationen berücksichtigt. Das entbindet aber im Rahmen des Opferentschädigungsrechtes nicht von der nach § 1 OEG erforderlichen Kausalitätsprüfung, was F nicht beachtet. Die Einführung der Diagnose rechtfertigt es nicht, von differentialdiagnostischen Erwägungen abzusehen und zu einer monokausalen Betrachtungsweise überzugehen. Genau diese differentialdiagnostischen Erwägungen hat D angestellt, als er in seinem Befundbericht aufgezeigt hat, dass die zu Beginn der Behandlung beschriebenen Ängste und die rezidivierende depressive Störung mit suizidaler Krise unabhängig von einer Traumatisierung in der Kindheit gedacht werden können. Hierzu hat S7 überzeugend herausgearbeitet, dass die interventionsbedürftige erste Krise in einem Zusammenhang mit der damaligen Trennung gestanden hat und damit Sachverhalte maßgebend waren, die keine Verbindung zu dem schädigenden Ereignis haben, es also an der Kausalität fehlt. Schlüssig untermauert sie dies mit dem Hinweis, dass die Ursachen von Angsterkrankungen multifaktoriell sind und daraus, dass traumatische Kindheitserinnerungen ein Risikofaktor für Angsterkrankungen sind, nicht von einer Angsterkrankung auf einen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Ebenso ist den Berichten des D zu entnehmen, dass der Verlust der Kinder im dritten Schwangerschaftsmonat eine schwere Belastung dargestellt hat und es durch die Schwangerschaft der Zwillingsschwester, durch den Neid auf diese, zu einer deutlichen Verschlechterung der depressiven Symptomatik kam. Daneben werden Ängste hinsichtlich des wohl alkoholkranken Vaters und dessen Jähzorn beschrieben, worauf D die von der Klägerin angegebene Angstreaktion auf einen alkoholisierten Mann zurückgeführt hat, was aber mit einem vermeintlichen Missbrauch ebenfalls nicht in Zusammenhang steht. Letztlich sind mehrfach Arbeitsplatzkonflikte als die Verschlechterung auslösende Ereignisse in den Behandlungsberichten beschrieben. Dass es keine sonstigen Belastungsfaktoren gebe, wie F glauben machen will, trifft daher nicht zu.
Die Ausführungen der S7 zu den konkurrierenden Ursachen werden durch die Sachverständige B1 gestützt. Diese hat herausgearbeitet, dass bei der Klägerin eine dissoziative Störung belegt ist und Untersuchungen gezeigt haben, dass Personen mit erhöhten dissoziativen Tendenzen und guten Imaginationsfähigkeiten gelernt haben, Informationen aus externen Quellen in autobiographische Narrative zu integrieren und deshalb stärker geneigt sind, suggerierte Inhalte zu übernehmen. Daneben begründet die Tatsache, dass die Klägerin das Vergewaltigungsgeschehen von außen wahrgenommen haben will, so B1, Zweifel an einer realitätsbezogenen Wahrnehmung. Korrespondierend hierzu hat S6 darauf hingewiesen, dass es auffallend ist, dass die Behandlung überwiegend durch männliche Therapeuten erfolgte, obwohl ältere Männer nach Angaben der Klägerin eine Triggerung bewirken. Diesen differentialdiagnostischen Überlegungen, die seinem Ergebnis entgegenstünden, verschließt sich F dadurch, dass er die bisherigen Diagnosestellungen als falsch bezeichnet und alle beschriebenen Symptome monokausal nur dem – unterstellten – sexuellen Missbrauch zuschreibt.
