L 6 VG 982/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 VG 89/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 982/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Straffreiheit des Täters nach der Unschuldsvermutung "in dubio pro reo" lässt die Rechtswidrigkeit eines tätlichen Angriffs nicht zwingend entfallen.
2. Nur bei neuen erfolgversprechenden Ermittlungsansätzen oder einer anderen Würdigung des Sachverhalts muss in dem sozialgerichtlichen Verfahren weiter aufgeklärt werden, ansonsten darf sich das Gericht auf die Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen stützen.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 5. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund von multiplen Stichverletzungen nach einer körperlichen Auseinandersetzung am 15. Oktober 2016 in einer Gaststätte.

Er ist 1980 geboren und arbeitete zum Tatzeitpunkt als Chirurgiemechaniker. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Am Abend des 15. Oktober 2016 befand er sich mit seiner Ehefrau L1 und seinen Bekannten L2 (nachfolgend: L2 ), dessen Frau L3 (nachfolgend: L3 ) sowie E1 (nachfolgend: E1 ) wie dessen Freundin M1 in der Gaststätte „E2“ in V1. Im Laufe des Abends kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem ihm nicht bekannten M2 (nachfolgend: M2 ), in deren Verlauf M2  dem Kläger multiple Stichverletzungen an Auge, Brustkorb und Oberschenkel zufügte.

Am 10. November 2016 beantragte der Kläger bei dem Landratsamt T1 (LRA) die Gewährung von Leistungen für Gewaltopfer und verwies auf den Ermittlungsbericht der Polizei.

Das LRA zog daraufhin die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft K1 (StA – Az.: 30 Js 2451/16) bei:

In der Tatnacht von der Polizei befragt gab der Kläger an, den M2 nicht zu kennen. Er sei vor dem Bistro im Raucherraum gewesen und dort von ihm mit dem Messer angegriffen worden. Das Messer habe er erst bemerkt, als ihm die Verletzung am Bein zugefügt worden sei. Zuvor habe ein langer schmaler Mann mit Glatze mit dem M2 Streit gehabt, er habe M2 beruhigen wollen und sei auf ihn zugegangen. Eine andere Person habe ebenfalls Streit mit M2 gehabt, alles sei rein verbal abgelaufen. M2 sei sehr aggressiv gewesen.

Er könne sich nur noch erinnern, dass er plötzlich die Treppe runtergeflogen sei, nachdem er oberhalb der Treppe etwas aufs Auge bekommen habe. Messerstiche habe er dann erst unterhalb der Treppe, als sie auf dem Boden gelegen hätten, gespürt, erst am Bein und dann am Oberkörper. Zwei weitere Personen hätten M2 festgehalten, „E3“ sei mit dabei gewesen, dieser habe ihm geholfen und versucht, die Blutung am Bein zu stoppen. „E3“ habe vor ihm gestanden, dahinter der M2. Als „E3“ mit ihm gesprochen habe, habe er aus dem Nichts einen Schlag gegen sein Auge gekommen, L2 habe zu diesem Zeitpunkt hinter ihm gestanden. „E3“ habe M2 festgehalten, weil dieser rumgebrüllt habe und immer lauter geworden sei. Er selbst habe den M2 weder angefasst, noch geschlagen. An dem Abend habe er circa 10 kleine Gläser Wodka getrunken, sich nicht stark betrunken gefühlt. Er habe keine Beleidigungen des Täters geäußert, sondern diesen nur beruhigen wollen. Es habe keinen Grund gegeben, ihn aus dem Nichts heraus zu schlagen. Er glaube, dass es sich um kein richtiges Messer gehandelt habe, sondern um ein Blechstück mit Spitze. Dies habe der M2 in der rechten Hand gehalten, ob es schon beim ersten Schlag zum Einsatz gekommen sei, könne er nicht beantworten.

Bei seiner Geschädigtenvernehmung am 21. Oktober 2016 gab der Kläger an, mit seiner Frau und weiteren Personen gegen 22.00 Uhr in der Gaststätte angekommen zu sein, etwas gegessen und Wodka getrunken, auch getanzt zu haben. Dann habe er eigentlich auf die Toilette gehen wollen, habe noch vor der Ausgangstüre gehört, dass dahinter Streit sei, laut eine Frau gehört. Direkt nach einem kleinen Flur, wo linksseitig ein runder Tisch stehe und rechtsseitig ein Box-Automat hänge, habe er an der dortigen Ecke des Flures E1 stehen sehen. Dieser habe mit dem Rücken zu ihm gestanden, leicht links vor ihm hätten sich eine Frau befunden, M2 daneben im Bereich des runden Tisches und in der Ecke des Tisches Richtung Treppe ein polnischer Mann mit roter Jacke.

Zunächst habe er selbst hinter E1 gestanden. Dabei habe er gesehen, wie eine Frau den M2 habe beruhigen wollen. Dieser habe einen bösen Blick in den Augen gehabt, er wisse nicht, wer den M2 böse gemacht habe. Der Pole, K2 (nachfolgend: K2 ), welcher in der Nähe gestanden sei, habe etwas gesagt. Er sei dann zu dem Tisch gegangen. Er habe mitbekommen, dass der M2 etwas zu dem Polen auf Russisch gesagt habe. Dieser habe ihn aber nicht verstanden.

Die Frau habe den M2 dann etwas beruhigen können. Er selbst sei wieder zurückgegangen, Richtung Gaststättentür. Die Frau sei mit ihm gekommen, hinter ihm gelaufen. Er habe zu ihr gesagt, dass jetzt wohl wieder alles in Ordnung sei, es wohl keine Schlägerei gebe. Sie könne ruhig nach drinnen in die Gaststätte gehen. Zunächst habe es so ausgesehen, als wolle sie reingehen. Er habe ihr noch die Tür aufgemacht. Als sie schon im Begriff gewesen sei reinzugehen, sei sie wieder zurückgekommen. Er habe ihr zuvor noch gesagt, dass er gar nicht gewusst habe, dass es hier so hübsche Frauen gebe.

Er sei dann zu K2 zurückgegangen und habe gefragt, was los sei. Er habe gesehen, dass K2 irgendwie traurig ausgesehen habe, einfach schlecht drauf gewesen sei. Der M2 habe da schon „böse“ dagestanden. E1 habe ihn – den Kläger – dann am Arm gefasst und zu ihm gesagt, dass er das regele, ihn in Richtung des Box-Automaten gezogen. Sie seien dann so gestanden, er näher am Box-Automat und der E1 vor ihm. Er habe in Gesprächsfetzen mitbekommen, dass es eventuell ein Problem mit dem Polen und vielleicht mit einer Frau gebe, die der M2 angemacht habe. So habe es der E1 ihm erzählt. Als er sich gemeinsam mit E1 in Richtung des Box-Automaten aufgestellt habe, sei M2 zu ihnen herübergekommen, habe nichts gesagt und ihm plötzlich mit der Faust auf sein rechtes Auge geschlagen. Nachdem er ihn geschlagen habe, sei der M2 in Richtung Treppe weggelaufen, die nach unten führe. Er habe den E1 daraufhin weggeschoben, sei dem M2 hinterher, der die Treppe bis zu dem ersten Podest hinuntergegangen sei, wo er ihn eingeholt habe. Er habe ihn dort erwischt, ihn am Rücken umgedreht und ihm ins Gesicht gehauen. Zu diesem Zeitpunkt seien keine anderen Personen da gewesen. Wie die Messerstiche abgelaufen seien, wisse er nicht. Er habe gefühlt, dass aus seinem Auge viel Blut komme. Er habe noch einen Schrei gehört, entweder von E1 oder von L2, das wisse er nicht genau. Der L2 sei dann auch nach unten gekommen und habe ihn gegen den M2 abgeschirmt.

Er habe mitbekommen, dass alles voller Blut gewesen sei, aber nicht gewusst, wo dies herkomme. So richtig bei Bewusstsein sei er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gewesen. Er wisse, dass jemand mit E1 gesprochen und man wohl versucht habe, M2 das Messer wegzunehmen. Seine Frau und E1 hätten sich dann bemüht, seine Verletzungen zu versorgen.

Auf die Frage, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt gesehen habe, dass M2 ein Messer habe, gab der Kläger an, dass er das Messer in der linken Hand zu dem Zeitpunkt gesehen habe, wo er M2 unten an der Treppe gefangen, als er diesen am rechten Arm festgehalten habe. Er habe nicht kapiert, wie der M2 ihn verletzt habe, ob er ein oder mehrere Messer gehabt habe. Er habe eines in der Hand wahrgenommen und ein weiteres Messer am Boden liegen sehen, sie hätten einen blauen oder dunkelgrünen Griff gehabt.

