S 13 AS 1534/21

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 13 AS 1534/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die sechsmonatige Befristung der Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II läuft in dem durch § 67 Abs. 1 und 5 SGB II i.V.m. § 1 VZVV bestimmten Geltungszeitraum nicht ab.

Unter Abänderung des Bescheids vom 13. September 2021 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27. November 2021, des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 2021, des Änderungsbescheids vom 16. Mai 2022 und des Bescheids über die endgültige Festsetzung vom 3. Februar 2023, soweit der Monat September 2022 betroffen ist, wird der Beklagte verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld II für den Zeitraum Januar bis September 2022 unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in Höhe von 371,80 € zu gewähren. Der Aufhebungsbescheid vom 23. August 2022 wird insoweit aufgehoben.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme höherer Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) hinsichtlich der Monate Januar bis September 2022 streitig.

Die 1977 geborene Klägerin bezog zuletzt bis 31. Dezember 2019 Arbeitslosengeld (Alg) II und war sodann aufgrund einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nicht bedürftig. Am 1. März 2020 verzog sie in eine 62,45 Quadratmeter (qm) große Mietwohnung, die unter der im Rubrum ersichtlichen Anschrift in einem 574,32 qm großen Gebäude belegen ist. Für diese hatte sie zunächst monatlich 380 € Grundmiete, 65 € Betriebskosten und 65 € Kosten für die zentrale Gasheizung mit Wassererwärmung aufzuwenden, mithin insgesamt 510 €. Über nennenswertes Vermögen verfügte sie nicht.

Nach Eintritt in Kurzarbeit stellte die Klägerin beim Beklagten im April 2020 einen Leistungsantrag, auf den er mit vorläufigem Bescheid vom 28. April 2020 für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 2020 sowie auf Weiterbewilligungsanträge vom 27. August 2020 mit vorläufigem Bescheid vom 2. September 2020 für den Zeitraum vom 1. Oktober 2020 bis zum 31. März 2021 Leistungen unter Berücksichtigung der vollen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) bewilligte.

Mit Schreiben vom 2. September 2020 hörte der Beklagte die Klägerin wegen einer Überschreitung der Angemessenheitswerte für die KdUH um 186,90 € an. Hierauf äußerte die Klägerin mit Schreiben vom 16. September 2020: Sie sei umgezogen, als sie einen Vollzeitjob gehabt habe und sich die Wohnung habe leisten können. Dann sei Covid-19 gekommen, weshalb sie in Kurzarbeit gemusst habe. Nunmehr müsse sie sich einer Rücken-OP unterziehen und rutsche ins Krankengeld. Wenn sie wieder genesen und Covid-19 vorbei sei, gehe sie wieder zurück in ihre Firma und werde ihre Miete wieder selbst erwirtschaften. Die Hilfe vom Beklagten sei daher nur vorübergehend.

Auf einen Weiterbewilligungsantrag vom 24. Februar 2021 bewilligte der Beklagte mit vorläufigen Bescheid vom 26. Februar 2021 Leistungen für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 2021 wieder unter Berücksichtigung der vollen KdUH. Mit Schreiben vom selben Tag hörte er sie wegen einer Überschreitung der Angemessenheitswerte für die KdUH um 1,10 €/qm beziehungsweise 183,10 € an. Hierauf äußerte sich die Klägerin mit Schreiben vom 3. März 2021 im Wesentlichen wie zuvor. Mit Schreiben vom 9. Juni 2021 teilte der Beklagte ihr mit, ab 1. Januar 2022 lediglich die angemessenen Aufwendungen für Kaltmiete und Betriebskosten bzw. Heizkosten zu übernehmen und gab erneut Gelegenheit zur Stellungnahme.

Mit Bescheid vom 30. Juli 2021 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin Alg für den Zeitraum vom 24. Juni 2021 bis 23. Juni 2022 in Höhe (i.H.v.) von 24,40 € kalendertäglich, mithin i.H.v. 732 € monatlich.