Die diagnostischen Ausführungen des F sind weiter deshalb nicht schlüssig, weil er selbst beschreibt, dass die KPTBS Zustände infolge wiederholt wiederkehrender Ereignisse abbildet, ohne dass er diese benennt. Die Klägerin selbst hat nämlich die Zahl der sexuellen Übergriffe lediglich geschätzt und ihre zeitlichen Angaben sind nur vage. Daneben sieht F nur das Kerngeschehen als erwiesen an und räumt selbst ein, dass nicht sicher unterschieden werden kann, welche der von ihm konstatierten Erinnerungsfragmente tatsächlichen Geschehnissen entsprechen und welche nicht. Nach seinen eigenen Darlegungen fehlt es mithin schon an den Anknüpfungstatsachen dafür, um von wiederholt wiederkehrenden Ereignissen ausgehen zu können. Es besteht daher nicht mehr als eine Mutmaßung dafür, dass sich wiederkehrende Ereignisse zugetragen haben. Anstatt von der Schwere der gegenwärtigen Symptomatik auf die Schwere des Ereignisses rückzuschließen, hätte er sich damit zu befassen gehabt, welche Missbrauchsereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Auch wenn es einen gewaltlosen sexuellen Missbrauch gegeben kann (vgl. oben), können einem übergriffigen Verhalten alleine sicherlich nicht dieselben Folgewirkungen zugeschrieben werden, wie der Vergewaltigung einer Acht- oder Neunjährigen. Gerade bei der Beschreibung der Klägerin, dass der Großvater in sie eingedrungen sei und sie nur noch den Schmerz erinnere, hätte sich der Sachverständige zur Plausibilisierung des Vorbringens einerseits mit der Frage organischer Folgen befassen und andererseits würdigen müssen, dass die Klägerin auch bei seiner Untersuchung ihre Sexualität als uneingeschränkt und lustvoll beschrieben hat. Übergangen wird von dem Sachverständigen weiter, dass die Klägerin bislang geltend gemacht hat, nur noch den Schmerz zu erinnern und danach „dissoziiert“ zu sein, nunmehr angibt, danach geweint und sich gewaschen zu haben, also das Geschehen deutlich ausweitet. Ebenso hat sie ihm von zehn erinnerungsfähigen Ereignissen berichtet, während zuvor weniger angegeben worden sind.
F lässt stattdessen offen, welche Erinnerungen auf tatsächlich Erlebtem beruhen und welche gerade nicht. Tatsächliche objektive Anknüpfungstatsachen für ein reales Geschehen benennt er keine. Zu Recht hat das SG in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass wenn der Großvater im Laufe der Zeit immer brutaler vorgegangen ist, Verletzungen oder ärztliche Behandlungen dokumentiert sein müssten, was nicht der Fall ist. Weiter wäre zu erwarten, dass wenn der Großvater die maximal neunjährige Klägerin im Genick gepackt oder von vorne gewürgt hätte, wie sie behauptet, es zu sichtbaren Verletzungen im Halsbereich gekommen ist, die der Mutter oder den Schwestern hätten auffallen müssen.
Mit solchen fehlenden tatsächlichen Anknüpfungspunkten setzt sich F nicht auseinander und hinterfragt die Angaben der Klägerin nicht. Hierzu bestand für ihn schon wegen der Beschreibung der Klägerin ihm gegenüber Veranlassung, dass sie sich mit ihrer Zwillingsschwester ein Zimmer geteilt hat. Ihm hätte auffallen müssen, dass es unplausibel ist, dass sich der Großvater nachts in das Zimmer der Klägerin geschlichen haben und diese – durch welche konkreten Handlungen auch immer – sexuell belästigt und/oder misshandelt haben soll, ohne dass die Schwester hiervon etwas mitbekommen hat. Dies vor allem, weil die Klägerin ein lautes Knarren der Dielen beschrieben hat, wenn der Großvater in das Zimmer gekommen ist. Dass die Schwester keine eigenen Wahrnehmungen gemacht hat, folgt aus ihrer urkundsbeweislich verwerteten Zeugenaussage. Zu hinterfragen gewesen wäre weiter ihr Vorbringen, dass sie, nachdem die Großmutter ihr ein Märchen vorgelesen und das Schlafzimmer verlassen habe, zu ihrem Großvater ins Bett gekrochen sein will, um mit diesem zu kuscheln, obwohl diesem Ereignis schon Übergriffe des Großvaters vorausgegangen sein sollen. Unplausibel ist es weiter, wenn die Klägerin geltend macht, von ihrem Großvater mit Nichtbeachtung bestraft worden zu sein. Beides deutet darauf hin, dass sie seine Nähe aktiv gesucht hat.