Auf die Frage, wie viele Personen sich noch in dem Bereich aufgehalten hätten, in dem er E1 gesehen habe, gab der Kläger an, dass er denke, dass es vier oder fünf Personen gewesen seien. Er glaube, L2 sei auch noch da gewesen, er wisse es aber nicht mehr ganz genau, vielleicht habe dieser vor dem Haus geraucht. Das Blut an seinem Auge habe er bemerkt, als er die Treppe nach unten gegangen sei, M2 eingeholt und festgehalten habe. Das Blut an seinem Arm habe er gesehen, als er seinen rechten Arm nach vorne bewegt habe, es sei entlanggelaufen. Im ersten Moment nach dem Schlag habe er nur gedacht, dass der M2 ihm eine reingehauen habe, erst unten auf der Treppe habe er festgestellt, dass er am Auge blute.

Er habe nicht mitbekommen, wie L2 verletzt worden sei, zu diesem Zeitpunkt sei er bereits bewusstlos gewesen. Er habe die ganze Zeit nicht bemerkt, dass M2 ein Messer dabeigehabt habe, bis zu dem Moment, als die Jungs geschrien hätten „er hat ein Messer“. Er denke, dass die ganze Geschichte allerhöchstens zwei Minuten gedauert habe. Er sei kurz raus, habe mit dem polnischen Mann gesprochen und dann sei es schon losgegangen. Er glaube, dass M2 vielleicht schon vorbereitet gewesen sei, aber hinsichtlich des Polen und nicht wegen ihm. Er denke das auch deshalb, weil die Frau des M2 ihn ja wegen des Polens beruhigt habe.

M2, im alkoholisierten Zustand von der Polizei befragt (1,36 Promille), gab an, sich beschützt zu haben. Er sei von mehreren Leuten, die er nicht kenne, angegriffen worden. Er wisse nicht warum. Er habe im Raucherzimmer am Treppenabgang geraucht, was passiert sei, wisse er nicht. Er wisse nur, dass er auf der Treppe von mehreren Leuten angegriffen worden sei. Er sei kopfunter mit jemandem die Treppe runtergeflogen. Entweder habe er das Messer rausgezogen oder schon in der Hand gehabt und habe jemanden verletzt, das könne sein. Er sei festgehalten worden, bis die Polizei gekommen sei. Er wisse nicht, warum er angegriffen worden sei. Er habe drinnen noch mit einem aus Polen gesprochen. Sie seien dann rauchen gegangen. Was passiert sei, wisse er nicht. Das sei halt so in einer russischen Kneipe, „Russe macht Russe fertig“. Das Messer habe er im Internet bestellt, es sei sechs oder sieben Zentimeter lang. Er habe sich erkundigt, er habe es wegen der Leute aus Syrien bestellt, seine Frau habe Angst. Normalerweise habe er das Messer im Auto, warum er es dabeigehabt habe, wisse er nicht. Er kenne die anderen Personen nicht, die Auseinandersetzung habe im Treppenhaus begonnen. Er wisse, dass er einem anderen mit dem Messer ins Bein gestochen habe, ob er mehrere Personen verletzt habe, wisse er nicht. Seine eigenen Verletzungen stammten aus der Kneipe.

Bei der richterlichen Vernehmung durch den zentralen Bereitschaftsdienst des Amtsgerichts K1 am 16. Oktober 2016 gab M2 an, dass er angegriffen worden sei. Er habe sich mit dem Messer verteidigt. Es sei im Treppenhaus gewesen, er wisse nicht, wer ihn angegriffen habe. Es seien mehrere Personen gewesen. Er sei beim Rauchen gewesen, seiner Meinung nach hätten sie sich gestritten, dann habe er Schläge aufs Gesicht bekommen, es hätten ihn zwei oder drei Leute angegriffen. Er wisse nicht, warum er angegriffen worden sei, er denke mal, dass es einen Streit gegeben habe, warum sonst sollten die auf ihn losgehen. Er sei alleine gewesen, wahrscheinlich habe er dann zum Messer gegriffen. Er könne sich daran wirklich nicht erinnern, weil er besoffen gewesen sei. Auf den Vorhalt, dass die Blutprobe – nur – 1,5 Promille ergeben habe, erklärte M2, dass ihm erst zwei oder drei Stunden nach dem Vorfall Blut abgenommen worden sei. Ihn hätten zwei oder drei Leute angegriffen.

Er habe nicht immer ein Messer dabei, warum er es an diesem Tag dabeigehabt habe, wisse er nicht. Er könne sich wirklich nicht erinnern, was in dem Treppenhaus passiert sei, warum es zu dem Streit gekommen sei. Wenn Leute verletzt seien, denke er mal, dass er zugestochen habe. Zu der eigentlichen Situation des Zustechens könne er überhaupt nichts sagen, wenn er sich noch erinnern könnte, würde er das sagen. Mit Beschluss vom 16. Oktober 2016 wurde die Untersuchungshaft gegen M2 angeordnet.

Die Ehefrau des M2, M3, gab, nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht, an, dass sie in der Kneipe keine anderen Leute gekannt habe. Sie glaube, der ganze Vorfall sei ihre Schuld gewesen, da sie zu sehr mit einem anderen Mann geflirtet habe, den sie nicht beschreiben könne. Ihr Mann sei sehr eifersüchtig. Sie sei ihrem Mann ins Raucherzimmer gefolgt, bei ihrer Ankunft sei dieser schon am Streiten gewesen. In dem Raum hätten sich bestimmt zehn Leute befunden. Ihr Mann habe sie zurück auf die Tanzfläche geschickt, sie sei aber nur ein Stück zurückgegangen, habe dann aber nicht mehr genau gesehen, was passiert sei. Sie sei dann mehr oder weniger unter der Tür gestanden. Plötzlich habe ein Mann auf dem Boden gelegen und M2 habe dagesessen und die Hände vor dem Gesicht gehabt. Auf Nachfrage zu der Verletzung im Gesicht der Zeugin gab diese an, dass sie versucht habe, sich vor ihren Mann zu stellen und dann angeschrien, geschlagen und an den Haaren gezogen worden sei und zwar von der Schwester des Mannes, der am Boden gelegen sei. Die im Raucherraum gefundenen Extensions seien ihre. Sie habe sie dort im Blut gesehen und glaube, dass sie ihr von der Schwester des Mannes herausgerissen worden seien. Ihr Mann habe kein Messer dabeigehabt, er habe nie ein Messer bei sich. Bei ihrer richterlichen Vernehmung am 24. Oktober 2016 (vgl. Protokoll vom gleichen Tag) berief sie sich auf ihr Aussageverweigerungsrecht.

L2 gab an, dass er sich an dem Abend mit mehreren Leuten bei ihm zu Hause getroffen habe. Gegen 19.00 Uhr hätten sie einfach ein bisschen Spaß haben wollen, hätten was getrunken und seien anschließend gegen 21.30 Uhr in die Gaststätte „E2“ gefahren. Sie hätten dort einen Tisch bekommen, was zu Essen und zu Trinken, also zwei Flaschen Wodka bestellt, aber nur eine aufgemacht. Er schätze, dass er selbst zu Hause vielleicht fünf kleine Gläser Wodka und in der Gaststätte nochmal genauso viele getrunken habe. Der Abend sei ganz normal gelaufen, sie hätten sich unterhalten und getanzt. Er habe dann nach draußen gewollt, um eine zu rauchen. Der Kläger sei mitgekommen, obwohl er gar nicht rauche. In der Gaststätte sei es sehr laut gewesen, sodass man sich nicht habe unterhalten können, deshalb sei der Kläger mit rausgegangen. Draußen, wo man rauche, sei so ein runder Tisch, dort sei es dann zu einem Streit zwischen dem Kläger und M2 gekommen. Mit M2 habe er zuvor schon draußen geraucht, da sei er ganz normal gewesen. Ein richtiger Streit sei es nicht gewesen, mehr ein lautes Gespräch, worum es gegangen sei, wisse er nicht. Es sei alles ganz schnell gegangen, er habe den Kläger noch zur Seite schieben wollen. Er sei dann ein Stück nach hinten gegangen, Richtung des dort aufgestellten Box-Automaten. Hinter seinem Rücken hätten sich noch andere Leute und auch M2 befunden. Er habe plötzlich bemerkt, dass er seine Arme nicht mehr habe bewegen können, danach wisse er nicht mehr, was passiert sei. Vielleicht sei er unter Schock gewesen. Er habe von anderen Leuten schon unterschiedliche Geschichten gehört, was passiert sein solle, aber er wisse es nicht. Er habe nicht mitbekommen, was mit dem Kläger dann passiert sei. Erst als er in die Gaststätte zurückgekommen sei, habe er gesehen, dass alles voller Blut sei.