Am 7. September 2021 stellte die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag nach dem SGB II. Hierauf bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 13. September 2021 Leistungen für den Zeitraum vom 1. Oktober 2021 bis zum 30. September 2022, wobei auf den streitgegenständlichen Zeitraum monatlich 69,80 € für Januar bis Mai, 240,60 € für Juni und 771,80 € für Juli bis September 2022 entfielen. Dabei berücksichtigte der Beklagte 196,90 € Grundmiete, 63,90 € Heizkosten und 65 € Betriebskosten. Wegen des weiteren Inhalts des Bescheids wird auf die Seiten (S.) 54 fortfolgende (ff.) des Ausdrucks der elektronischen Akte des Beklagten (E-Akte), Teil 6, verwiesen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 1. Oktober 2021 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, die Unterkunftsrichtlinie des U-Kreises sei nicht in Ansatz zu bringen, da sie auf keinem schlüssigen Konzept beruhe. Daher seien die Maximalwerte der Anlage 1 zu § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich (zzgl.) eines moderaten Zuschlags von mindestens zehn Prozent, mithin 371,80 €, anzusetzen.

Mit Änderungsbescheid vom 27. November 2021 bewilligte der Beklagte für den streitgegenständlichen Zeitraum monatlich drei Euro mehr in Folge der Erhöhung der Regelleistung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte aus: Es könnten nur noch die nach der schlüssigen Unterkunftsrichtlinie des U-Kreises angemessenen Unterkunftskosten gewährt werden. Diese sei für ihn bindend unterliege nicht seiner Kontrolle.

Hiergegen hat die Klägerin am 30. Dezember 2021 Klage erhoben.

Mit Nebenkostenabrechnung für 2021 vom 22. April 2022 und Zahlungsfrist von 14 Tagen hat der Vermieter der Klägerin eine Nachzahlung von 197,95 € gefordert, wobei davon 65 € auf einem offenbar nicht gezahlten Abschlag beruht haben. Ab Juni 2022 hat er um 20 € höhere Betriebskosten verlangt. Mit Änderungsbescheid vom 16. Mai 2022 hat der Beklagte für April 2022 weitere 132,95 € infolge dieser Nebenkostenabrechnung bewilligt und ausgeführt, dass der verbleibende Betrag von 65 € eine Abschlagsschuld für Betriebskosten darstelle, für die er nicht aufkomme.

Am 15. August 2022 hat die Klägerin ein Arbeitsverhältnis aufgenommen und hieraus im September 2022 284,76 € brutto/274,51 € netto erzielt.

Bereits mit Bescheid vom 23. August 2022 hat der Beklagte die Leistungen für September 2022 wegen Wegfalls der Hilfebedürftigkeit ganz aufgehoben. Mit vorläufigem Bescheid vom selben Tag bewilligte er unter anderem (u.a.) für September 2022 494,80 €. Wegen des weiteren Inhalts des Bescheids wird auf die S. 19 ff. E-Akte, Teil 8, verwiesen.

Mit weiter vorläufigem Änderungsbescheid vom 14. September 2022 bewilligte der Beklagte für September 2022 637,24 € unter Anpassung an den tatsächlichen Zufluss des Erwerbseinkommens.

Mit erst in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts mitgeteiltem Bescheid vom 3. Februar 2023 hat der Beklagte die Leistungen – soweit hier von Belang – bezüglich des Monats September 2022 endgültig festgesetzt und hier insgesamt 681,99 € unter Berücksichtigung von 220,55 € als Bedarf für die Grundmiete, 85,00 € für Nebenkosten und 65,00 € für Heizkosten berücksichtigt.

Klagebegründend wiederholt und vertieft die Klägerin ihren bisherigen Vortrag.