Ebenso hätte der Sachverständige die Angabe der Klägerin kritisch zu würdigen gehabt, dass sie häufig bei gemeinsamen Essenszenen mit anderen Personen flüchten müsse, nachdem sie ihm zur Freizeitgestaltung beschrieben hat, häufig mit ihrem Mann abends essen zu gehen und am Wochenende mit Freunden zusammen zu kochen, sich also regelmäßig den vermeintlichen Trigger-Situationen aussetzt. Wie sich das Vorbringen der Klägerin, Menschenmengen zu meiden, mit der Angabe vereinbaren lassen soll, dass sie gerne ins Kino oder zum Shoppen in die Stadt gehe, wo genau derartige Belastungen bestehen, bleibt ebenfalls unerörtert.
Mit der vom SG zu Recht aufgeworfenen Frage, wie plausibel es ist, dass in den beschriebenen räumlich beengten Verhältnissen in der Wohnung der Großeltern auf S3 die vermeintlichen Übergriffe von sämtlichen anderen Familienmitgliedern unentdeckt geblieben sein sollen, insbesondere wenn diese mit Gewalttätigkeiten einhergegangen sind, wie die Klägerin behauptet, setzt sich der Sachverständige ebenfalls nicht auseinander. Die Zwillingsschwester der Klägerin hat diese beengten räumlichen Verhältnisse in ihrer Zeugenaussage nämlich ausdrücklich bekundet und auf das Fehlen von Rückzugsmöglichkeit hingewiesen. Mit seinen Plausibilitätsüberlegen hat das SG lediglich die subjektiven Angaben in einen Bezug zu den objektiven Rahmenbedingungen gesetzt. Anders als die Klägerin glauben machen will, hat das SG in keiner Weise behauptet, dass in kleineren Wohnungen sexueller Missbrauch seltener vorkomme oder die Anzahl der Familienmitglieder eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von sexuellem Missbrauch spiele.
Die weitere Behauptung der Klägerin, sich der Zwillingsschwester im Alter von 5 Jahren offenbart zu haben, hat diese ebenfalls nicht bestätigt. Ohnehin sind die diesbezüglichen Angaben der Klägerin deshalb fragwürdig, da die Sachverständige B1 überzeugend dargelegt hat, dass in einem Alter von 5 bis 7 Jahren nur einige Ereignissen erinnert werden, wobei diese nur wenige Details enthalten und aus einer kindlichen Wahrnehmungsperspektive heraus möglich sind. Dementsprechend, so die Sachverständige, ist nicht zu erwarten, dass ein Kind, das über kein sexuelles Wissen verfügt, Handlungselemente, die es selbst nicht verstehen und einordnen kann, langfristig erinnert. Wenn die Klägerin behauptet, die Schwester habe sie gefragt, „ob es weh getan“ habe, was nahelegt, dass diese genau verstanden hat, worum es geht, kann das daher so nicht stattgefunden haben, ist im Übrigen von ihrer Schwester nicht bestätigt worden. Die eigene fachliche Beurteilung der Klägerin, für die ihr die Sachkunde fehlt, dass die Erinnerungen erst im Erwachsenalter eingeordnet werden könnten, ist damit überzeugend widerlegt. Dies gilt entsprechend für die These der Klägerin, dass mittels MRT zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Inhalten unterschieden werden könne. Die Sachverständige B1 hat zum einen verneint, dass es eine entsprechende Untersuchungsmethode überhaupt gibt und zum anderen, dass bildgebende Verfahren im forensischen Kontext existieren.
