L 6 SB 1695/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 168/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 1695/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein chronisches Fatiqué-Syndrom kann Folge einer schwerwiegenden Erkrankung wie Krebs sein, auch wenn keine Chemotherapie erforderlich wird und ist dann im Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" (VG, Teil B, Nr. 3.7) zu berücksichtigen.
2. Bei Leukämie ist diese Folgeerkrankung ausdrücklich nach Ablauf der Heilungsbewährung in den VG (Teil B, Nr. 16.6) als mögliche verbliebe Auswirkung genannt.

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Mai 2022 abgeändert und der Bescheid vom 5. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2019 aufgehoben, soweit ein Grad der Behinderung von weniger als 50 festgestellt worden ist.

Die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen hat der Beklagte zu tragen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich – im Berufungsverfahren noch – gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf zuletzt 40 nach Eintritt von Heilungsbewährung nach einer mit hochdosierter Chemotherapie behandelten akuten Leukämie und begehrt den Fortbestand der Schwerbehinderteneigenschaft.

Er ist 1991 geboren, hat nach der mittleren Reife eine Ausbildung zum technischen Zeichner absolviert und ist in diesem Beruf als Konstruktionszeichner im Maschinenbau für die Lebensmittelindustrie tätig. Er bezieht von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer, arbeitet daneben mit vier Stunden täglich in seinem erlernten Beruf.

Am 18. September 2013 beantragte er bei dem Landratsamt M1 (LRA) erstmals die Feststellung des GdB, welches nach Einholung von Befundberichten des Universitätsklinikums W1 und Stellungnahme der S1 (Erkrankung des lympathischen Systems) mit Bescheid vom 29. Oktober 2013 einen GdB von 100 seit dem 1. August 2013 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) feststellte.

Bereits 2014 leitete das LRA das erste Mal eine Nachprüfung von Amts wegen ein und zog erneut Behandlungsunterlagen bei. H1 führte versorgungsärztlich aus, dass keine wesentliche Besserung vorliege. Es sei weiterhin hochdosierte Chemotherapie erforderlich, daneben bestünden Komplikationen mit Verschlechterung der Leberfunktion und Juckreiz unter Therapie. Mit Bescheid vom 11. Dezember 2014 teilte das LRA mit, dass die Überprüfung ergeben habe, dass derzeit keine Herabsetzung vorzunehmen sei.

Im zweiten Überprüfungsverfahren ein Jahr später (Dezember 2015) gelangte neben Befundberichten der Kliniken der Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik N1 über die stationäre Rehabilitation vom 7. bis 28. April 2015 zur Akte. Danach sei der Kläger als Konstruktionszeichner mit der Erstellung technischer Zeichnungen am PC bei nur leichter körperlicher Beanspruchung beschäftigt. Die Arbeitshaltung sei ständig sitzend, belastende Einflüsse bestünden keine. Derzeit sei der Kläger seit 21. August 2013 arbeitsunfähig und seit 18. Februar 2015 ausgesteuert, eine zeitnahe Wiedereingliederung aber problemlos möglich. Von Seiten der Tumorerkrankung hätten subjektiv keine spezifischen Beschwerden bestanden, auch habe mit klinischen Mitteln ein Rezidiv bzw. ein Fortschreiten des Tumorleidens nicht diagnostiziert werden können. Die physische Belastbarkeit habe deutlich angehoben werden können. Auch psychisch habe eine gute Erholung und Stabilisation bestanden. Unter ergotherapeutischen Maßnahmen sei eine deutliche Verbesserung der chemotherapiebedingten polyneuropathischen Beschwerden der Hände und Füße erreicht worden, die Beschwerden seien nur noch minimal gewesen, Muskelzuckungen seien keine mehr aufgetreten. Die körperliche Leistungsfähigkeit sei zu Beginn und Ende der Rehabilitationsmaßnahme im strukturierten Gehtest überprüft worden. Eine deutliche Verbesserung habe sich nachweisen lassen. Psychisch habe der Kläger die onkologische Erkrankung adäquat verarbeitet, weitere relevante Erkrankungen bzw. Funktionseinschränkungen seien nicht zu erheben gewesen. Nach weiterer psychophysischer Stabilisationsphase sei die Leistungsfähigkeit bezogen auf die letzte berufliche Tätigkeit voraussichtlich nicht relevant eingeschränkt.