Auf Vorhalt und dem Fertigen einer Skizze von der Örtlichkeit gab L2 an, dass er seinen Arm nicht mehr habe bewegen können. Als er geschaut habe, habe er gesehen, dass das Blut runtergelaufen sei, wie aus einem Wasserfall. Er wisse nicht, ob er selbst oder der Kläger einmal auf dem Podest der Treppe gewesen seien. Ebenso wisse er nicht, wo sich E1 befunden habe. Dass M2 ein Messer in der Hand gehabt habe, habe er nicht mitbekommen. Er wisse nicht, worum es gegangen sei und wer damit angefangen habe.

Er habe zu seiner Frau gesagt, dass sie den Krankenwagen rufen solle und sei anschließend in die Küche gegangen, wo sich mehrere Leute um ihn gekümmert hätten. Auf Vorhalt der Angaben des E1 verneinte L2, ein Streitgespräch zwischen diesem und M2 gesehen zu haben. Auf weiteren Vorhalt gab L2 an, nicht gesehen zu haben, dass E1 vom M2 mit der Faust geschlagen worden sei und der Kläger deshalb eingegriffen habe. Er habe schon gesagt, nicht zu wissen, weshalb der Kläger mit M2 so laut gesprochen habe. Vielleicht sei dies der Grund gewesen, dass E1 geschlagen worden sei. Der Kläger sei viel größer als er, vielleicht habe er das besser sehen können. Dass er die Treppe hinuntergefallen sei, sei ihm nicht erinnerlich. Er denke, dass er mit E1 zum Rauchen draußen gewesen sei. Sie seien eine große Gruppe gewesen, da sei immer mal einer zum Rauchen rausgekommen. Als er mit M2 draußen gewesen sei, sei von seiner Gruppe niemand dabei gewesen.

Seine Frau sei tanzen gewesen, als er rausgegangen sei. M2 habe er zuvor noch nie gesehen, dessen Frau kenne er nicht. Er könne sich erinnern, dass sie blonde Haare habe. Er selbst habe kein Messer gesehen. Erst hinterher habe er gehört, dass M2 wohl die Musik in der Gaststätte nicht gefallen habe.

Im polizeilichen Ermittlungsbericht wurde ausgeführt, dass M2 mit einer noch nicht verifizierten Person im Treppenhaus der Gaststätte „E2“ in Streit geraten sei. Als E1 den Streit habe schlichten wollen, habe M2 ihm ins Gesicht geschlagen, dem dadurch ein Stück eines Zahnes im Oberkiefer abgebrochen sei. Anschließend habe sich L2 in den Streit eingemischt, worauf M2 diesem multiple Schnittverletzungen zugefügt habe. Der Kläger habe nur seinem Bekannten L2 helfen wollen. Aufgrund eines Gerangels seien M2 und der Kläger die Treppe hinuntergestürzt. Am Treppenabsatz angekommen, habe M2 dem Kläger ebenfalls mehrmals mit dem Messer verletzt.

E1 gab an, mit dem Kläger und L2 in den Raucherraum gegangen zu sein. Sie hätten zunächst ein paar Minuten dagestanden und geraucht. Er sei dann irgendwann von seinem Standpunkt aus rüber zu diesem runden Tisch, dort zwischen M2 und einer weiteren Person gestanden. Er habe M2 aufgefordert „normal zu reden“. Als er kurz seinen Kopf weggedreht habe, habe er einen Schlag erhalten, dann sei der Kläger dazwischen gegangen. Der Kläger und M2 hätten sich gegenseitig festgehalten und geschüttelt. Er habe versucht, die beiden zu trennen, der Kläger habe im Verlauf einen Schlag von M2 erhalten. Sein Gedanke sei gewesen, dass wenn M2 so ein blöder Mann sei, dann schlagen wir ihn kurz zu Boden, dann ist die Situation erledigt. Der Kläger und M2 seien zu Boden gegangen, dann zusammen die Treppenstufen hinuntergefallen. Er habe Blut auf den Treppenstufen gesehen. L2 sei ihm verletzt entgegengekommen. Er selbst sei dann auch die Treppen runter, habe den Kläger und M2 trennen können. Er habe das Messer bis zum Schluss nicht gesehen und von diesem erst hinterher erfahren. Er habe M2 in eine Ecke gedrängt und sei dann von zwei anderen Leuten zur Seite geschoben worden. Diese hätten dann auf M2 eingeschlagen. Als M2 am Boden gelegen habe, habe er erstmals das Messer gesehen.
L3 bekundete bei ihrer polizeilichen Vernehmung, dass sie an dem Abend einen Tisch in der Gaststätte bestellt hätten. Ihre Männer seien dann nach draußen gegangen um zu rauchen, nach fünf Minuten sei ihr Mann wieder reingekommen und habe geblutet. Ab da habe sie Panik bekommen. Sie habe versucht ihrem Mann zu helfen. Dann sei sie nach unten gerannt und habe den Krankenwagen rufen wollen. Sie habe wieder zum Haupteingang hinausgewollt, dort habe sie den Kläger gesehen, der schon auf dem Boden gelegen habe. Der habe geblutet und sein Auge habe ganz schlimm ausgesehen. Sie habe den Krankenwagen und die Polizei angerufen. Dann sei sie wieder hoch. Auf der Treppe habe noch ein kleines Messer gelegen. Wie es zu den Verletzungen gekommen sei, habe sie erst später erfahren. M2 habe sie vorher schon in der Gaststätte gesehen, wie er mit seiner Frau oder Freundin getanzt habe. Ob es Ärger mit M2 gegeben habe, wisse sie nicht. Sie habe nur mitbekommen, wie er mit dem Sänger von der Musikband gestritten habe, diesem zugerufen habe, dass er gar nicht live singe und die Musik scheiße sei.

Auf Nachfrage, was L2 ihr von dem Vorfall erzählt habe, gab L3 an, dass L2 gesagt habe, sie seien zum Rauchen gegangen und dort sei Streit gewesen. Der Kläger müsse zu irgendwelchen Personen etwas gesagt haben, L2 sei dann dazwischen gegangen, habe den Kläger wegnehmen wollen, dann plötzlich seine Arme nicht mehr gespürt. Das müsse alles sehr schnell passiert sein, es seien nicht einmal fünf Minuten gewesen.

L3 schilderte in ihrer Zeugenvernehmung, dass die „Sarrina“ plötzlich „Blut“ gerufen habe. Sie sei dann zum Ausgang gegangen und habe den Kläger dort liegen sehen, er sei am Bein verletzt gewesen, er habe nichts zu ihr gesagt, sie ihn auch nichts gefragt. Sie habe den Gürtel aufgemacht und versucht, das Bein abzubinden. Sie habe in Russland Krankenschwester gelernt und kenne sich aus. Sie habe weiter gesehen, dass der Kläger am Oberkörper geblutet habe, beim Hochheben des T-Shirts habe sie zwei Einstiche gesehen. Sie seien dann dem Krankenwagen hinterher in die Klinik gefahren. M2 kenne sie nicht, sie habe ihn an dem Abend aber auf der Tanzfläche mit seiner Frau/Freundin gesehen. Der Kläger habe etwas getrunken, sei aber nicht betrunken gewesen.

K2, von der Polizei als Zeuge vernommen, verneinte, an dem Abend in einen Streit verwickelt gewesen zu sein. Vielleicht habe ihn mal jemand angesprochen, aber das sei ihm nicht bewusst. Er wisse nicht, mit wem er sich hätte streiten sollen. Es hätten alle russisch gesprochen, er spreche nur polnisch. Ihm sei kein Mann aufgefallen, der eine Brille mit dunklen Gläsern getragen habe. Er habe nicht darauf erachtet, wisse aber auch nicht, weshalb man am Abend eine Brille mit dunklen Gläsern tragen solle. Er selbst trage keine Brille. Nach dem Rauchen sei er zurück in die Gaststätte und habe am Tisch nur zwei „Kurze“ getrunken. Nach circa 20 Minuten sei die Polizei gekommen. Einen Mann, der mit blutenden Armen ins Lokal gekommen sei, habe er nicht bemerkt. Das ganze Blut habe er erst gesehen, als er das Lokal verlassen habe. Auf nochmalige Nachfrage gab der Zeuge an, an diesem Abend mit niemandem gestritten zu haben. Er könne nicht auf Russisch streiten, er sei an diesem Abend als Mann alleine gewesen und da fange er keinen Streit an, gehe jedem Streit aus dem Weg. Er habe an diesem Abend mit niemand anderem als seinen drei Freundinnen gesprochen und habe auch nicht bemerkt, dass jemand mit ihm Streit angefangen habe.

Am 21. November 2016 beantragte die StA die Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Es bestehe gegen M2 kein dringender Tatverdacht mehr wegen eines Tötungsvorsatzes. Der Beschuldigte habe die Verletzungen dem Geschädigten vielmehr bei einem Gerangel beigebracht. Mit Beschluss des Amtsgerichtes K1 vom 22. November 2016 wurde der Haftbefehl daraufhin unter Auflagen außer Vollzug gesetzt.