Die weiteren Darlegungen des F, dass die Glaubhaftigkeitsbegutachtung dazu herangezogen werde, um die Verurteilung unschuldiger Personen zu vermeiden, es im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes aber nur um die Glaubhaftmachung gehe, dass eine Person Opfer einer Gewalttat gewesen sei, offenbaren dessen fehlendes Verständnis der Gesamtzusammenhänge und eine einseitige Sichtweise zu Gunsten des vermeintlichen Opfers. Die Annahme, dass eine Person Opfer einer Gewalttat durch eine bestimmte Person geworden ist, bedeutet im Umkehrschluss, von der Täterschaft einer anderen auszugehen. Unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz übersieht der Sachverständige, dass die Gewährung von Leistungen nach dem OEG Regressansprüche gegen den Schädiger nach sich ziehen können (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 73), sodass deutlich wird, dass seine vermeintlich differenzierende Sichtweise im Vergleich Strafrecht und Opferentschädigungsrecht aus mehreren Gesichtspunkten fehl geht. Dass sich die rechtlichen Maßstäbe nicht dadurch ändern, dass der Großvater im konkreten Fall bereits verstorben ist, bedarf keiner Erörterung.
Wenn F meint, der Prozess der kindlichen Traumatisierung könne die Anforderungen an eine ungestörte Erinnerungsfähigkeit nicht erfüllen und es deshalb ausreichen lassen will, dass aus psychotraumatologischer Sicht – auch ohne objektive Anhaltspunkte – ein reales Kerngeschehen angenommen werden kann, stellt dies nichts anderes als den unzulässigen Versuch einer weiteren Absenkung des Beweismaßstabes dar (vgl. zur Unvereinbarkeit einer Absenkung des Beweismaßstabes auch mit dem Grundsatz von Treu und Glauben: Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 85). Es kann deshalb dahinstehen, wie empirisch abgesichert die Existenz eines sog. Traumagedächtnisses überhaupt ist, was B1 als fraglich bezeichnet hat, und wie sich seine Ausführungen mit den Darlegungen der B1 zu dem wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu, dass Ereignisse mit hoher affektiver Intensität prinzipiell besser behalten und besonders dauerhaft erinnert werden sowie dass bei Missbrauchsopfern kein generelles Defizit in der Erinnerung an emotionale Ereignisse besteht, vereinbaren lassen. Überzeugend hat die Sachverständige B1 in diesem Zusammenhang aber dargelegt, dass es nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand gedächtnispsychologisch nahezu unmöglich ist, dass es zu einem Wiederaufleben von Gedächtnisinhalten kommt, die nur abgespalten oder verdrängt gespeichert worden sind.
Wenn D die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer Amnesie für die traumatischen Ereignisse diskutiert, führt dies nicht weiter. Vielmehr stützt dies die zutreffenden Darlegungen des SG, dass bei fehlenden eigenen Erinnerungen die Beweiserleichterung nicht zur Anwendung kommt und es daher des Vollbeweises des schädigenden Ereignisses bedarf, der nach den oben stehenden Ausführungen erst Recht nicht erbracht ist. In diesem Zusammenhang hat B1 darauf hingewiesen, dass es fraglich ist, unter welchen konkreten Umständen traumabedingte Amnesien überhaupt reversibel sind und inwieweit rekonstruktive Prozesse beim Fehlen einer Endkodierung von Inhalten eine Rolle spielen können. In diesem Zusammenhang verweist das SG schlüssig darauf, dass die Erlebnisbasiertheit der Erinnerung der Klägerin vor allem deshalb in Frage zu stellen ist, da sie nach eigenem Bekunden in den Bildern zunächst nicht zwischen dem Großvater und dem Vater differenzieren konnte.
Ohnehin kann die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung aber schon deshalb nicht beanspruchen, da die behaupteten – und nicht wenigstens glaubhaft gemachten – sexuellen Missbrauchshandlungen vor 1976 liegen und deshalb Ansprüche nur nach § 10a OEG in Betracht kommen, bei ihr die Schwerbeschädigteneigenschaft aber nicht erreicht wird, die im Übrigen selbst F zu keinem Zeitpunkt gesehen hat.
Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).
Nach diesen Maßstäben liegt bei der Klägerin, selbst ausgehend von den Darlegungen des Sachverständigen F, schädigungsbedingt weder eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, noch eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, sodass der GdS nicht mehr als 20 beträgt. Aus den Gutachten ergibt sich vielmehr ein weitgehend unbeeinträchtigtes Arbeits-, Sozial- und Sexualleben mit hoher Funktionalität.