B1 führte versorgungsärztlich aus, dass die Hochdosischemotherapie offensichtlich erfolgreich gewesen sei. Seit März 2015 liege kein Rezidiv vor. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen seien nicht mehr gegeben. Der GdB für die Erkrankung des lympathischen Systems (in Heilungsbewährung) sei nur noch mit 80 zu bewerten. Die Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks und die Polyneuropathie führe zu einem Teil-GdB von 10.

Nach Anhörung (§ 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]) setzte das LRA mit Bescheid vom 11. April 2016 den GdB auf 80 herab und entzog das Merkzeichen „G“.

Im Mai 2018 leitete das LRA eine weitere Nachprüfung von Amts wegen ein und zog Behandlungsunterlagen bei:

Der R1 beschrieb nach ambulanter Behandlung vom 11. April 2016 eine leichte, vorwiegend sensible, toxisch bedingte Polyneuropathie (PNP) mit vermehrter Druckempfindlichkeit peripherer Nerven. Mit einer weiteren Besserung könne gerechnet werden, vitaminreiche Ernährung werde empfohlen.

E1, Klinik für Allgemein- und Visceralchirurgie R2, gab an, den Kläger wegen Schmerzen in der Leiste nach sportlicher Betätigung am 10. Januar 2017 behandelt zu haben. Ein Leistenbruch habe nicht bestanden, er gehe von einer Leistenzerrung aus. Er habe dem Kläger geraten, vor dem nächsten Fußballspiel Ibuprofen oder ähnliches einzunehmen. K1 legte nach ambulanter Untersuchung vom 22. Mai 2017 dar, dass aufgrund der erneuten, glaubhaft geschilderten Beschwerden eine Revision der linken Leiste durchgeführt werden solle. Ein Operationstermin sei für den 21. Juni 2017 vereinbart worden.

Am 27. Oktober 2017 stellte sich der Kläger im Caritas-Krankenhaus M2 wegen Abgeschlagenheit und einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes vor. Laborchemisch hätten sich keine Auffälligkeiten gezeigt, sonographisch ebenfalls nicht. Es sei Paracetamol symptomatisch empfohlen werden, bei klinischen Entzündungszeichen sei jederzeit eine Wiedervorstellung möglich.

Der W2 beschrieb nach ambulanter Untersuchung vom 27./28. November 2017 ein unauffälliges 24-Stunden-Langzeit-EKG. Unter Belastung sei eine Herzfrequenz von 179/Min. erreicht worden. Die 24-Stunden-Langzeit-Blutdruckmessung sei unauffällig. Im Belastungs-EKG vom 9. Januar 2018 habe sich eine Belastbarkeit bis 200 Watt bei einem Blutdruckanstieg auf 210/85 mmHg gezeigt. Der Abbruch sei nach zwei Minuten bei 200 Watt wegen Erschöpfung und Atemnot ohne AP-Symptomatik erfolgt. Rechtsherzbelastungszeichen hätten sich im Echokardiogramm nicht ergeben, im Belastungs-EKG sei eine Belastungskoronarinsuffizienz bis 200 Watt auszuschließen gewesen. Der Blutdruck vor und nach Belastung habe im Normbereich gelegen. Anhaltspunkte für eine partielle respiratorische Insuffizienz bestünden nicht, derzeit sei keine kardiale Medikation notwendig.

Das LRA holte einen Befundschein bei R3, Praxis K2 ein, der über eine Erstvorstellung des Klägers am 9. November 2017 berichtete. Der Kläger habe angegeben, nicht mehr so belastbar wie früher zu sein. Es bestehe eine chronische Müdigkeit, er sei erschöpft, verunsichert und ängstlich. Dies betreffe alle Lebensbereiche, seine Arbeit, aber auch alle Unternehmungen und seinen Urlaub. Seine Arbeit habe er nur kurzzeitig auf sechs Stunden erhöhen können und dann wieder auf vier Stunden reduzieren müssen. Zum Ende der Chemotherapie habe er einen Tinnitus entwickelt, der ihn sehr belaste. Manchmal verspüre er ein Kribbeln im Gesicht, ein Unwohlsein, Übelkeit und habe schwere Beine. Er habe im Laufe der Zeit irgendwie das Vertrauen in seinen Körper und seine Leistungsfähigkeit verloren, was ihn in seinem Alter und gegenüber seinen Freunden, der Familie und Kollegen sehr belaste.