Sie beantragt,

unter Abänderung des Bescheids vom 13. September 2021 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27. November 2021, des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 2021, des Änderungsbescheids vom 16. Mai 2022 und des Bescheids über die endgültige Festsetzung vom 3. Februar 2023, soweit der Monat September 2022 betroffen ist, den Beklagten zu verurteilen, ihr Alg II unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft i.H.v. 371,80 € zu gewähren und den Aufhebungsbescheid vom 23. August 2022 insoweit aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus: Die Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS, Bundestag Drucksache <BT-Drs.> 20/2692, S. 44), wonach § 67 Absatz (Abs.) 3 Satz 1 SGB II auf den gesamten Geltungszeitraum der Vorschrift Anwendung finde, widerspreche dem eindeutigen Wortlaut der Norm, der Absicht des Gesetzgebers (BT-Drs. 19/18107, S. 26 folgende <f.>), der Kommentarliteratur sowie der Rechtsprechung (u.a. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen <LSG NRW>, Beschluss vom 12. Mai 2022, Aktenzeichen <Az.> L 2 AS 468/22 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. September 2020, Az. L 11 AS 415/20 B ER; Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 23. März 2022, Az. L 6 AS 28/22 B ER). Das BMAS sei bei kommunalen Leistungen wie den KdUH nicht weisungszuständig.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die E-Akte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage (dazu A.) ist begründet (dazu B.).

A. Streitgegenständlich sind der Bewilligungsbescheid vom 13. September 2021 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27. November 2021, des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 2021, des Änderungsbescheids vom 16. Mai 2022, des den Monat September 2022 betreffenden Aufhebungsbescheids vom 23. August 2022 und des Bescheids über die endgültige Festsetzung vom 3. Februar 2023, soweit letzterer den Monat September 2022 betrifft. Er erledigte gemäß § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) die zuvor ergangenen vorläufigen Bewilligungsbescheide für die Zeit ab September 2022 (vergleiche <vgl.> Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 19. März 2020, B 4 AS 1/20 R, Randnummer <Rn.> 10 mit weiteren Nachweisen), die, soweit der Monat September 2022 betroffen ist, neben den Bescheiden vom 16. Mai 2022 und 23. August 2022 nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Klageverfahrens wurden.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren in zulässiger Weise mit einer (kombinierten) Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, § 56 SGG), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Höhenstreit (zur Zulässigkeit aus neuerer Zeit BSG, Urteil vom 11. November 2021, B 14 AS 41/20 R, SozR 4-4200 § 11b Nummer <Nr.> 14, Rn. 12).

B. Die Klage ist begründet. Die streitgegenständlichen Bescheide (hierzu oben A.) sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in eigenen Rechten. Sie hat Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II (dazu II.), die ihr im tenorierten Umfang zuzusprechen waren, § 123 Halbsatz 1 SGG (zum Grundsatz „ne ultra petita“ Haupt in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage 2020, § 123 SGG Rn. 4). Der Aufhebungsbescheid war insoweit aufzuheben (dazu III.).

I. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf höheres Alg II sind die §§ 19 fortfolgende (ff.) in Verbindung mit (i.V.m.) den §§ 7 ff. SGB II. Indem der Beklagte hinsichtlich des Monats September 2022 abschließend über den Leistungsanspruch für diesen Monat entschieden hat, nachdem er zuvor und nach Aufhebung der vorangegangenen Bewilligung auf Grundlage von § 48 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) zunächst nur vorläufig bewilligte, sind insoweit neben den genannten gesetzlichen Vorgaben für den Leistungsanspruch auch die des § 41a SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10. März 2021 (Bundesgesetzblatt <BGBl.> I, S. 335; zum Geltungszeitraumprinzip BSG vom 12. September 2018, B 4 AS 39/17 R, BSGE 126, 294) auf die getroffene abschließende Entscheidung anzuwenden.

II. Die Klägerin erfüllte im streitgegenständlichen Zeitraum die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; ein Ausschlusstatbestand lag nicht vor. Insbesondere war sie hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II. Danach ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.