Die Sachverständige B1 hat bei ihrer Untersuchung Psychomotorik und Antrieb als regelrecht befundet und die Klägerin in der Kommunikation als aufgeschlossen und kooperativ beschrieben. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite bestanden ebenso wenig, wie Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten, sodass sie schlüssig Anzeichen für eine schwere psychiatrische Störung verneint hat. Dass B1 keine Befunde erhoben hätte, wie die Klägerin glauben machen will, trifft somit ebenso wenig zu wie, dass ihr die Fachkompetenz dafür gefehlt habe. Zwar handelt es sich bei Sachverständigen um keine Medizinerin, sondern eine Dipl.-Psych. Dies hindert sie aber zum einen nicht daran, einen psychischen Befund erheben zu können und zum anderen steht dies der Erhebung anamnestischer Daten nicht entgegen. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass das SG nicht behauptet hat, besondere Kenntnisse im Hinblick auf die Entstehung traumatischer Erinnerungen zu haben, sondern lediglich, dass die Würdigung der Beweisergebnisse tatrichterlicher Aufgabe ist und es keine Besonderheiten in der Person der Klägerin erkennen kann, die deren Aussagetüchtigkeit grundsätzlich in Frage stellt. Solche ergeben sich aus der Aktenlage ebenfalls nicht und sind weder von B1 noch von F festgestellt worden.
Korrespondierend zu den psychischen Befunden hat die Sachverständige in tatsächlicher Hinsicht einen geregelten Tagesablauf der Klägerin erhoben und eine erhaltene Fähigkeit zur Freizeitgestaltung. So versorgt sie regelmäßig Pflegepferde, trifft sich mit Freunden, geht mit ihrem Mann essen oder ins Kino. Neben bestehenden Sozialkontakten ist damit auch eine erhaltene Mediennutzung belegt. Nichts anderes folgt aus den anamnestischen Angaben gegenüber F, dem die Klägerin berichtet hat, zwei bis dreimal pro Woche für zwei bis drei Stunden im Reitstall beschäftigt zu sein, gerne zum Shoppen in die Stadt zu gehen oder sich mit Freunden zu treffen. Daneben versorgt sie ihren Haushalt und geht mit ihrem Mann einkaufen, sodass sich auch keine Einschränkungen der Strukturierungsfähigkeit zeigen. Dass sie weiter zwei Nymphensittiche versorgt, auf Tiere der Nachbarn aufpasst und mit den Nachbarn zusammen kocht, belegt ebenso ein erhaltenes Interessenspektrum wie, dass sie sich mit ihrem Mann zusammen Filme anschaut. Eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ist daher nicht belegt.
Dementsprechend hat F – ebenso wie B1 – die Klägerin als zu Zeit, Ort und Person voll orientiert, im Kontakt freundlich zugewandt und kooperativ beschrieben. Die affektive Schwingungsfähigkeit war unbeeinträchtigt, es zeigten sich keine inhaltlichen oder formalen Denk- und Wahrnehmungsstörungen, keine auffälligen mnestischen Störungen und keine Störungen der Konzentrationsfähigkeit.
