L 7 AY 335/23 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AY 3417/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AY 335/23 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Januar 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.



Gründe

I.


Der Antragsteller begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 8. November 2022 bis 31. Januar 2023. Insbesondere wendet er sich gegen eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG wegen des Vorwurfs der Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs sowie die Zugrundelegung der Regelbedarfsstufe 2. 

Der am 1996 geborene Antragsteller ist marokkanischer Staatsangehöriger, wurde nach seiner Einreise nach Europa zuerst in Italien erkennungsdienstlich erfasst und reiste nach seiner Ausweisung aus Italien am 15. Oktober 2019 erstmals in das Bundesgebiet ein. Seinen am 16. Oktober 2019 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 3. Dezember 2020 als offensichtlich unbegründet ab. Das zuvor eingeleitete Dublin-Verfahren mit beabsichtigter Überstellung nach Italien verlief wegen des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist zum 8. Juni 2020 erfolglos. Seitdem ist die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig und erhält fortlaufend Duldungsbescheinigungen gemäß § 60b Abs.1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), im streitigen Zeitraum zuletzt bis 20. Januar 2023.

In dem Zeitraum vom 23. Oktober 2020 bis 9. August 2022 befand sich der Antragsteller in Haft in der Justizvollzugsanstalt R1 und wurde am 30. August 2022 nach S1 zugewiesen. Am 9. August 2022 wurde dem Antragsteller von der Justizvollzugsanstalt R1 ein Guthaben in Höhe von 1.699,08 EUR (davon 1.673,16 EUR als Überbrückungsgeld) in bar ausgezahlt.

Mit Bescheid vom 30. August 2022 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller für den Monat September 2022 Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. einer Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 2 und 1 AsylbLG in Höhe von 775,41 EUR (Leistungen nach § 1a AsylbLG in Höhe von 169 EUR sowie Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 606,41 EUR, welche direkt an die zuständige Stelle der Antragsgegnerin überwiesen wurden). Die Leistungseinschränkung wurde gemäß § 14 AsylbLG auf die Zeit vom 1. September 2022 bis zum 1. Februar 2023 befristet. Widerspruch erhob der Antragsteller hiergegen nicht. In den Folgemonaten zahlte die Antragsgegnerin die Leistungen ohne weitere Bewilligungsbescheide in gleicher Höhe aus.

Mit Schreiben vom 7. November 2022 beantragte der Antragsteller sodann die Überprüfung des Bescheids vom 30. August 2022 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und erstreckte diesen Antrag auf alle in diesem Zusammenhang ergangenen Bescheide und Änderungsbescheide. Über diesen Antrag hat die Antragsgegnerin noch nicht entschieden.

Am 8. November 2022 hat der Antragsteller das Sozialgericht Stuttgart (SG) um einstweiligen Rechtsschutz ersucht und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, dass die streitige Sanktion nicht verfassungsgemäß sei. Im Übrigen sei auch der Ausländerakte nicht zu entnehmen, dass der Antragsteller ausschließlich oder überhaupt aus wirtschaftlichen Interessen eingereist sei. Zudem werde darauf hingewiesen, dass die Eintragungen in dem Vermerk vom 30. August 2022 ersichtlich nicht von dem Antragsteller selbst stammten. Darüber hinaus habe der Antragsteller die „Wartefrist“ des § 2 Abs. 1 AsylbLG bereits lange überschritten und die Dauer des Aufenthalts des Antragstellers sei nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst worden. Der Antragsteller sei am 15. Oktober 2019 in die Bundesrepublik eingereist. Es bestehe mithin sogar ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG. Des Weiteren habe der Antragsteller auch Anspruch auf Leistungen der Regelbedarfsstufe 1.

Mit Beschluss vom 27. Januar 2023 hat das SG den Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Antragsgegnerin gewähre dem Antragsteller in rechtmäßiger Weise nach § 1a Abs. 2 AsylbLG gekürzte Leistungen, weil dieser nach summarischer Prüfung in der Absicht nach Deutschland eingereist sei, Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen.
So sei der Antragsteller nach Deutschland über Italien eingereist. Gegenüber der Antragsgegnerin habe der Antragsteller angegeben, dass er über Italien nach Deutschland eingereist sei, weil es dort keine Arbeit für ihn gegeben habe. Die primäre Motivation des mittellosen Antragstellers bei der Einreise nach Deutschland habe nicht darin bestanden, seinen Lebensunterhalt in der Bundesrepublik umgehend durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu finanzieren. Dies lasse sich im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung auch aus der Tatsache ableiten, dass sich der Antragsteller relativ zeitnah nach seiner Einreise für einen nicht unerheblichen Zeitraum von beinahe zwei Jahren in Haft in der JVA R1 befunden habe. Bezüglich der Frage, ob dem Antragsteller die gekürzten Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 zustünden, sei ein Anordnungsgrund nicht erkennbar.