Aus dem abschließenden Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei ergab sich, dass die durchgeführten Ermittlungen ergeben hätten, dass die Geschädigten und M2 in Begleitung ihrer Frauen, die sich in der Gaststätte befunden hätten, sich im Vorfeld nicht gekannt hätten, es habe keine Vorbeziehung bestanden. Zum Rauchen habe der eigentliche Gaststättenbereich verlassen werden müssen, hierfür begebe man sich ins Treppenhaus. M2 sei dem E1 gegen 23 Uhr im Raucherbereich aufgefallen, da er verbal aggressiv ein Gespräch mit einem der Musiker geführt habe. Gegen 23.30 Uhr habe der Kläger mit L2 und E1 den Gaststättenbereich verlassen, um zu rauchen oder sich besser unterhalten zu können. E1 habe hier M2 gesehen, der mit einem männlichen Gast eine verbal aggressive Unterhaltung geführt habe.

Denkbarer Tathergang sei, dass zunächst E1 den M2 angesprochen habe, dieser ihn unvermittelt ins Gesicht geschlagen habe, worauf ihm der Kläger zur Hilfe gekommen sei. Dieser beschreibe, dass M2 mit einem polnischen Gast ein Streitgespräch gehabt habe. E1 habe ihn dann weggeschoben, M2 sei hinterhergekommen und habe dem Kläger einen Schlag auf das Auge verpasst. Nach telefonischer Auskunft der Rechtsmedizin sei die Augenverletzung des Klägers durch scharfe Gewalt verursacht worden, somit müsse der M2 das Messer bereits zu diesem Zeitpunkt eingesetzt haben. Dafür spreche zudem, dass der Kläger angegeben habe, kurz nach dem Schlag Blut festgestellt zu haben, welches aus seinem Auge getropft sei. Der Kläger selbst habe an einen Schlag gedacht und zu diesem Zeitpunkt kein Messer gesehen.

Nach den Angaben des E1 sei es dann zu einem Gerangel zwischen M2 und dem Kläger gekommen, in dessen Verlauf die beiden die Treppe bis zum nächsten Podest hinuntergestürzt seien. Der Kläger habe zunächst angegeben, dass er die Treppe hinabgestürzt sei, dann, dass M2 nach dem vermeintlichen Schlag auf sein rechtes Auge die Treppe nach unten gerannt, er ihm hinterher sei, ihn auf dem Treppenpodest eingeholt und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst habe. Wie genau dann die Beibringung der Stiche erfolgt sei, habe der Kläger nicht sagen können.
L2 habe zunächst berichtet, dass er im Treppenhaus gesehen habe, wie der Kläger durch M2 mit einem Messer angegangen worden sei. Er habe die beiden Personen trennen wollen und sich zwischen M2 und den Kläger gestellt, dabei M2 den Rücken zugedreht, dann Schmerzen in seinen Armen verspürt und Blut gesehen. Wie die Stiche zugefügt worden seien, habe er nicht gesehen. In der zweiten Vernehmung habe er angegeben, dass draußen ein Streit zwischen dem M2 und dem Kläger gewesen sei. E1 habe wiederum ausgesagt, dass L2 die Treppe nach unten gerannt sei, wo sich bereits M2 und der Kläger befunden hätten. Gleich darauf sei L2 die Treppe wieder nach oben gekommen, habe seine Arme hochgehalten, wobei aus einer Wunde an den Armen Blut gespritzt sei.

Der genaue Tatablauf könne aufgrund der unterschiedlichen Angaben nur in groben Zügen nachvollzogen werden. Die eigentliche Stichbeibringung habe keiner der Geschädigten beobachtet. Weitere Zeugen des Vorfalls hätten sich nicht ermitteln lassen. Die Ehefrau des M2 habe angegeben, dass ihr Mann sehr eifersüchtig sei und sie auf der Tanzfläche mit einem Mann geflirtet hätte. Dies sei ein erklärbarer Grund für den späteren Streit, welcher in der körperlichen Auseinandersetzung und den Messerstichen geendet sei.

Im Bericht über die klinische Untersuchung des Klägers vom 17. Oktober 2016 führte P1 – Universitätsklinikum F1, Institut für Rechtsmedizin – aus, dass das rechte Auge mit einer pflasterfixierten Wundkompresse und einer Augenklappe aus Kunststoff bedeckt gewesen sei. Darunter habe sich das rechte Augenober- und Unterlid intensiv violett unterblutet gezeigt. Die rechten Augenlider seien geschwollen. Am Augeninnenwinkel sei eine nahtadaptierte, gewinkelte, glattrandige Hautdurchtrennung zu erkennen. Am Rumpf sei die linke seitliche Brustwand von einem Druckverband bedeckt gewesen. Dieser sei belassen worden. Am vorderen unteren Ende des Verbandes habe sich nach vorne eine quer gestellte, ritzerartige 6 cm lange, nach einwärts seicht auslaufende Hautläsion gezeigt. Wie weit sich die Verletzung nach links fortsetze, sei aufgrund des Verbandes nicht beurteilbar gewesen. Die Größe des Klägers wurde mit 181 cm, das Gewicht mit 104 kg bestimmt.

Die rechtsmedizinische Untersuchung habe ergeben, dass der Kläger bei dem Vorfall zwei Stichverletzungen der linken Brustwand, zwei Stichverletzungen der linken Bauchwand, eine langstreckige Stich-/Schnittverletzung der linken Oberschenkelinnenseite sowie eine Schnittverletzung am linken Ellenbogen erlitten habe. Des Weiteren sei eine penetrierende Verletzung des rechten Auges festgestellt und operativ versorgt worden. Die eine der beiden Bruststichverletzungen habe zur Eröffnung der Brusthöhle und zu einer Luft-/Blutbrustfüllung geführt. Zu einer Verletzung innerer Organe sei es offenbar nicht gekommen. Im Hinblick auf die Tiefe der Verletzungen der Brustwand sei dokumentiert, dass der Stichkanal der Verletzung, die nicht bis in die Brusthöhle reiche, circa 8 cm in Richtung fußwärts sondierbar gewesen sei. Atmung und Kreislauf hätten sich während der Behandlung stabil gezeigt. Eine konkrete Lebensgefahr habe nicht bestanden, die gegen den Oberkörper gerichtete Stichführung stelle aber eine abstrakt das Leben gefährdende Behandlung dar. Abgesehen von Blutungen aus den verletzten Gefäßen könne es bei einer Durchtrennung des Bauchfells zu einer unter Umständen lebensbedrohlichen Bauchfellentzündung kommen, sodass aus medizinischer Sicht eine abstrakte Lebensgefahr zu bejahen sei. An beiden Händen hätten kleine Schnittverletzungen bestanden. Diese Verletzungen sowie die Schnittverletzung handwärts des linken Ellenbogens befänden sich in abwehrtypischer Lokalisation. Das im Treppenhaus des Bistros „E2“ sichergestellte Messer sei geeignet, die Verletzungen zu verursachen.

Die rechtsmedizinische Untersuchung des M2 durch P1 am 16. Oktober 2016 ergab, dass M2 174 cm groß, 90 kg schwer und Rechtshänder sei. Der Notfallbericht beschreibe eine Schädelprellung, eine Halswirbelsäulendistorsion und eine Schnittwunde am Daumen. Knöcherne Verletzungen sowie intrakranielle Blutungen hätten bildgebend ausgeschlossen werden können. An der rechten Daumenkuppe habe sich eine frische Schnittverletzung gezeigt, die durch eine Messerklinge verursacht sein könne. An der linken Augenregion und an beiden Oberarmen hätten aspektmäßig frische, teilweise von Hautabschürfungen begleitete Hautunterblutungen vorgelegen. Die Hämatome seien Folge einer lokalen stumpfen Gewalteinwirkung. Eine Entstehung zum angegebenen Vorfallszeitpunkt sei plausibel. Die Hautabschürfungen seien durch tangentiale Kontaktierung mit einer rauen oder kantigen Struktur entstanden. Weitere teilweise parallelstreifige Hautabschürfungen seien innerhalb der behaarten Kopfhaut, am linken Unterarm, an den Ellenbogen sowie an der rechten Flanke lokalisiert.