Die Feststellungen im Schwerbehindertenverfahren führen, abgesehen davon, dass diese keine Bindungswirkungen entfalten, zu keiner anderen Beurteilung, da dort die Schwerbehinderteneigenschaft zu keinem Zeitpunkt allein aufgrund der angenommenen PTBS gesehen wurde. Den versorgungsärztlichen Stellungnahmen entnimmt der Senat vielmehr, dass die „Depression, PTBS und seelische Störung“ nur mit einem Teil-GdB von 40 bewertet worden ist und die Schwerbehinderteneigenschaft unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 20 für die Migräne gesehen wurde. Im Nachprüfungsverfahren ist die wesentliche Änderung vor dem Hintergrund verneint worden, dass zusätzlich zur Migräne ein Clusterkopfschmerz berücksichtigt und der Teil-GdB auf 30 erhöht wurde. Weder bei der Depression, noch bei der seelischen Störung handelt es sich indessen um Schädigungsfolgen, wie B1 überzeugend herausgearbeitet hat und was den Feststellungen des D entspricht, sodass der Teil-GdB von 40 schon nicht allein für die vermeintlichen Schädigungsfolgen vergeben worden ist. Dass sich im Übrigen eine deutliche Befundbesserung ergeben hat, ist von F ausdrücklich beschrieben worden, wenngleich seiner monokausalen diagnostischen Betrachtungsweise unabhängig davon nicht gefolgt werden kann, dass die ICD-11 die Diagnose einer KPTBS zulässt. Wenn er bis 2016 somit einen Teil-GdB von 40 sehen will, überzeugt dies vor dem Hintergrund nicht, dass nur der schädigungsbedingte GdS zu bewerten ist und es einer differentialdiagnostischen Abgrenzung bedarf, sodass sich eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens nicht rechtfertigt und vor 2016 damit auch kein höherer GdS als 30 angenommen werden kann.
Die Ausführungen der Klägerin, dass eine PTBS grundsätzlich mit einem GdS von 30 zu bewerten sei, gehen fehl. Zwar hat der Sachverständigenbeirat beim BMAS in seinem Beschluss vom 6./7. November 2008 ausgeführt, dass ein GdS von 30 gerechtfertigt sei, wenn alle im Einzelnen genannten Kriterien einer PTBS erfüllt seien. Jedoch hat dieser Beirat nur die Aufgabe, das BMAS zu beraten. Solange das BMAS die VG, denen Rechtsnormqualität zukommt, nicht ändert, verbleibt es bei deren Vorgaben. Im Übrigen kann eine Erkrankung wie die PTBS vielfältige und auch unterschiedlich starke Auswirkungen auf die Teilhabe des Betroffenen am Leben in der Gemeinschaft haben. Für deren Erfassung ist nicht eine Diagnose geeignet, sondern die Vorgaben der VG (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 56).
Der GdS ist letztlich nicht wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit der Klägerin zu erhöhen. Hierbei handelt es sich um keinen selbstständigen Anspruch, sondern der GdS im allgemeinen Erwerbsleben nach § 30 Abs. 1 BVG und das berufliche Betroffensein nach § 30 Abs. 2 BVG sind als einheitliche Faktoren des einheitlichen Rentenanspruchs anzusehen. Die besondere berufliche Betroffenheit ist lediglich ein Umstand, der ebenso wie andere – medizinische – Bemessungsfaktoren für den GdS in Betracht kommen soll, sodass in einem Gerichtsverfahren nur insgesamt über die Höhe der Grundrente entschieden werden kann (vgl. Senatsurteil vom 24. Januar 2017 – L 6 VH 789/15 –, juris, Rz. 64; vgl. auch BSG, Urteil vom 13. Dezember 1979 – 9 RV 56/78 –, juris, Rz. 19).
Der GdS ist unter anderem höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird (§ 30 Abs. 2 Satz 1 BVG). Das ist insbesondere der Fall, wenn auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BVG), zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BVG), oder die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BVG).
Der Ursachenzusammenhang zwischen den Schädigungsfolgen und der besonderen beruflichen Betroffenheit ist nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen, wie der der haftungsbegründenden und -ausfüllenden Kausalität. Für den Anspruch auf besondere berufliche Betroffenheit genügt es dabei, wenn die Schädigungsfolgen allein oder aber im Vergleich mit den Nichtschädigungsfolgen und anderen schädigungsunabhängigen Umständen etwa gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben. Kommt dagegen einer Nichtschädigungsfolge eine überragende Bedeutung für den Erfolg zu, so ist dieser nicht schädigungsbedingt im Rechtssinne, denn die Nichtschädigungsfolge verdrängt die anderen und ist allein als Ursache im Rechtssinne anzusehen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 2005 – B 9a V 1/05 R –, juris, Rz. 33 ff.).