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 30. Januar 2023 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 31. Januar 2023 Beschwerde bei dem SG eingelegt und sein Vorbringen wiederholt und vertieft.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Januar 2023 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag vom 7. November 2022 auf Überprüfung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 30. August 2022 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

Der Antragsteller mache Leistungen nach § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 geltend. Die Regelbedarfsstufe (RBS) 1 betrage seit 1. Januar 2023 monatlich 502,00 EUR (2022: monatlich 449,00 EUR). Zur Vermeidung einer doppelten Bedarfsdeckung erfolge ein Abzug der im Regelsatz enthaltenen Kosten für die Haushaltsenergie in Höhe von EUR 35,30 (Stand: 1. Januar 2023). Die Aufwendungen für die Haushaltsenergie seien in den Unterkunftskosten enthalten (Gemeinschaftsunterkunft). Der Beschwerdegegenstand betrage somit 707,85 EUR.

Mit Bescheid vom 7. Februar 2023 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG in Höhe von 975,41 EUR für den Monat Februar 2023 bewilligt.

Zur weiteren Darstellung der Sach- und Rechtslage wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie die Ausländerakte, die Akte des SG und die Akte des Senats Bezug genommen.


II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz
[SGG]). Der Beschwerdeausschluss nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG greift nicht ein, weil die Berufung in der Hauptsache nicht nach § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung bedürfte. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Das gilt nach Satz 2 nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) richtet sich danach, was das SG dem Rechtsmittelführer versagt hat und was dieser im Rechtsmittelverfahren weiterverfolgt (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 6. September 2017 – B 13 R 20/14 R – juris Rdnr. 23). Dabei ist der Streitgegenstand eines Eilverfahrens begrenzt auf den Gegenstand eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens, das dem Eilverfahren zugrunde liegt bzw. zugrunde liegen könnte (so auch Landessozialgericht [LSG] Bayern; Beschluss vom 16. Juli 2012 – L 11 AS 323/12 B ER – juris Rdnr. 10, LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23. Oktober 2008 – L 8 B 301/08 – juris Rdnr. 16 f.; LSG Thüringen, Beschluss vom 7. Mai 2009 – L 9 AS 763/08 ER – juris Rdnr. 17).

Gegenstand des – einem fiktiven Hauptsacheverfahren zugrundeliegenden –Überprüfungsverfahrens ist der Bescheid vom 30. August 2022, mit welchem die Antragsgegnerin einerseits eine Pflichtverletzung im Sinne des § 1a Abs. 2 AsylbLG und die Einschränkung des Leistungsanspruchs für die Zeit vom 1. September 2022 bis 1. Februar 2022 festgestellt und andererseits Leistungen für den Monat September 2022 in Höhe von 775,41 EUR bewilligt hat. Denn mit der Konzeption der Leistungsabsenkung (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG und § 14 AsylbLG) sind die Verfügungssätze der Feststellung der Pflichtverletzung und der Einschränkung des Leistungsanspruchs einerseits und der Verfügung der leistungsrechtlichen Umsetzung andererseits zu unterscheiden (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 23. Juni 2022 – L 4 AY 13/22 B ER – juris Rdnr. 23). Anders als die Beteiligten und auch das SG meinen, ist mit dem Bescheid vom 30. August 2022 allerdings keine über den Monat September 2022 hinausgehende Bewilligung erfolgt; vielmehr wurden dem Antragsteller für Folgezeiträume konkludent monatsweise Leistungen durch Auszahlung (vgl. § 33 Abs. 2 SGB X) bewilligt (vgl. zu dieser Gestaltung BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rdnr. 11). Der Bescheid vom 30. August 2022 enthält insoweit folgende Bestimmung: „Insgesamt werden Ihnen bewilligt für den Monat 09/2022: 775,41 €.“ Diese Formulierung erlaubt es nicht, hierin auch eine (zukunftsoffene) Bewilligung für die Folgemonate zu sehen. Der geregelte Monat ist vielmehr eindeutig benannt. Dafür spricht auch, dass dem Bescheid lediglich ein Berechnungsbogen für den Monat September 2022 beigefügt war. Nachdem der Antragsteller seinen Überprüfungsantrag vom 7. November 2022 hinsichtlich des Bescheides vom 30. August 2022 auch auf alle in diesem Zusammenhang ergangenen Bescheide und Änderungsbescheide erstreckt hat, sind Gegenstand des Überprüfungsverfahren die Leistungsbewilligungen für die Zeit von September 2022 bis November 2022. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verlangt der Antragsteller ungekürzte Leistungen für die Zeit ab Antragstellung bei dem SG, mithin ab dem 8. November 2022. Streitgegenstand im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann folglich hinsichtlich der Bewilligung von Leistungen nur die Zeit vom 8. November 2022 bis 30. November 2022 sein. Die Bewilligung für die Monate Dezember 2022 und Januar 2022 sind hingegen nicht von dem Überprüfungsantrag umfasst, nachdem diesbezüglich im Zeitpunkt des Antrags noch keine Bewilligung vorlag.