Der Kläger wohne mit seinen Eltern und seinem Bruder im elterlichen Haus. Er sei ledig, lebe aber seit acht Jahren in einer festen Beziehung. Seine Freundin sei 25 Jahre alt und arbeite als medizinische Fachangestellte. Er fühle sich von seiner Familie sehr unterstützt. Seine Hobbies seien Fußball, Tischtennis, Schwimmen und Volleyball, wenngleich er diesen Sport nur noch sehr eingeschränkt ausüben könne. Er habe jetzt eine Tätigkeit als Co-Trainer im Fußball angenommen.

Psychopathologisch sei er wach, klar, allseits orientiert bei erhaltender Aufmerksamkeit und Konzentration. Im Denken sei er formal geordnet, ohne wahnhafte Störungen. Affektiv sei er leicht unsicher, aber hinreichend schwingungsfähig und auslenkbar. Ein Hinweis auf eine suizidale Einengung ergebe sich keiner.

Es bestehe ein chronic-fatique-Syndrom wie eine Belastungs- und Anpassungsstörung mit deutlich ängstlich-depressiver Symptomatik. Auch zweieinhalb Jahre nach Abschluss der Polychemotherapie bestünden noch kognitive und emotionale Einschränkungen sowie eine deutlich reduzierte Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit, wie dies für Patienten mit einer solchen Therapie durchaus üblich sei. In der initialen neurokognitiven Diagnostik habe sich eine verlangsamte Reaktion bei der alertness, ebenso ein Gesichtsfeldausfall rechts bei der räumlichen Zahlensuche, eine reduzierte Merkspanne bei Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis sowie eine verlangsamte Exploration bei der parallelen Suche des visuellen Scanning gezeigt, wobei letzteres durch die Rot-/Grün-Schwäche bedingt sein könne. Nach einem eingeleiteten und durchgeführten kognitiven Training habe sich dann eine Verbesserung der alertness, des Arbeitsgedächtnisses und der räumlichen Zahlensuche ergeben. Der Kläger sei im Gesamtverlauf insgesamt gelassener und optimistischer geworden. In seinem Beruf sei er nur eingeschränkt erwerbsfähig. Zu empfehlen sei eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in einer spezialisierten Einrichtung. Das ambulante kognitive Training und die stützenden Gespräche sollten zur Förderung des Copings und der Rehabilitations- und Reintegrationsfähigkeit fortgesetzt werden.

B1 bewertete die depressive Verstimmung und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom in Folge der Chemotherapie mit einem Teil-GdB von 30 und die Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks sowie den Tinnitus je mit einem Teil-GdB von 10.

Nach Anhörung änderte das LRA mit Bescheid vom 5. April 2019 den Bescheid vom 11. April 2016 ab und stellte einen GdB von 30 seit dem 11. April 2019 fest.

Im Widerspruchsverfahren gelangten Auszüge aus der Akte der DRV zur Akte:

Der P1 führte im ärztlichen Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung nach ambulanter Untersuchung vom 19. August 2016 aus, dass der Kläger unter häufigem Nachtschweiß, Kopfschmerzen, unscharfem Sehen, Konzentrationsstörungen sowie allgemeinem Unwohlsein mit deutlichen längeren Erschöpfungsphasen und konsekutiv längeren Erholungszeiten leide. Der Tinnitus sei während der Chemotherapie mit Cortison behandelt worden. Psychisch sei der Kläger ausgeglichen und freundlich zugewandt gewesen. Die Tumorerkrankung sei sowohl körperlich als auch psychisch noch nicht vollständig überwunden, sodass der Kläger weiterhin arbeitsunfähig und auch für leichte und mittelschwere Arbeiten über drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe, ohne seine Immunsituation zu belasten und die Provokation eines leukämischen Rezidives hervorzurufen. Es werde eine Teilerwerbsminderungsrente und eine erneute Rehabilitation vorgeschlagen.

Der K3 gab im Befundbericht zur Rentennachprüfung vom 7. März 2017 an, dass sich in den letzten zwölf Monaten keine Befundänderung ergeben habe. Es bestehe eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit sowie eine depressive Verstimmung mit Schlafstörung. Es komme zu einer vorschnellen Erschöpfung mit gehäuften, unvorhersehbaren Krankmeldungen.