Diese Voraussetzungen haben bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats ebenfalls zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Der von dieser vorgelegte Lebenslauf und die ausführlichen Erhebungen der Sachverständigen B1 belegen, dass die Klägerin ihre Schullaufbahn ohne Probleme mit dem Realschulabschluss beenden, ihre beruflichen Ziele uneingeschränkt verwirklichen und beachtliche Aufstiegschancen realisieren konnte. Daneben war sie an unterschiedlichen Arbeitsstellen beschäftigt, hat berufliche Neuorientierungen erfolgreich bewerkstelligt und hat letztlich gegenüber F eine Zufriedenheit an der Arbeitsstelle sowie sogar eine Steigerung der Wochenarbeitszeit angegeben. Über berufliche Erfolge und eine bestehende Arbeitszufriedenheit hat die Klägerin auch der Sachverständigen B1 berichtet.
Soweit die Klägerin nunmehr glauben machen will, ihre Arbeitszeit krankheitsbedingt reduziert zu haben, überzeugt dies vor dem Hintergrund des zuletzt von F erhobenen nur leichtgradigen psychischen Befundes nicht. Es steht weiter in Widerspruch zu ihren eigenen Angaben im Schwerbehindertenverfahren, dass der GdB erhöht werden müsse, weil von dem Clusterkopfschmerz eine immense psychosoziale Belastung ausgehe, die Beeinträchtigung also von einer nicht schädigungsbedingten Ursache herrühren sollte.
Ansprüche auf eine Ausgleichsrente (§ 32 BVG) bestehen damit nicht, da die Klägerin nicht schwerbeschädigt ist. Ebenso scheidet ein Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 BVG) aus, da die Klägerin nicht rentenberechtigt ist.
Letztlich kann dahinstehen, dass die Leistungen nach dem OEG antragsabhängig gewährt werden (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 16 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I] i.V.m. § 60 Abs. 1 BVG) und die Klägerin erst am 30. November 2015 einen Leistungsantrag gestellt hat, sie also vorher keine Leistungen beanspruchen kann. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird (§ 60 Abs. 1 Satz 1 BVG), was bei der Klägerin nicht der Fall war. Sie war auch nicht ohne Verschulden an der Antragstellung verhindert (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG), da eine Rechtsunkenntnis Verschulden nicht ausschließt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Veröffentlichung bekannt sind. Im Übrigen bestehen im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten, sich über seine sozialen Rechte zu informieren (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R –, juris, Rz. 13).
Ebenso scheidet ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, und damit ein früherer Leistungsbeginn unter Beachtung der Frist des § 44 Abs. 4 SGB X (vgl. zur entsprechenden Anwendbarkeit BSG, Beschluss vom 4. Juli 2017 – B 10 EG 20/16 B –, juris, Rz. 16), aus. Dieser setzt voraus, dass eine Pflichtverletzung vorliegt, die dem Sozialleistungsträger zuzurechnen ist. Dadurch muss beim Berechtigten ein rechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten sein. Außerdem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger seine Verpflichtungen nicht verletzt hätte. Zwar kann ein Herstellungsanspruch ggf. auch auf Fehler anderer Behörden gestützt werden, wenn diese in einer Sozialrechtsangelegenheit einen Bürger nicht oder fehlerhaft beraten oder nicht auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten für einen bestimmten sozialrechtlichen Anspruch hingewiesen haben. Dies setzt jedoch voraus, dass der betreffende Leistungsträger jedenfalls arbeitsteilig bzw. funktionell in den Verwaltungsablauf bzw. in die Wahrnehmung der Aufgaben des zuständigen Leistungsträger eingebunden ist (vgl. BSG, a.a.O., Rz. 14 ff.). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Feststellung des GdB nicht das LRA, sondern der Landschaftsverband W1 zuständig gewesen ist. Daneben hat sich aus der Aktenlage gerade nicht aufgedrängt, dass ein Anspruch nach dem OEG gegeben sein könnte, vor allem, nachdem der GdB von 50 aufgrund einer Migräne als erreicht angesehen worden ist und eine Schädigungsfolge insoweit fernliegend war.
Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.