Allerdings sperrt die in dem Bescheid vom 30. August 2022 verfügte und damit vom Überprüfungsverfahren umfasste Einschränkung des Leistungsanspruchs auch die Bewilligung höherer Leistungen für die Zeit bis zum 1. Februar 2023. Nachdem der Antragsteller für die Zeit vom 8. November 2022 bis 31. Januar 2023 Leistungen nach § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 (2022: 449,00 EUR monatlich, 2023: 502,00 EUR monatlich) begehrt, ergibt sich ein Beschwerdewert von 818,33 EUR (für November 205,33 EUR, für Dezember 280,00 EUR, für Januar 333 EUR). Soweit die Antragsgegnerin die im Regelsatz enthaltenen Kosten für Haushaltsenergie in Höhe von 35,30 EUR in Abzug bringen will, weil die Aufwendungen für die Haushaltsenergie bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft in den Unterkunftskosten enthalten seien, ist dies im Hinblick auf den Beschwerdewert unbeachtlich. Der Antragsteller hat den genannten Betrag ausdrücklich geltend gemacht, von einer rechtsmissbräuchlichen Aufrechterhaltung des Begehrens, welche dazu führen würde, dass eine Berücksichtigung bei der Berechnung des Beschwerdewertes nicht zu erfolgen hätte, ist insofern nicht auszugehen (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 144 Rdnr. 14a).

Anders als der Antragsteller zu meinen scheint, ist auch der Bewilligungszeitraum ab dem 1. Februar 2023 nicht zulässigerweise Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens (s. hierzu Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. Februar 2023 bzw. die anschließenden konkludenten Bewilligungsentscheidungen), wie sich bereits aus den obigen Ausführungen ergibt.

Die Beschwerde ist unbegründet.

Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1, für Vornahmesachen in Abs. 2. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei haben sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris Rdnr. 64; BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris Rdnr. 9). Eine Folgenabwägung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn eine Prüfung der materiellen Rechtslage nicht möglich ist (BVerfG, Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 – juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 – L 7 SO 2557/17 ER-B – juris Rdnr. 21; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 – L 7 SO 4253/17 ER-B – juris Rdnr. 3; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 – L 7 SO 4027/18 ER-B – juris Rdnr. 19; Beschluss des Senats vom 14. März 2019 – L 7 AS 634/19 ER-B – juris Rdnr. 3).

An im Rahmen eines laufenden Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X gestellte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes und des Anordnungsanspruches zu stellen. Soll ein bestandskräftiger Bescheid in einem solchen Verfahren zurückgenommen werden, so ist es dem Antragsteller im Regelfall zuzumuten, die Entscheidung im Verwaltungsverfahren bzw. in einem anschließenden gerichtlichen Hauptsachverfahren abzuwarten (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. April 2011 – L 5 AS 342/10 B ER – juris Rdnr. 19; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Mai 2013 – L 19 AS 638/13 B ER – juris Rdnr. 12). Zur Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes ist es in diesem Fall erforderlich, dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse dargelegt werden (Thüringer LSG, Beschluss vom 14. September 2011 – L 10 AL 434/10 ER – juris Rdnr. 33). Darüber hinaus kann eine einstweilige Anordnung in derartigen Fällen nur ergehen, wenn die Rechtswidrigkeit des bestandskräftigen Bescheids offensichtlich ist und deshalb mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist (Bayerisches LSG, Beschluss vom 11. September 2015 – L 16 AS 510/15 B ER – juris Rdnr. 21; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. November 2013 – L 9 KR 254/13 B ER – juris Rdnr. 4; Bayerisches LSG, Beschluss vom 8. November 2019 – L 20 KR 479/19 B ER – juris Rdnr. 32). Der Überprüfungsantrag des Antragstellers muss somit offenkundige Erfolgsaussichten haben.

Der Überprüfungsantrag des Antragstellers hat nach summarischer Prüfung offenkundige Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Höhe des monatlichen Leistungsanspruchs.