Die StA sah (vgl. Verfügung vom 19. Juni 2018) eine schwierige Beweislage, da weitere neutrale Zeugen nicht vorhanden seien und die Beteiligten – vermutlich bedingt durch ihre Alkoholisierung – unterschiedliche Angaben machten. Nach vorläufiger Beurteilung scheide eine versuchte Tötung mangels Tatvorsatz aus. Fest stehe, dass der M2 mit den Tätlichkeiten begonnen habe. Nach einem Streit mit K2, dessen Aufenthalt auch im Wege der Amtshilfe in Polen nicht habe ermittelt werden können, habe er ohne rechtfertigenden Grund E1 ins Gesicht geschlagen. Anschließend sei es zu einem weiteren Faustschlag in das Gesicht des zur Hilfe eilenden Klägers gekommen. Danach habe ein Gerangel stattgefunden, dessen Ablauf im Einzelnen nicht zu klären gewesen sei. Insbesondere bleibe offen, ob M2 bereits in dieser Phase mit seinem Messer das Auge des Klägers schwer verletzt habe, sodass zu seinen Gunsten davon ausgegangen werden müsse, dass dies erst später erfolgt sei.

Von Bedeutung sei, dass sich das Geschehen dann auf einen Treppenabsatz nach unten verlagert habe. Hierbei deuteten die Aussagen teilweise darauf hin, dass die Geschädigten dem M2 die Treppe hinab gefolgt seien. Dies könne zu Gunsten des M2 als rechtswidriger Angriff ausgelegt werden, da die zuvor bestehende Notwehrlage durch den Sturz des Beschuldigten die Treppe hinab bereits beendet gewesen sei. Folglich könne nicht ausgeschlossen werden, dass M2 das Messer in Notwehr eingesetzt und dem Geschädigten die massiven Verletzungen zugefügt habe. Wenn man zu Gunsten des M2 von einer Notwehrsituation ausgehe, stelle sich die Frage nach der Gebotenheit und Erforderlichkeit der Notwehrhandlung, die er durch sein vorangegangenes Verhalten selbst provoziert habe.

Im Hinblick auf diese außerordentlich problematische Sach- und Rechtslage erscheine der Versuch einer Lösung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs sachgerecht. Deshalb wurde, mit Zustimmung des Gerichts, das Verfahren gemäß § 153a Abs. 1 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) vorläufig eingestellt und ein Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt, der letztlich scheiterte (Abschlussbericht vom 10. Oktober 2018).

Mit Strafbefehl vom 26. November 2018 wurde gegen M2 wegen vorsätzlicher Körperverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40,00 € verhängt. In der wegen des Einspruchs gegen den Strafbefehl durchgeführten Hauptverhandlung (vgl. Protokoll des Amtsgerichtes V1 vom 27. Januar 2019) wurde das Verfahren gemäß § 153a Abs. 2 StPO gegen eine Geldauflage von 1.000 € vorläufig und nach Erfüllung der Auflage endgültig eingestellt (vgl. Beschluss vom 22. November 2019).

Das LRA erhob den Befundschein des K3, der Operationen in der Augenklinik des Universitätsklinikums F1 beschrieb und die entsprechenden Befundberichte vorlegte.

B1 führte im Schwerbehindertenverfahren versorgungsärztlich aus, dass Folge der Stichverletzung eine Sehminderung rechts und eine eingepflanzte Kunstlinse rechts wäre, die mit einem Teil-GdB von 25 zu bewerten sei. Der Grad der Behinderung (GdB) betrage 30 ab dem 23. Oktober 2017, da erst zu diesem Zeitpunkt eine entsprechende Sehminderung nachgewiesen sei. Am 12. Februar 2017 habe der Visus noch 0,4 betragen, eine rückwirkende Feststellung auf den Zeitpunkt des Gewaltdelikts scheide aus. Mit Bescheid vom 9. Januar 2018 stellte das LRA einen GdB von 30 seit dem 23. Oktober 2017 fest.

Der H1 legte dar, dass die geltend gemachte schwere Verletzung des rechten Auges nicht durch den Faustschlag auf das rechte Auge, sondern ausschließlich durch einen Messerstich herbeigeführt worden sei. Dies belegten alle vorliegenden augenärztlichen Befunde. Der Faustschlag habe zu keinen bleibenden strukturellen Verletzungen des Auges geführt. Im rechtsmedizinischen Bericht der Universitätsklinik F1 finde sich die Beschreibung, dass das rechte Auge mit einer pflasterfixierten Wundkompresse und einer Augenklappe aus Kunststoff bedeckt sei. Darunter zeige sich das rechte Augenober- und Unterlid intensiv violett unterblutet. Die rechten Augenlider seien geschwollen. Dann folge die Beschreibung der Messerstichverletzung mit Hautdurchtrennung. Damit handele es sich bei den Gesundheitsstörungen, welche wahrscheinlich durch den Faustschlag hervorgerufen wurden, lediglich um vorübergehende. Diese seien als „Blutergüsse und Schwellungen im Bereich des rechten Auges“ zu bezeichnen.

Mit Bescheid vom 2. August 2019 stellte das LRA fest, dass zwischen den folgenlos abgeheilten Gesundheitsstörungen „Blutergüsse und Schwellungen im Bereich des rechten Auges“ und der Schädigung „Faustschlag rechtes Auge“ am 15. Oktober 2016 ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne des § 1 OEG bestanden habe. Folgen dieser Verletzung lägen aber nicht mehr vor, gleichwohl könne eine Übernahme der verursachten Heilbehandlungskosten erfolgen. Der Anspruch beginne am 15. Oktober 2016 und ende spätestens mit der folgenlosen Abheilung. Gesundheitsstörungen von nicht nur vorübergehender Dauer, die als Schädigungsfolgen anzuerkennen seien, lägen nicht vor. Beschädigtenversorgung nach dem OEG könne nicht gewährt werden.

Mit weiterem Bescheid vom 5. August 2019 lehnte das LRA die Gewährung von Beschädigtenversorgung für die gesundheitlichen Folgen der am 15. Oktober 2016 verübten Gewalttat „Messerstichverletzungen“ ab. Denn ein rechtswidriger tätlicher Angriff sei nicht erwiesen. Nach den strafrechtlichen Ermittlungen sei es am 15. Oktober 2016 gegen 23.30 Uhr zwischen M2 und einer ihm unbekannten männlichen Person im Treppenhaus der Gaststätte „E2“ zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen. Nachdem sich E1 in die verbale Auseinandersetzung eingemischt habe, habe M2 diesem mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Als der Kläger E1 habe helfen wollen, habe M2 diesem ebenfalls ohne rechtfertigenden Grund mit der Faust auf das rechte Auge geschlagen. Hierbei habe der Kläger eine Verletzung des rechten Auges erlitten, die M2 zumindest billigend in Kauf genommen habe. Aufgrund des Faustschlages seien vorübergehende Gesundheitsstörungen anzuerkennen, hierzu werde auf den Bescheid vom 2. August 2019 verwiesen. Anschließend sei M2 die Treppe hinab bis zum dortigen Treppenabsatz gelaufen und dort vom Kläger und dem L2 rechtswidrig angegriffen worden. M2 habe sich mit einem mitgeführten Einhandmesser mit ungezielten Stichen zur Wehr gesetzt und dem Kläger sowie dem L2, in Notwehr gerechtfertigt, ganz erhebliche Stichverletzungen zugefügt. Nach dem OEG sei ein tätlicher Angriff rechtswidrig, wenn kein Rechtfertigungsgrund vorliege. Nachdem der M2 sich mit dem Messer gegen den tätlichen Angriff des Klägers zur Wehr gesetzt und somit in Notwehr gehandelt habe, liege für die geltend gemachten Stichverletzungen ein Rechtfertigungsgrund vor, sodass ein rechtswidriger Angriff nicht habe nachgewiesen werden können. Dem Antrag nach dem OEG müsse daher hinsichtlich der Messerstichverletzungen der Erfolg versagt bleiben.

Gegen die Bescheide erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, dass der Angriff des M2 nicht durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sei, denn es sei kein solcher von ihm – dem Kläger – vorangegangen, außerdem sei festzuhalten, dass er mindestens vier Messerstiche erlitten habe, sodass jedenfalls ein Notwehrexzess vorliege, der den Rechtfertigungsgrund entfallen lasse.

Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 2. August 2019 wies das Regierungspräsidium S1 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2019 zurück. Da der angefochtene Bescheid der Sach- und Rechtslage entspreche, sei der Widerspruch zurückzuweisen gewesen. Mit gleicher Begründung wurde der Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. August 2019 mit Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2019 zurückgewiesen.

Am 13. Januar 2020 hat der Kläger dagegen Klagen beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. In den angefochtenen Bescheiden werde zwischen zwei Komplexen unterschieden. In einem Komplex solle zwar ein vorsätzlicher rechtswidriger Angriff vorliegen, aber keine Gesundheitsstörung von nicht nur vorübergehender Dauer. Im anderen Komplex solle zwar eine solche Gesundheitsstörung eingetreten sein, diese aber nicht auf einem vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff beruhen. Es handele sich aber nicht um zwei zu trennende Geschehensabläufe.