Hier konnte die Klägerin, die über kein einzusetzendes Vermögen (§ 12 SGB II in der Fassung der Neubekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl. I, S. 850) verfügte, ihren Bedarf (dazu 1.) teilweise aus Einkommen decken (dazu 2.). Der Anspruch der Klägerin auf höhere Leistungen folgt dabei aus der Berücksichtigung höherer KdU.

1. Der Bedarf ergibt sich aus dem Regelbedarf der Klägerin i. H. v. 449 € (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

Hinzu treten die KdUH, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Entsprechend des Antrags (zum Grundsatz „ne ultra petita“ bereits oben B.) sind KdU unter Berücksichtigung von laufenden Aufwendungen i.H.v. 371,80 € sowie der vom Beklagten bereits zugrunde gelegten Heizkosten i.H.v. monatlich 63,90 € (Januar bis August 2022) bzw. 65 € (September 2022) anzusetzen. Im April 2022 tritt auch noch die von der Beklagten mit Bescheid vom 16. Mai 2022 berücksichtigte Nachzahlung von 132,95 € hinzu, nachdem die Zahlungsfrist von 14 Tagen nicht die Fälligkeit hinausschob (zur Auslegung des pactum de non petendo Bittner/Kolbe in Staudinger, BGB, 2019, § 271 Rn. 18). Dabei konnte sich der Beklagte nicht auf die seiner Auffassung nach angemessenen KdUH beschränken und hatte gemäß § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) vom 27. März 2020 (BGBl. I, S. 575) an sich sogar die tatsächlichen Aufwendungen zu berücksichtigen. Denn der Anwendungsbereich der Vorschrift ist nicht auf sechs Monate des vereinfachten Leistungsbezugs beschränkt (Kramme, BT-Drs. 20/2692, S. 44; wohl auch Neumann, jurisPR-SozR 1/2023, unter 3.3; ähnlich zum wortgleichen § 141 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – <SGB XII>, aber auf zwölf Monate begrenzend Thie in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Auflage 2020, § 141 Rn. 19; anderer Ansicht Bayerisches LSG, Beschluss vom 21. April 2021, L 16 AS 129/21 B ER, juris; LSG NRW, Beschluss vom 12. Mai 2022, L 2 AS 468/22 B ER, juris Rn. 25; Karl in Estelmann, SGB II, § 67 Rn. 38, Stand 1. Mai 2021; offen gelassen von Harich in BeckOK SozR, SGB II § 67 Rn. 5, Stand 1. Dezember 2022). Dies folgt aus der Gesetzessystematik (dazu b.), während der Wortlaut (dazu a.), die Entstehungsgeschichte (dazu c.) und der Normzweck (dazu d.) dieser Auslegung nicht entgegenstehen.

a. § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II bestimmt, dass § 22 Abs. 1 SGB II mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Dies legt zunächst nahe, dass sich die Fiktion (Köhler in Hauck/Noftz, K § 67 SGB II Rn. 25, Stand Juli 2020) der Angemessenheit in diesem Zeitraum erschöpft. Andererseits ist der Norm nicht zu entnehmen, wann die sechs Monate beginnen. Vom Wortlaut ist damit auch ein Verständnis gedeckt, wonach die Befristung im Rahmen des zeitlichen Anwendungsbereichs der Regelung, der sich aus § 67 Abs. 1 SGB II ergibt und zuletzt durch § 1 Verordnung zur Verlängerung des Zeitraums für das vereinfachte Verfahren für den Zugang zu den Grundsicherungssystemen und für den Mehrbedarf für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung für Menschen mit Behinderungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie vom 10. März 2022 (VZVV, BGBl. I, S. 426) für die Zeit bis zum 31. Dezember 2022 verlängert wurde, nicht ablaufen kann. Dies entspricht im Übrigen auch der Auffassung des Beklagten zu § 67 Abs. 2 Satz 1 SGB II (vgl. etwa Urteil der Kammer vom heutigen Tag unter den Az. S 13 AS 770/21, S 13 AS 1184/21 und S 13 AS 732/22), der die Berücksichtigung von Vermögen betrifft, im Übrigen aber wortgleich ist.