Die Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG, worauf die Antragsgegnerin ihre Entscheidung gestützt hat, dürften allerdings vorliegen. Nach § 1a Abs. 2 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG (wozu der Antragsteller gehört, weil er vollziehbar ausreisepflichtig i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG ist), die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, nur Leistungen entsprechend § 1a Abs. 1 AsylbLG. Maßgeblich ist, ob im Zeitpunkt der Einreise oder Wiedereinreise der Wille zur Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG das prägende Motiv des Hilfesuchenden gewesen ist. Demzufolge muss der Zweck der Inanspruchnahme von Leistungen neben anderen Gründen der bestimmende oder von prägender Bedeutung gewesen sein (Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rdnr. 42). Prägende Bedeutung kommt dem Umstand, Leistungen zu beziehen, dann zu, wenn er für den Ausländer neben anderen Gründen so wesentlich war, dass er ansonsten nicht eingereist wäre. Es genügt demgegenüber nicht, dass der Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG beiläufig erfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne nur billigend in Kauf genommen wird (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Januar 2009 – L 20 B 58/08 AY, juris Rdnr. 25 m.w.N.). Die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchseinschränkenden Tatsachen liegt dabei bei der Behörde (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rdnr. 65). Die nur in das Wissen des Antragstellers gestellten Gründe für seine Einreise muss dieser benennen und widerspruchsfrei sowie substantiiert darlegen, um der Behörde und auch dem Gericht die Möglichkeit zur Prüfung zu geben, ob der Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG erfüllt ist (vgl. zu alledem bereits Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 04. Juni 1992 – 5 C 22.87 – juris zur Vorschrift des § 120 Bundessozialhilfegesetz [BSHG]).

Nach summarischer Prüfung ist es nach den von dem Antragsteller im Rahmen der von der Antragsgegnerin durchgeführten Anhörung sowie gegenüber dem BAMF gemachten Angaben überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Antragsteller in den Geltungsbereich des AsylbLG begeben hat, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen. Ausweislich der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums T1 vom 9. September 2021 hat der Antragsteller im Rahmen seiner persönlichen Anhörung am 6. November 2019 angegeben, er habe in Marokko in einer Lederfabrik und als Fischer gearbeitet, eine Schule habe er nie besucht. Seine wirtschaftliche Situation sei schlecht gewesen. Er sei nach Deutschland gekommen, um hier Arbeit zu finden. Sein Wunsch sei es, seine Familie finanziell zu unterstützen. Gegenüber der Antragsgegnerin hat der Antragsteller weiter angegeben, er habe Arbeit gebraucht und sei deshalb über Italien, wo er sich zwei Jahre aufgehalten habe, nach Deutschland eingereist.

Zwar begründet die auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) erfolgte Einreise in das Bundesgebiet nicht zwingend die Annahme, dass die betreffenden Personen zum Zwecke der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG eingereist sind. Ergeben sich bei der Einreise über einen sicheren Drittstaat aus den besonderen Umständen der Einreise (etwa einem längeren Verweilen in dem sicheren Drittstaat) oder aus in der einreisenden Person liegenden Gründen (etwa Einreise mit geringen oder keinen Eigenmittel) zusätzliche Indizien, die auf eine leistungsmissbräuchliche Einreiseabsicht hindeuten, kann daraus allerdings der Schluss gezogen werden, dass die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG für die Einreise in besonderer Weise bedeutsam und damit prägend gewesen ist (vgl. zum Ganzen Hohm, GK-AsylbLG, Stand Januar 2022, § 1a AsylbLG, Rdnr. 174, 176).

So liegt der Fall hier. Der Antragsteller hat sich nach seinen Angaben langfristig, nämlich über einen Zeitraum von zwei Jahren in Italien aufgehalten, bevor er 2019 nach Deutschland eingereist ist. Die Einreise erfolgte dabei – auch nach den Angaben des Antragstellers – allein aus wirtschaftlichen Gründen. Auch wenn die Feststellung, dass wirtschaftliche Gründe prägendes Einreisemotiv waren, zur Annahme einer Einreise zur Erlangung von Leistungen allein nicht ausreicht, weil sich die Vorstellung von der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht auf die Erlangung staatlicher Unterstützungsleistungen beziehen muss, ist hier jedoch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller schon mangels Sprachkenntnissen und Berufsausbildung nicht ernsthaft davon ausgehen konnte, seinen Lebensunterhalt durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sichern zu können, was ebenfalls für eine Einreisemotivation allein zur Erlangung von Sozialleistungen spricht (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 30. November 2021 – L 7 AY 3026/21 ER-B – n.v.; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, AsylbLG § 1a Rdnr. 49; Hohm, GK-AsylbLG, Stand Januar 2022, § 1a AsylbLG Rdnr. 173 m.w.N.).