Er sei am 15. Oktober 2016 in der Gaststätte „E2“ gewesen. Zwischen 23.00 Uhr und 24.00 Uhr habe sich der M2 aus der Gaststätte in den Flurbereich begeben, welcher zum Rauchen benutzt werde. Hier habe er – der Kläger – sich mit E1 und L2 befunden. Zwischen M2 und einem weiteren – unbekannten – Gast sei es zu einem Streit gekommen. In diesen Streit habe sich E1 eingemischt. Dieser sei dann von dem M2 ins Gesicht geschlagen worden. Anschließend sei M2 ihn und L2 angegangen, habe ein Messer gezogen und sei auf ihn los. L2 habe sich zwischen M2 und ihn gestellt, gleichwohl habe M2 ihn angegriffen. Er habe unvermittelt einen Schlag im Bereich seines Auges gespürt, anschließend sei er mit dem M2 die Treppe hinuntergestürzt. Am Treppenabsatz angekommen, habe M2 ihm in den Oberschenkel und andere Körperteile gestochen. Insgesamt habe M2 ihm vier Stichverletzungen zugefügt. Es habe sich um ein einheitliches Geschehen mit einem vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff des M2 auf ihn gehandelt. Eine Notwehrlage des M2 habe nicht vorgelegen. Es habe zunächst akute Lebensgefahr bestanden, weshalb er stationär behandelt worden sei.

Das SG hat am 6. Oktober 2020 eine nichtöffentliche Sitzung durchgeführt (vgl. Protokoll) und den Kläger persönlich angehört. Dieser hat angegeben, dass er an dem Abend zwischen 20.00 Uhr und 21.00 Uhr in der Gaststätte angekommen sei. L2 habe für sie einen Tisch reserviert gehabt. Sie hätten was zu Essen und Wodka bestellt. Nach einiger Zeit seien sie zum Rauchen rausgegangen. Am Haus sei ein vorgebautes Treppenhaus, die Gaststätte sei im oberen Stockwerk. Als sie nach dem Rauchen wieder reingekommen seien, seien sie auf der Tanzfläche gewesen. Die Frauen hätten dort bereits getanzt. Sie seien dann wieder an den Tisch und hätten Wodka getrunken. Dann sei das Essen gekommen.

Zu einem späteren Zeitpunkt seien sie wieder zum Rauchen gegangen. Er sei zuvor noch an der Theke vorbei und habe mit dem Besitzer der Gaststätte gesprochen. Dann sei er auf die Toilette gegangen. Er habe da bereits gemerkt, dass eine laute Auseinandersetzung im Eingangsbereich stattgefunden habe. Er sei dann circa 3 Minuten auf der Toilette gewesen und habe nach Rückkehr einen Streit zwischen M2 und einigen polnischen Jungs, vielleicht auch Männer im Alter von 45 bis 50 Jahren, gesehen. Bei dem Streit sei es wohl um das Antanzen einer der Frauen gegangen. Er habe dann zu M2 gesagt, dass man nicht zum Streiten hergekommen sei, sondern um einen schönen Abend zu genießen. M2 sei dann ausfällig geworden, habe ihm gesagt, dass er sich da nicht einzumischen habe, ihn mit Schimpfwörtern bedacht, er – der Kläger – habe dies ebenfalls erwidert. L2 habe dann seine rechte Hand zurückgezogen und gesagt, dass er es doch lassen solle, habe ihn weggezogen. Er habe mit E1 und L2 etwas abseitsgestanden. M2 sei dann hinter, er glaube dem E1, hervorgesprungen und habe ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er habe auch gleich Schmerzen gehabt, umgefallen sei er nicht. M2 habe mit der geschlossenen Faust zugeschlagen und ihn am Auge getroffen, ein Messer habe er bei dem Schlag nicht gesehen. Dass M2 ein Messer gehabt habe, habe er erst später gesehen. Nach dem Schlag habe er M2 direkt gepackt, ihn festgehalten und versucht, ihn seinerseits zu schlagen. Es habe dann ein Gerangel gegeben, sie seien zusammen die Treppe hinuntergefallen. Er habe auf dem M2 gelegen, dieser habe ihm dann mit dem Messer auf den Oberkörper geschlagen. Ihm sei dann schon schlecht geworden und er habe gesehen, dass er stark blute. Er habe M2 dann losgelassen. Möglicherweise habe es noch weitere Schläge gegeben, aber da sei er schon bewusstlos gewesen. L2 habe ihn wohl rausgezogen und selbst auch noch mindestens zwei Messerstiche abbekommen.

Auf den Vorhalt des SG, dass er bei seiner polizeilichen Vernehmung angegeben habe, dass M2 nach dem Schlag Richtung Treppe weggelaufen sei, dass er M2 hinterhergegangen sei und ihn erst auf dem Podest eingeholt habe, hat der Kläger angegeben, nicht mehr zu wissen, warum er das damals so gesagt habe. Er sei mit M2 jedenfalls nach dem Schlag zusammen die Treppe heruntergefallen.

Weiter hat das SG darauf hingewiesen, dass der Kläger die Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Angriffs trage und damit die Beweislast dafür, dass keine Notwehrsituation vorliege.

Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 5. Februar 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die unbestritten folgenlos abgeheilten Verletzungen am rechten Auge des Klägers begründeten keinen GdS in Höhe von mindestens 25. Der Bescheid vom 2. August 2019, mit dem die Übernahme der Heilbehandlungskosten bewilligt, die Gewährung einer Beschädigtengrundrente aber abgelehnt worden sei, erweise sich daher als rechtmäßig.

Die weiteren gesundheitlichen Schädigungen des Klägers, die er durch Messerstiche des M2 erlitten habe, seien nicht Folge eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs. Die Kammer habe sich nicht mit der notwendigen Gewissheit davon überzeugen können, dass die dem Kläger durch M2 zugefügten Messerstichverletzungen nicht durch Notwehr nach § 32 Strafgesetzbuch (StGB) gerechtfertigt gewesen seien. Darüber hinaus habe sich der Kläger leichtfertig selbst gefährdet, weshalb ein Versagungsgrund vorliege.

Der Kläger trage die Beweislast dafür, dass keine Notwehrlage gegeben gewesen sei. Nach Auswertung der im Ermittlungs- und Strafverfahren getätigten Aussagen der Beteiligten und Zeugen sowie der Angaben des Klägers bestünden im Wesentlichen zwei Geschehensvarianten.

In der ersten Variante habe M2 den Kläger zuerst in das Gesicht geschlagen, sei danach die Treppe heruntergelaufen, der Kläger sei ihm die Treppe hinunter gefolgt, habe ihn eingeholt und den M2 seinerseits geschlagen. M2 habe sich gegen den Angriff des Klägers mit Messerstichen zur Wehr gesetzt und diesem die streitgegenständlichen Messerstichverletzungen zugefügt. Diese Chronologie habe der Kläger selbst in seiner polizeilichen Vernehmung am 21. Oktober 2016, sechs Tage nach der Tat, geschildert. Dieser Hergang passe zu der Aussage des M2 bei dessen polizeilicher Vernehmung in der Tatnacht, wonach er von mehreren Personen im Treppenhaus angegriffen worden sei. Diese Abfolge sei im Strafverfahren zu Grunde gelegt und eine Notwehrsituation angenommen worden.

Nach der zweiten Variante habe der Kläger den M2 unmittelbar nach dem Schlag ins Gesicht festgehalten und versucht, diesen zu schlagen. Es habe dann ein Gerangel zwischen dem Kläger und M2 gegeben, infolge dessen beide die Treppe hinuntergerollt seien. Der Kläger habe letztlich auf dem M2 gelegen, während dieser die Messerstiche gegen den Kläger ausgeführt habe. Dieser Hergang decke sich weitgehend mit der Klagebegründung und der Aussage des E1. Nach diesem alternativen Geschehensablauf habe es zwischen dem ersten Schlag des M2 in das Gesicht des Klägers und dem dann folgenden Gerangel im Treppenhaus, das mit den Messerstichverletzungen geendet habe, keine größere zeitliche Zäsur gegeben. Insbesondere sei nach der zweiten Geschehensvariante M2 nach dem Schlag nicht die Treppe hinuntergegangen und der Kläger sei M2 nicht die Treppe hinunter gefolgt. In dieser Geschehensalternative sei eine Notwehrlage nicht zwingend anzunehmen, da M2 den Kläger mit dem Faustschlag zuerst angegriffen habe und der Angriff des M2 im anschließenden Gerangel nicht beendet gewesen sein dürfte.