b. Gesetzessystematisch zeigt sich im Vergleich zu § 22 Abs. 1 SGB II schon in der ursprünglichen Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I, S. 2954) und bis in der heute geltenden Fassung des Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes – (Bürgergeld-Gesetz) vom 16. Dezember 2022 (BGBl. I, S. 2328), dass eine Begrenzung auf sechs Monate durch die Worte „längstens für“ zum Ausdruck gebracht wird. Hiervon unterscheidet sich die Wortwahl in § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II erheblich, nachdem dort deutlich offener „für die Dauer von“ gesprochen wird.

Wie der Gesetzgeber den Beginn einer individuell zeitlich begrenzten Regelung zum Ausdruck bringt, zeigt sich im Übrigen in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der seit 1. Januar 2023 geltenden Fassung des Bürgergeld-Gesetzes (nachfolgend neue Fassung <n.F.>). Für die dort geregelte Karenzzeit wird formuliert, dass sie von einem Jahr ab Beginn des Monats gilt, für den erstmals Leistungen nach diesem Buch bezogen werden. An einer solchen Regelung zum Beginn fehlt es dagegen bei § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II (vgl. oben a.).

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass § 67 Abs. 3 Satz 2 SGB II damit leerliefe. Dort ist geregelt, dass nach Ablauf des Zeitraums nach § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II der § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Fassung (nachfolgend alte Fassung <a.F.>) mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass der Zeitraum des erleichterten Bezugs nach Satz 1 nicht auf die in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a.F. genannte Frist anzurechnen ist. Insoweit war bei Erlass der Vorschrift noch nicht absehbar, dass sich mit der Einführung des Bürgergelds eine unbefristete Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 ff. SGB II n.F. findet.

c. Nach den Gesetzesmaterialien zum Sozialschutz-Paket (Entwurf der Regierungsfraktionen, BT-Drucks. 19/18107, S. 25 f.) sollen sich die von den Auswirkungen der Pandemie Betroffenen nicht auch noch um ihren Wohnraum sorgen müssen, was für eine Erstreckung der Fiktion des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II auf den gesamten Zeitraum des Abs. 1 ohne individuelle Beschränkung auf sechs Monate spricht. Allerdings wird in der Entwurfsbegründung auch angesprochen, dass nach Ablauf von sechs Monaten die Frist des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a.F. Anwendung finden soll, was wiederum für eine individuelle Begrenzung auf diesen Zeitraum streitet. Andererseits wird einleitend auf die Anerkennung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung für die Bewilligungszeiträume nach § 67 Abs. 1 SGB II Bezug genommen. Nachdem dieser Abs. 1 in der ursprünglichen Fassung des Sozialschutz-Pakets auf Bewilligungsabschnitte begrenzt war, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 begannen, kann die Betonung der sechs Monate aber in diesem Zusammenhang auch darauf beruhen, dass § 67 Abs. 3 SGB II zunächst nur drei Monate gelten sollte und lediglich eine Verlängerungsmöglichkeit in abhängig von der Dauer der Krise nach Abs. 6 bestand.