M3 führte versorgungsärztlich aus, dass bei dem Kläger aufgrund der Folgen der Chemotherapie, eines chronischen Erschöpfungssyndroms und einer depressiven Verstimmung eine deutliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bestehe, die mit einem Teil-GdB von 30 zutreffend und ausreichend bewertet sei.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2019 zurück. Nach Ablauf der Heilungsbewährung sei eine Nachprüfung der gesundheitlichen Verhältnisse durchzuführen gewesen. Der GdB müsse unter Berücksichtigung der tatsächlichen Funktionseinschränkung bzw. des verbliebenen Organschadens neu festgestellt werden. Es hätten sich keine Hinweise auf ein Rezidiv gezeigt. Die bisher festgestellte „Erkrankung des lymphatischen Systems“ bedinge keinen Teil-GdB mehr und könne nicht mehr berücksichtigt werden. Die vorgenommene Herabsetzung des GdB auf 30 biete bei dem gegebenen Sachverhalt keinen Grund zur Beanstandung.

Am 15. Januar 2020 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte erhoben hat.

Die L1 hat bekundet, den Kläger einmalig am 13. März 2020 konsiliarisch mitbetreut zu haben. Dieser habe sich vorgestellt, nachdem er sieben Jahre nach der Erstdiagnose unter einer ausgeprägten Abgeschlagenheit und Antriebslosigkeit im Sinne einer chronischen Fatiqué leide, die schätzungsweise bei 50 % der Patienten nach überstandener Krebserkrankung aufträten. Der Kläger berichte, mit einer Berufstätigkeit von vier Stunden täglich bereits an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu gelangen. Er habe bereits einiges unternommen, um die Leistungsfähigkeit zu steigern und belastbarer zu werden. Verschiedene medikamentöse Behandlungen seien bereits versucht worden, sodass ihm nunmehr zu mehr sportlicher Aktivität geraten worden sei, da es für Bewegung sicherlich die beste Datenlage im Hinblick auf eine Fatiqué gebe. Die Blutuntersuchung habe keine Mangelsituation gezeigt. Die Möglichkeiten einer Therapie seien aufgrund der Corona-Pandemie gerade eingeschränkt, die Erfahrung zeige aber, dass eine chronische Fatiqué ein nur sehr schwer zu behandelndes Syndrom darstelle. Ein mindestens mittlerer Schweregrad der Fatiqué folge bereits aus der Anamnese. Der Aspekt der kognitiven Teilleistungsminderung sei bei anamnestisch ausgeprägten Konzentrationsstörungen nicht ausreichend berücksichtigt und müsse erneut diskutiert werden. Ergänzend hat sie ihren Konsilarbericht vom 20. März 2020 vorgelegt.

Die B2 hat mitgeteilt, die Praxis von ihrem Vorgänger übernommen zu haben und den Kläger nicht zu kennen. Sie hat die ihr vorliegenden Befundberichte übersandt, die im Wesentlichen bereits aktenkundig sind.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des B3 vorgelegt. Danach habe sich im kardiologischen Befundbericht vom 8. Januar 2018 ein diskreter Mitralklappenprolaps bei ansonsten unauffälligem Echokardiographiebefund gezeigt. Ergometrisch habe bis 100 Watt belastet werden können. Blutgasanalytisch habe sich kein Hinweis auf eine respiratorische Insuffizienz gezeigt. Die akute lymphatische Leukämie befinde sich weiter in Remission. Es werde über Angespanntheit und Antriebslosigkeit berichtet, tagsüber komme es nach initial guter Leistungsfähigkeit zu dem plötzlichen Gefühl, ausgelaugt zu sein. Dieses Gefühl halte manchmal zwei bis drei Tage an. Auch insoweit ergebe sich kein Hinweis auf ein Rezidiv. Die Grunderkrankung sei damit weiterhin heilungsbewährt. Bezüglich der seelischen Störung/Fatiqué werde keine fachspezifische oder medikamentöse Therapie angegeben. Es werde allerdings eine Tenorerweiterung vorgeschlagen. Zusammenfassend ergebe sich bei vorgelegter Sachlage keine ausreichende Grundlage, um eine Änderung in der bisherigen Beurteilung vorschlagen zu können.