In der ersten Geschehensalternative sei der tätliche Angriff mit dem Schlag in das Gesicht des Klägers beendet gewesen. M2 sei, ohne den Kläger weiter anzugreifen, die Treppe hinuntergegangen und dort vom Kläger, der ihn verfolgt habe, angegriffen worden. Die Messerstiche habe M2 deshalb in einer Notwehrlage ausgeführt. Anhaltspunkte für einen Notwehrexzess bestünden nicht. M2 habe die Grenzen des Notwehrrechts nicht überschritten. Die Messerstiche seien zwar potentiell lebensbedrohlich gewesen, in der konkreten Kampflage habe aber der rund 1,90 Meter große und kräftige Kläger auf dem M2 gelegen. Es sei daher gut nachvollziehbar, dass sich M2 nicht mehr anders habe zur Wehr setzen können, als dem Kläger Messerstiche zuzufügen.

Die erste Geschehensalternative werde insoweit als gesichert angesehen, dass sie jedenfalls nicht mit den zur Verfügung stehenden Beweis- und Erkenntnismitteln zu widerlegen sei. Schließlich habe der Kläger den Hergang sechs Tage nach dem Ereignis, als die Erinnerung noch frisch gewesen sei, so angegeben. Dass die Erinnerungen rund vier Jahre später, bei Schilderung des zweiten Hergangs, besser gewesen sei, widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung. Die erste Geschehensalternative stehe darüber hinaus mit den Angaben des M2 im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung in Einklang.

Nach der zweiten Alternative habe der Kläger den M2 direkt nach dessen Schlag in sein Gesicht „gepackt“. Er habe M2 festgehalten und versucht, ihn zu schlagen. In der Folge sei es zu dem Gerangel gekommen, in dessen Verlauf M2 dem Kläger die Messerstichverletzungen zugefügt habe. Hätte der Kläger nicht den Schlag mit seinem eigenen Gegenangriff sofort erwidert, sei es nicht zu dem Gerangel mit den Messerstichen gekommen. Es wäre sozial erwünscht gewesen, dass der Kläger den Faustschlag des M2 unerwidert gelassen hätte. Es hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass M2 weitere Faustschläge oder Angriffe gegen den Kläger habe ausüben wollen, sodass es für den Kläger zumutbar gewesen sei, die Sache auf sich beruhen zu lassen und keinen Gegenangriff auszuüben. Durch den Gegenangriff habe sich der Kläger jedoch vernunftwidrig und grob fahrlässig selbst in die Gefahr begeben, die sich schließlich realisiert habe. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sei eine Entschädigung daher unbillig.

Am 11. März 2021 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Das SG habe den Inhalt der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte zu Grunde gelegt und eine eigene Beweisaufnahme abgelehnt. In dieser Begründung verdeutliche sich die rechtsfehlerhafte Vorgehensweise des SG. Einerseits werde ihm die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen auferlegt, andererseits aber der Beweisantritt abgeschnitten. Ihm habe die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, die behaupteten Tatsachen durch eine eigene Beweisaufnahme nachzuweisen. Das SG sei verpflichtet gewesen, sich über die reine Aktenlage hinaus durch Einvernahme der Zeugen eine eigene Überzeugung zu bilden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 5. Februar 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm unter Abänderung des Bescheides vom 2. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 5. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2019 Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von wenigstens 30 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft K1 erneut beigezogen.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 5. Februar 2021, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Abänderung des Bescheides vom 2. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 11. Dezember 2019 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 5. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2019 abgewiesen worden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 (124); Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klagen. Der Bescheid vom 2. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 ist nicht zu Lasten des Klägers rechtswidrig und verletzt diesen daher nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Gleiches gilt für den Bescheid vom 5. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2019. Der Beklagte hat die Gewährung von Beschädigtenversorgung zu Recht abgelehnt und das SG die Klagen zu Recht abgewiesen. Auch zur Überzeugung des Senats kann der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nicht beanspruchen.

Der Sachverhalt, wie es letztlich zu der Eskalation des Gastwirtschaftsstreits mit dem Einsatz eines Messers kam, hat angesichts der Schnelle des Ablaufs wie der erheblichen Alkoholisierung der Teilnehmer bereits zeitnah im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht geklärt werden können. Das hat trotz der erheblichen Verletzungen insbesondere des Klägers dazu geführt, dass zunächst von keinem Tötungsvorsatz mehr ausgegangen wurde, es dann zu einem Strafbefehl mit lediglich einer Geldstrafe kam und schließlich das Verfahren gegen M2 wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde. Das stellt nach der Erfahrung des Senats mit solchen Schlägereien keinen ungewöhnlichen Verlauf dar. Folgerichtig haben auch die Ermittlungen des Beklagten und die Anhörung des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren nicht zu einem anderen Ergebnis geführt. 

Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit §§ 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, 30, 31 Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG). Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 (208 ff.)):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Nach diesen Maßstäben hat der Beklagte für den Senat bindend (vgl. § 77 SGG) mit dem Bescheid vom 2. August 2019 den Faustschlag auf das rechte Auge des Klägers als rechtswidrigen tätlichen Angriff anerkannt und einen Anspruch auf Heilbehandlung bis zum Zeitpunkt der folgenlosen Ausheilung gewährt. Als Schädigungsfolge hat er zu Recht nur eine folgenlos ausgeheilte Prellung am rechten Auge anerkannt (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Die     P1 hat, für den Senat überzeugend, in ihrem Gutachten, dass der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), herausgearbeitet, dass sich am rechten Auge des Klägers glattrandige Hautdurchtrennungen zeigten. Diese können, wie die polizeiliche Nachfrage ergeben habt, nicht von einem Schlag herrühren, sondern sind von dem Messer verursacht worden. Der Faustschlag war für diese Verletzungen damit nicht ursächlich. Hieran anknüpfend hat der H1 schlüssig aufgezeigt, dass von dem hier anerkannten schädigenden Ereignis keine überdauernden Verletzungen ausgegangen sind, sodass es an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und dem jetzigen Funktionsverlust am rechten Auge, der insgesamt mit einem GdB von 25 zu bewerten ist (vgl. die versorgungsärztliche Stellungnahme des B1 aus dem Schwerbehindertenverfahren), fehlt.

Soweit im polizeilichen Ermittlungsbericht davon ausgegangen worden ist, der Angriff des M2 auf dem Kläger sei sofort mit dem Messer erfolgt, handelt es sich um durch nichts belegte Mutmaßungen der Polizei, die einzig auf der Erkenntnis beruhten, dass die Verletzungen am Auge nicht allein von einem Schlag herrühren könnten. Bei diesen Spekulationen wird verkannt, dass die Beteiligten übereinstimmend angegeben haben, zunächst kein Messer bei dem M2 gesehen zu haben. Der Kläger selbst hat noch beim SG bekräftigt, dass der M2 den ersten Schlag mit der geschlossenen Faust ausgeführt und er zu diesem Zeitpunkt kein Messer bemerkt hat. Der Beklagte hat daher mit dem Bescheid vom 2. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 einen Anspruch auf Beschädigtengrundrente schon deshalb zu Recht abgelehnt, da ein GdS von wenigstens 25 aufgrund der durch den Faustschlag eingetretenen Gesundheitsstörungen nicht erreicht wird.

Ohnehin sind zur Überzeugung des Senats Leistungsansprüche des Klägers, auch wegen des Faustschlages, nicht gegeben, sondern nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG zu versagen.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat (1. Alternative) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (2. Alternative). Als Sonderfall der Unbilligkeit (2. Alternative) ist die 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 RBSGE 88, 96; vgl. zum Verhältnis der beiden Alternativen insbesondere BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115 und vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R – BSGE 84, 54).

Eine Mitverursachung in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinweg zu denkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht mit dem der gesetzlichen Unfallversicherung identisch ist. Während dort nur ein gegenüber den betrieblichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz ausschließt, führt auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989         – 9 RVg 2/89BSGE 66, 115).

Ein Leistungsausschluss ist unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung vor allem dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteile vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54 und vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87). Sie kann aber auch dann vorliegen, wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, BSGE 77, 18; vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87 und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62).

Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 Alternative 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt. Die bewusste Selbstgefährdung hat das BSG nur dann nicht dem Opfer angelastet, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das Opfer nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, juris, Rz. 16). Eine leichtfertige Selbstgefährdung in diesem Sinne setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechtes entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18). Es gilt jedoch im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 267 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG,       a. a. O.). Voraussetzung ist, dass das Opfer in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fährlässiger Weise unterlassen hat, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 4/97 –, juris, Rz. 15). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch hätte anders verhalten können oder müssen und ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl dies ihm zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18; Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 38).

Ein annähernd gleichwertiger Verursachungsbeitrag des Opfers ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt wird, als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat (vgl. Senatsurteil vom 29. April 2014 – L 6 VG 4545/13 –, juris, Rz. 30).