Dem Beklagten ist indes zuzugeben, dass trotz der Verlängerung des Anwendungszeitraums in § 67 Abs. 1 SGB II keine Anpassung des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II vorgenommen wurde. Allerdings spricht mehr dafür, dass hierfür keine Notwendigkeit gesehen wurde, da die Vorschrift in der von der Kammer vertretenen Weise auszulegen ist. So beantwortete das BMAS für die Bundesregierung am 6. Juli 2022 eine Anfrage zur Beschränkung des individuellen Geltungszeitraums des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II dahingehend, dass der Bewilligungszeitraum in der Regel auf sechs Monate zu verkürzen sei und bei einem nachfolgenden Antrag wiederum § 67 Abs. 3 SGB II greife. Eine Angemessenheitsprüfung erfolge deshalb frühestens nach Auslaufen der Regelung des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II (Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme vom 6. Juli 2022, BT-Drs. 20/2692, S. 44). Hiermit korrespondieren die Gesetzesmaterialien zum Bürgergeld-Gesetz (Regierungsentwurf <RegE> eines Bürgergeld-Gesetzes, BT-Drucks. 20/3873, S. 98) und dabei zur Übergangsregelung des § 65 Abs. 6 SGB II n.F., der dem Abs. 7 des Entwurfs entspricht und § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. betrifft. Denn im RegE wird ausgeführt, dass die vorangegangenen Bewilligungszeiträume, in denen eine der neuen Karenzzeit abträgliche Anerkennung der angemessenen und nicht der tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf erfolgt sei, solche vor Inkrafttreten des § 67 SGB II meine. Hieraus ist zu schlussfolgern, dass aus Sicht der Entwurfsverfasser seit dem 1. März 2020 keine Absenkung auf die angemessenen KdUH in Betracht kam.

d. Dem durch § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II bezweckten Schutz der Wohnung während der Pandemie wird die Auslegung durch die Kammer ebenso gerecht. Der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber (vgl. § 1 VZVV) hielt eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2022 für gerechtfertigt.

e. Nachdem die Klägerin die Wohnung vor Antragstellung in Zeiten fehlender Bedürftigkeit anmietete, sind die weiterhin zu § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II diskutierten Probleme zu Neuanmietungen während des Leistungsbezugs (hierzu etwa Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 23. März 2022, L 6 AS 28/22 B ER, juris) nicht zu vertiefen.

Der nach dem Grundsatz „ne ultra petita“ maßgebliche Bedarf beträgt mithin 884,70 € für Januar bis März sowie Mai bis August 2022 (449 € Regelbedarf, 371,80 € KdU und 63,90 € Heizkosten), 1.017,65 € im April 2022 (vorgenannte Bedarfe zzgl. 132,95 € infolge der Nebenkostenabrechnung) sowie 885 € für September 2022 (Regelbedarf, KdU und 65 € Heizkosten).

2. Auf die Bedarfe ist nach der Bedarfsanteilsmethode das Einkommen der Klägerin anzurechnen. Als Einkommen zu berücksichtigen sind gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der bis 31. Dezember 2022 geltenden Fassung insbesondere Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen, wobei auf die in den streitgegenständlichen Bescheiden zuletzt vorgenommen Berechnungen des Beklagten, die nicht zu beanstanden sind, verwiesen wird.

III. Infolge des höheren Anspruchs wegen weiterer KdU (hierzu oben II 1. e.), die zu höheren Leistungen als im Bescheid vom 3. Februar 2023 für September 2022 festgesetzt führen, aber hinter der Bewilligung durch den Bescheid vom 27. November 2021 zurückbleiben, war der Aufhebungsbescheid vom 23. August 2022 (nur) insoweit aufzuheben. Im Übrigen fand er seine Rechtsgrundlage in § 48 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III, nachdem die Klägerin nach Erlass des Bescheids vom 27. November 2021 Einkommen erzielte. Ob der Beklagte berechtigt war, die Bewilligung für September 2022 ganz aufzuheben und sodann nur noch eine vorläufige Bewilligung auszusprechen, kann offenbleiben. Denn mit Bescheid vom 3. Februar 2023 unter im Übrigen nicht zu beanstandender Anwendung des § 41a Abs. 3 f. SGB III erledigten sich die vorläufigen Bewilligungsbescheide (hierzu oben A.) und wurde der Aufhebungsbescheid vom 23. August 2022 insoweit abgeändert.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung bedurfte wegen der 750 € übersteigenden Beschwer des Beklagten nicht der Zulassung (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), sodass der Ausspruch derselben nur deklaratorisch war.

Rechtskraft
Aus
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