In der mündlichen Verhandlung vom 3. Mai 2022 hat das SG den Kläger persönlich angehört (vgl. Protokoll). Dieser hat erklärt, dass die Rente unbefristet gewährt werde, ein weiteres Gutachten sei nicht eingeholt worden. Seit der Chemo sei er nicht mehr so belastbar. Er könne nur halbtags arbeiten und brauche Pausen. Er sei oft müde und abgeschlagen. Früher sei er sportlich aktiv gewesen, jetzt gehe er nur noch joggen. Er sei nur noch Co-Trainer beim Fußball, da er nicht immer leistungsfähig sei. Die sozialen Kontakte seien ihm wichtig. Er habe Konzentrationsprobleme und bei Belastung Muskelschmerzen.

Mit Urteil vom gleichen Tag hat das SG den Bescheid vom 5. April 2019 und den Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2019 abgeändert und festgestellt, dass der GdB seit 11. April 2019 nur noch 40 beträgt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der Leukämie sei Heilungsbewährung eingetreten, da diese vollständig remittiert sei. Der GdB für das Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ betrage 40. Der Kläger leide in Folge der überstandenen Krebserkrankung und der Chemotherapie unter psychischen Beschwerden und einem Erschöpfungssyndrom. Für das chronische Fatiqué-Syndrom würden keine konkreten Bewertungsmaßstäbe vorgegeben. Deshalb sei eine Beurteilung im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen vorzunehmen. Da beim Kläger aber keine Gelenkerkrankung bestehe, sondern eine körperliche Erschöpfung, wie sie auch bei psychischen Erkrankungsbildern vorliege, erscheine eine Orientierung an den hierfür geltenden Maßstäben angebracht. Das Erkrankungsbild des Klägers sei am oberen Rand der stärker behindernden Störungen einzustufen. Der jugendliche Kläger sei in seiner körperlichen Belastbarkeit erheblich beeinträchtigt. Er benötige bei seiner leichten körperlichen Tätigkeit zahlreiche Pausen und könne diese nicht mehr ganztätig verrichten. Dies belege Konzentrationsstörungen, die ihn auch in seiner sozialen Teilhabe beeinträchtigten. Er sei zwar noch als Jugendtrainer tätig, könne dieses Amt aber nicht konstant ausüben, da er an manchen Tagen zu erschöpft sei. L1 beschreibe eine kognitive Teilleistungsminderung bei anamnestisch ausgeprägten Konzentrationsstörungen. Der Kläger sei aber bessergestellt als Menschen, die unter schweren Störungen litten. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten lägen bei ihm keine vor, er sei weiterhin aktiv und verfüge über soziale Kontakte, insbesondere durch seine ehrenamtliche Tätigkeit als Fußball-Co-Trainer. Der Teil-GdB von 40 sei nicht aufgrund anderer Erkrankungen zu erhöhen, da solche beim Kläger nicht bestünden.

Am 13. Juni 2022 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Aus der sachverständigen Zeugenauskunft der L1 ergebe sich, dass eine chronische Fatiqué zumindest mittleren Grades vorliege. Er leide unter einer ausgeprägten Abgeschlagenheit und Erschöpfung, hinzukomme die kognitive Teilleistungsminderung mit ausgeprägten Konzentrationsstörungen, die bisher nicht ausreichend berücksichtigt sei. Aufgrund der hochgradigen chronischen Erschöpfung und der psychischen Beeinträchtigungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sei die Schwerbehinderteneigenschaft gegeben. Das SG berücksichtige nicht, dass er nur einer Teilzeittätigkeit mit vier Stunden täglich nachgehen könne und er von der DRV eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhalte.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Mai 2022 abzuändern und den Bescheid vom 5. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2019 aufzuheben, soweit ein GdB von weniger als 50 festgestellt worden ist.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Der Senat hat die Rentenakte des Klägers beigezogen, aus der sich nur bereits aktenkundige Befunde ergeben haben.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 3. Mai 2022, soweit damit die reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Aufhebung des Bescheides vom 5. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 17. Dezember 2019, soweit damit ein GdB von weniger als 50 festgestellt worden ist, abgewiesen worden ist. Gegen die Herabsetzung des GdB von 80 auf 50 hat sich der Kläger bereits im Klageverfahren nicht gewandt, sodass der Bescheid teilweise bestandskräftig geworden ist. Ebenso hat der Beklagte weder Berufung noch Anschlussberufung gegen die teilweise stattgebende Entscheidung des SG eingelegt. Die Herabsetzung auf einen GdB von 40 ist damit rechtskräftig geworden. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, § 54 Rz. 33a).