Eine solche leichtfertige Selbstgefährdung des Klägers hat vorliegend bestanden. Nach seinem eigenen Bekunden gegenüber der Polizei hat er nämlich bereits auf dem Weg zur Toilette einen Streit vor der Türe gehört. Bevor er auf die Toilette ging, hat er dann einen Streit zwischen M2 und einem Polen gesehen. Bei seiner Rückkehr hat er sich in diesen Streit eingemischt, obwohl er – nach eigenem Bekunden – gleich den bösen Blick des M2 bemerkt hatte, nur nicht wusste, was diesen so böse gemacht hatte. Weiter hat der Kläger angegeben, dass die Frau des M2 versucht haben soll, diesen zu beruhigen, er diese mit dem Hinweis wieder in die Gaststätte geschickt haben will, dass es jetzt wohl keine Schlägerei mehr gebe.

Dieser Umstand verdeutlicht, dass der Kläger die Gefährlichkeit der Situation erfasst hat, sich aber trotzdem in den Streit einmischte und sogar den Polen noch gefragt haben will, was der Grund für den Streit gewesen ist, obwohl er M2 als sehr aggressiv beschrieben hat. Er hat sich somit leichtfertig selbst gefährdet, indem er sich der Situation nicht sofort, als er aus der Toilette zurückkam, entzogen, sondern sich aktiv in alkoholisiertem Zustand in einen Streit eingemischt hat, selbst nachdem er davon ausgegangen ist, dass die Situation geklärt sei, nicht wieder in die Gaststätte zurückgegangen ist, sondern vielmehr den Polen noch zu den Gründen der Auseinandersetzung befragt hat.

Dass der Kläger sich nicht situationsadäquat verhalten hat, wird zum einen dadurch unterstrichen, dass er beim SG selbst eingeräumt hat, dass ihm M2 bedeutet hat, sich in den Streit nicht einzumischen. Den Aussagen von E1 und L2 ist dazu zu entnehmen, dass beide versucht haben wollen den Kläger zurückzuhalten, um gerade eine Eskalation der Auseinandersetzung zu vermeiden. Dass der Kläger unvermittelt geschlagen worden wäre, ist daher nach seinen eigenen Einlassungen ebenso nicht belegt wie die Annahme der Polizei, dass der Kläger nur E1 zur Hilfe gekommen sein könnte. Dem stehen seine eigenen Angaben entgegen, ganz abgesehen davon, dass der Kläger beim SG weiter bekundet hat, dass M2 und er sich vor der tätlichen Auseinandersetzung noch gegenseitig beschimpft haben.

Anders als der Kläger meint, hat sich das SG keineswegs nur auf die Angaben in der Akte gestützt, sondern hat diesen in der nichtöffentlichen Sitzung nochmals persönlich angehört. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die klägerischen Angaben in seiner Klagebegründung gegenüber dem SG mit den Aussagen in der nichtöffentlichen Sitzung ebenso wenig vereinbar sein dürften, wie mit seinen Angaben gegenüber der Polizei.

Dass eine abstrakte Lebensgefahr durch die Beibringung der Messerstiche insbesondere in die Brust bestanden ist, ist nachvollziehbar und von der Rechtsmedizinerin auch bestätigt worden, eine konkrete Lebensgefahr – wie der Kläger behauptet – hat sie indessen ausgeschlossen, nachdem es zu keinen Organverletzungen gekommen ist.

Aus Vorstehendem folgt gleichzeitig, dass es der Beklagte zu Recht abgelehnt hat, aufgrund des nachfolgenden Geschehens Leistungen nach dem OEG zu gewähren, sodass auch der Bescheid vom 5. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2019 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Der Senat lässt dahinstehen, ob dem Beklagten darin gefolgt werden kann, dass es sich um zwei voneinander zu trennenden schädigende Handlungen gehandelt hat, nachdem die Leistungen insgesamt zu versagen sind.

Die leichtfertige Selbstgefährdung des Klägers durch das Einmischen in den Streit zwischen M2 und dem Polen hat nämlich jedenfalls fortgewirkt und begründet insgesamt einen Leistungsausschluss, unabhängig davon, wie sich das weitere Geschehen zugetragen hat.

Daneben ist, gleichgültig, ob der Kläger M2 gepackt hat um ihn zu schlagen (vgl. die Angaben des Klägers beim SG), oder ob er ihm ins Treppenhaus hinterher ist, ihn dort gestellt und geschlagen hat (vgl. die Angaben des Klägers gegenüber der Polizei), der Leistungsausschluss begründet. In beiden Fällen ist der Kläger seinerseits zur Selbstjustiz übergegangen, hat M2 attackiert, anstatt sich der Situation zu entziehen und polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Monopol für die Verbrechensbekämpfung liegt aber ausschließlich beim Staat, dieser ist deswegen für den Schutz der Bürger vor Schädigungen durch kriminelle Handlungen, insbesondere durch Gewalttaten, im Bereich seines Hoheitsgebietes und damit seiner Herrschaftsgewalt verantwortlich. Vielfach können das unmittelbare Opfer und seine Hinterbliebenen überhaupt keinen oder keinen ausreichenden Schadenersatz vom Täter erhalten und konnten auch keine zumutbare Privatversicherung gegen solche Schäden abschließen, geraten also infolge der Gewalteinwirkung in wirtschaftliche Not. Aus diesen Gründen hat die staatliche Gemeinschaft ihre Pflicht zur Hilfe beim Versagen der Schutzvorkehrungen anerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 1979 – 9 RVg 2/78 –, juris, Rz. 13). Nach dem Sinn und Zweck des OEG ist eine Leistungsgewährung daher unbillig, wenn das staatliche Gewaltmonopol ignoriert und zur Selbstjustiz übergegangen wird (vgl. Senatsurteil vom 18. November 2021 – L 6 VG 815/20 –, juris, Rz. 78), wie dies im Falle des Klägers nach seinen beiden Hergangsschilderungen der Fall gewesen ist.

Kein anderes Ergebnis folgt deshalb daraus, wenn zu Gunsten des Klägers davon ausgegangen wird, dass die Hergangsschilderung bei der Polizei die zutreffende gewesen ist. In diesem Fall würde zwar der Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ausreichen, da es an Tatzeugen fehlt. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist grundsätzlich auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 9 RVg 3/89 –, juris, Rz. 12). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R –, juris, Rz. 30).

Die Glaubhaftmachung scheitert indessen bereits an den widersprüchlichen Angaben des Klägers selbst. Auf die entsprechenden Vorhalte des SG hat der Kläger lediglich angegeben, nicht zu wissen, weshalb er einen anderen Hergang bei der Polizei geschildert hat, sodass nicht mehr als eine bloße Möglichkeit besteht, dass sich der Ablauf so wie zunächst geschildert zugetragen hat. Welche Version des Tathergangs hingegen die zutreffende ist, vermag der Senat nicht festzustellen. Das kann aber deshalb dahinstehen, da der Leistungsausschluss auch ausgehend von dem Sachverhalt, der eine Glaubhaftmachung ausreichen ließe, begründet ist (vgl. oben).

Der Senat konnte sich vorliegend auf die Ergebnisse des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens stützen, nachdem weder neue, erfolgversprechende Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen aufgezeigt wurden oder sonst ersichtlich sind und der Sachverhalt nicht nach anderen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen gewesen ist (BSG, Urteil vom 22. Juni 1988 – 9/9a RVg 3/87 –, juris, Rz. 17). Wegen des nach § 2 OEG gegebenen Leistungsausschlusses (vgl. oben) kommt es nämlich insbesondere nicht darauf an, dass die strafrechtliche Würdigung der Tat des M2 von der Überlegung beeinflusst gewesen ist, dass zu dessen Gunsten nach dem Zweifelssatz („in dubio pro reo“) von einer Notwehrlage auszugehen gewesen sein könnte, mithin nach dem Beweisergebnis konkrete tatsächliche Anhaltspunkte hierfür gesehen worden zu sein scheinen (vgl. zu den strafrechtlichen Maßstäben: Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 15. Juli 2004 – 1 StR 187/03 –, juris, Rz. 5).

Letztlich stehen dem Leistungsausschluss die Angaben der übrigen Zeugen nicht entgegen. Sowohl L2 als auch E1 haben bekundet, den M2 zuvor nicht gekannt zu haben und keinen nachvollziehbaren Grund mitgeteilt, weshalb sich der Kläger in diesen Konflikt eingemischt hat. Daraus, dass sie im Kern beide beschrieben haben, versucht zu haben, den Kläger zurückzuhalten, wird deutlich, dass sie das Gewaltpotential der Situation und die Möglichkeit der Eskalation ebenfalls erkannt haben. Dies wird durch die Angaben des E1 unterstrichen, dass er gedacht habe, wenn der M2 so ein blöder Mann sei, sie ihn kurz zu Boden schlagen sollten, damit die Situation erledigt sei. Passend hierzu hat auch M2 erklärt, dass es halt in einer russischen Gaststätte so sei, das „Russe Russe fertig mache“.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.










 

Rechtskraft
Aus
Saved