Zwingende Rechtsfolge ist bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1a Abs. 2 AsylbLG, dass im Regelfall nur noch eingeschränkte Leistungen im Sinne des § 1a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG zur Deckung der Bedarfe an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege zu gewähren sind. Durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 wurden die bis dahin unterschiedlichen Rechtsfolgen vereinheitlicht, so dass für alle Varianten der Anspruchseinschränkungen die in § 1a Abs. 1 Sätze 2 und 3 AsylbLG angeordnete einheitliche Rechtsfolge gilt (Oppermann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage, § 1a AsylbLG, Rdnr. 147; BT-Drs. 19/10047, S. 51).

Ein anderes Ergebnis folgt insoweit auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Senat ist nicht von der Verfassungswidrigkeit des § 1a Abs. 2 AsylbLG überzeugt. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Mai 2021 stößt die in der vorherigen Fassung des § 1a AsylbLG vorgesehene Beschränkung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ nicht von vornherein auf durchgreifende (verfassungsrechtliche) Bedenken (BVerfG,
Nichtannahmebeschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 – juris Rdnr. 21). Entscheidend ist, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so gefasst ist, dass der gesamte existenznotwendige Bedarf im Ergebnis stets gedeckt wird; ein Anspruch auf ein pauschal berechnetes Budget ergibt sich aus dem Grundgesetz nicht. Vielmehr darf der gesamte existenzsichernde Bedarf von einer bedarfsorientierten Prüfung im Einzelfall abhängig gemacht werden. Der Gesetzgeber kann entscheiden, wie er den Bedarf berechnet und wie er ihn deckt - mit Gutscheinen, Sachmitteln oder durch Barmittel, pauschal oder in Orientierung an einem Warenkorb, oder eben nach einzeln nachzuweisenden Bedarfen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 – juris Rdnr. 22). Da § 1a Abs. 1 Satz 3 AsylbLG auch eine einzelfallabhängige Gewährung von Bedarfen, die über die in § 1a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG mindestens zu gewährenden Bedarfe hinausgehen, ermöglicht, ist die Vorschrift nach summarischer Prüfung jedenfalls verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie eine individuell-konkrete Bedarfsdeckung ermöglicht.

Leistungen nach § 1a Abs. 1 S. 2 und 3 AsylbLG stehen dem Antragsteller, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, jedoch unter Zugrundelegung der Regelbedarfsstufe 1 zu. Insoweit ist der Bescheid vom 30. August 2022 rechtswidrig und dürfte im Überprüfungsverfahren abzuändern sein. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – hat das Bundesverfassungsgericht § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird. Soweit das Bundesverfassungsgericht seine Anordnung auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG beschränkt hat und übrige Leistungsberechtigte nach AsylbLG von der Anordnung nicht umfasst sind, stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 1a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen rechtfertigen würden.

Nach § 1a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG werden Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Der monatliche Bedarf für Nahrungsmittel und Getränke (Abteilung 1 und 2) in der Regelbedarfsstufe 1 beträgt im Jahr 2022 155,80 EUR; der monatliche Bedarf für Gesundheitspflege (Abteilung 6) beträgt 17,14 EUR. Danach ergibt sich für das Jahr 2022 ein monatlicher Anspruch in Höhe von 172,94 EUR. Für das Vorliegen besonderer Umstände nach § 1a Abs. 1 Satz 3 AsylbLG, wonach im Einzelfall eine Berücksichtigung weiterer Bedarfe in Betracht kommt, hat der Antragsteller nichts vorgetragen. Für den Monat November 2022 berechnet sich daher ein weiterer Anspruch in Höhe von 3,94 EUR.
Ein Anordnungsanspruch ist damit glaubhaft gemacht.

Es ist jedoch kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Auch bei Vorliegen eines Anordnungsanspruchs kann hierauf nicht verzichtet werden (Burkiczak in jurisPK-SGG, Stand 8. März 2023, § 86b Rdnr. 476 m.w.N.). Nachdem es sich hier in der Hauptsache um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X handelt, ist ein Anordnungsgrund nur dann gegeben, wenn massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse dargelegt werden. Davon ist vorliegend im Hinblick auf einen um 3,94 EUR höheren Anspruch für den Monat November 2022 nicht auszugehen (vgl. Burkiczak in jurisPK-SGG, Stand 8. März 2023, § 86b Rdnr. 428 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren war mangels Erfolgsaussichten der Beschwerde abzulehnen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO).

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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