Die Begründetheit der Berufung folgt aus der Begründetheit der Klage im streitigen Umfang. Der Bescheid vom 5. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG) soweit dieser den GdB auf unter 50 herabsetzt. Zur Überzeugung des Senats liegt bei dem Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft auch nach dem Eintritt von Heilungsbewährung weiterhin vor.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Nach den VG, Teil B, Nr. 1c ist nach der Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum beträgt in der Regel fünf Jahre und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die Anhaltswerte sind auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen und beziehen den regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden mit ein. Soweit keine außergewöhnlichen Folgen oder Begleiterscheinungen der Krebserkrankung vorliegen, legen die VG die Höhe des GdB pauschal fest. Erst für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörung zu bemessen. Beruht daher die Höhe des GdB auf einer Erkrankung, für welche die einschlägigen Normen einen erhöhten GdB-Wert während des Zeitraums der Heilungsbewährung ansetzen, ändert das Verstreichen dieses Zeitraums die wesentlichen, d.h. rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse, die der Feststellung des GdB zu Grunde lagen (BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/15 R –, juris, Rz. 15; BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 12/95 –, juris, Rz. 14). Somit begründet schon der reine rezidivfreie Zeitablauf den Eintritt der Heilungsbewährung und damit die wesentliche Änderung. Eine Beschwerdefreiheit oder eine folgenlose Ausheilung der Erkrankung wird nicht vorausgesetzt.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt, nachdem gegenüber dem maßgebenden Vergleichsbescheid vom 11. April 2016 eine wesentliche Änderung dadurch vorliegt, dass Heilungsbewährung hinsichtlich der akuten Leukämie eingetreten ist, da sich den vorliegenden Arztberichten keine Anhaltspunkte für ein Rezidiv entnehmen lassen. Der Beklagte war daher zur Neufeststellung des GdB berechtigt, was der Kläger letztlich nicht in Frage gestellt hat, nachdem er sich nur gegen die Herabsetzung auf einen GdB von unter 50 gewandt hat. Diese wird zur Überzeugung des Senats von den dokumentierten Befunden nicht getragen.

Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).
Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der GdB weiterhin 50 beträgt, die Schwerbehinderteneigenschaft also fortbesteht.

Die bewertungsrelevanten Funktionseinschränkungen des Klägers liegen im Funktionssystem „Blut einschließlich blutbildendes Gewebe“, werden durch die Folgen der abgelaufenen Leukämie begründet und sind weiter mit einem GdB von 50 zu bewerten.

Nach den VG, Teil B, Nr. 16.6 liegt der GdB bei akuten Leukämien im ersten Jahr nach Diagnosestellung 100, nach dem ersten Jahr beträgt dieser bei unvollständiger klinischer Remission weiterhin 100. Bei kompletter klinischer Remission ist unabhängig von der durchgeführten Therapie nur noch ein GdB für die Dauer von drei Jahren (Heilungsbewährung) 80 begründet. Danach ist der GdB nach den verbliebenen Auswirkungen (insbesondere chronische Müdigkeit, Sterilität, Neuropathien, Beeinträchtigung der Entwicklung und kognitiver Funktionen) zu bewerten.

Während die VG, Teil B, Nr. 18.4 hinsichtlich eines chronischen Fatiqué-Syndroms nur darauf verweist, dass die funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen sind, beschreiben die VG, Teil B, Nr. 16.6 bezogen auf das konkrete Krankheitsbild des Klägers die in erster Linie zu bewertenden Folgen. Hinsichtlich der Folgen hat R3, dessen Befundschein der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), überzeugend dargelegt, dass es sich um typische Ausfallerscheinungen von Patienten nach Chemotherapie handelt, was L1 in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft bestätigt hat. Diese hat darüber hinaus bestätigt, was dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist, dass das Fatiqué-Syndrom häufige Folge von Krebserkrankungen ist, oft unabhängig davon, ob eine Chemotherapie erforderlich war. Sie wurde vom Kläger angesichts von ausgeprägter Abgeschlagenheit und Antriebslosigkeit noch 2020 konsultiert, was das Ausmaß des Fatiqué-Syndroms noch sieben Jahre nach der überstandenen Krebserkrankung aufzeigt. Sie hat die Diagnose bereits aufgrund der Anamnese als bestätigt angesehen, weil der Kläger geradezu typische Symptome geschildert hat. Sie hat weiter bestätigt, dass das therapeutische Potential ausgeschöpft ist, die Erkrankung sich ohnehin nur schwer einer Behandlung zugänglich zeigt. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang alle bereits aufgenommenen Behandlungen vorgetragen, die sämtlich nicht zu einer durchschlagenden Besserung geführt haben, was eindrucksvoll seinen Leidensdruck unterstreicht. Dennoch ist er bemüht weiterhin in dem ihm möglichen Umfang berufstätig und zusätzlich, wenn auch eingeschränkt, im Ehrenamt tätig zu sein. Dabei übersieht der Beklagte, dass gerade für diesen Personenkreis die Schwerbehinderung eingeführt wurde, um die berufliche Arbeit unter den erschwerten Bedingungen als Behinderter zu unterstützen, nämlich insbesondere durch weitere Urlaubstage, aber auch Integrationsleistungen wie Hilfsmittel, nicht zuletzt Deputats-Ermäßigung. Korrespondierend dazu entfällt für den Arbeitgeber die Ausgleichsabgabe.

Zwar hat der GdB nach VG, Teil A, Nr. 2a die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben zum Inhalt, sodass von der Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nicht automatisch auf die Höhe des GdB geschlossen werden kann. Indessen findet die vom Kläger geklagte chronische Erschöpfung hierin deutlich ihren Ausdruck. Während nämlich die Rehabilitationsklinik 2015, nach langer Arbeitsunfähigkeit und Aussteuerung des Klägers, prognostisch noch von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für die letzte Tätigkeit ausgegangen ist, hat sich diese Prognose nach tatsächlicher Wiederaufnahme der Arbeit nicht bestätigt. P1 hat hierzu in seinem urkundsbeweislich zu verwertenden Gutachten für die DRV nachvollziehbar dargelegt, dass es bei dem Kläger zu Unwohlsein und Erschöpfungsphasen kommt, wobei er durch eine Tätigkeit von mehr als drei Stunden eine Belastung der Immunsituation mit Erhöhung des Rückfallrisikos sieht, wodurch die deutliche Belastbarkeitsminderung des Klägers unterstrichen wird. Den Befundberichten des K3 lässt sich darüber hinaus entnehmen, dass es im Verlauf zu keinen Befundbesserungen gekommen ist, weshalb seitens der DRV auch keine Veranlassung gesehen wurde, die Gewährung der teilweisen Erwerbsminderungsrente aufzuheben. Diese wird vielmehr auf Dauer gewährt, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung beim SG bestätigt hat.

R3 und der K3 haben daneben – aufgrund der Belastungen des Klägers nachvollziehbar – auf eine leichte affektive Unsicherheit mit Anpassungsstörung und ängstlich-depressiver Symptomatik verwiesen.

Für den Senat überzeugend hat L1 in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft darauf hingewiesen, dass die bei dem Kläger bestehenden kognitiven Einschränkungen mit den daraus folgenden ausgeprägten Konzentrationsstörungen berücksichtigt werden müssen. Diese sind bereits von R3 beschrieben und in entsprechenden Testverfahren nachgewiesen worden. In diesem Zusammenhang ist bei der Analogbetrachtung in Rechnung zu stellen, dass nach den Vorgaben der VG, Teil B, Nr. 3.1 Hirnschäden tendenziell höher zu bewerten sind und bereits leichte, sich im Alltag gering auswirkende Störungen eine Bewertung, mit einem GdB von 30 bis 40 rechtfertigen.

Dass die vorschnelle Erschöpfung und die mangelnde Belastbarkeit sich nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Freizeit auswirkt, wie der Kläger geltend gemacht hat, ist für den Senat nachvollziehbar und wird dadurch untermauert, dass er die Tätigkeit als Fußballtrainer nur als Co-Trainer ausführt, weil er diese aus gesundheitlichen Gründen nicht zuverlässig verrichten kann. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestehen hingegen nicht.

In der Gesamtschau der von der Chemotherapie verbliebenen Einschränkungen ist die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers damit über den Zeitraum der Heilungsbewährung hinaus begründet.

Auf die Berufung war daher das Urteil des SG abzuändern und der Bescheid vom 5. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2019 aufzuheben, soweit mit diesem ein GdB von weniger als 50 festgestellt worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Begehren in beiden Instanzen voll obsiegt hat.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.



 

Rechtskraft
Aus
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