Für die Beurteilung des Eintritts des Leistungsfalls der Erwerbsminderung ist eine rückschauende Betrachtungsweise maßgeblich. Stellt sich retrospektiv heraus, dass eine (zunächst möglicherweise nur vorübergehende) Leistungsminderung nicht endet, ist der Beginn der Leistungsminderung identisch mit dem Eintritt der Erwerbsminderung. Die objektive Beweislast für das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls trägt der die Rente begehrende Versicherte.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23.02.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1963 geborene Klägerin erlernte den Beruf der Bäckereifachverkäuferin und absolvierte eine Weiterbildung zur Bürokauffrau. Aufgrund der Erziehung ihrer Kinder (geb. 1998 und 2001) übte sie von 1998 bis 2015 keine berufliche Tätigkeit aus, weshalb nach Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten eine Lücke in ihrem Versicherungsverlauf vom 17.09.2011 bis 30.06.2015 entstand. Vom 01.07.2015 bis 31.12.2016 sowie erneut ab 03.07.2017 übte die Klägerin eine versicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (Bürotätigkeit) aus. Seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 05.07.2018 hat die Klägerin nicht mehr gearbeitet. Nach Ende der Lohnfortzahlung hat sie Krankengeld, Übergangsgeld und ab 16.09.2019 bis 13.05.2020 Arbeitslosengeld bezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 02.03.2023 (S. 68 ff. Senatsakte) Bezug genommen.
Bereits 2004 erlitt die Klägerin einen ersten Schlaganfall mit Halbseitensymptomatik links, ein weiterer Schlaganfall ereignete sich 2013 (vgl. Entlassungsbericht des Oklinikums über die stationäre Behandlung vom 05.10. bis 15.10.2013, Bl. 55, 58 Verwaltungsakte [VerwA]). Vom 06.07. bis 13.07.2018 wurde die Klägerin wegen eines erneuten Schlaganfalls in der S des Universitätsklinikums F (UKF) behandelt (Bl. 43 VerwA). Vom 26.07. bis 30.08.2018 absolvierte sie eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in den Kliniken S G. Laut Entlassungsbericht (S 26 ff. SG-Akte) wurde sie mit den Diagnosen rezidivierende Hirninfarkte multifaktorieller Genese (cerebellär rechts 2004, Posteriorstromgebiet rechts 2013, Mediastromgebiet rechts 05/2018), Hemihypästhesie links, erschwerte Krankheitsverarbeitung und Gangunsicherheiten arbeitsunfähig entlassen, perspektivisch wurde ein vollschichtiges Leistungsvermögen im Bezugsberuf als Sekretärin und Sachbearbeiterin angenommen. Vom 20.09. bis 09.10.2018 musste die Klägerin erneut in der S der UKF stationär behandelt werden (Bl. 142 SG-Akte). Im Mai 2019 wurde die Verdachtsdiagnose Lungenkrebs gestellt, die schließlich nach mehreren Untersuchungen (Spirometrie am 13.05.2019, PET-CT am 22.05.2019, Bronchoskopie 27.05.2019; dazu Arztbriefe des UKF Bl. 21, 20, 16 VerwA) und einer Lobektomie (Arztbrief UKF über die stationäre Behandlung vom 26.06. bis 06.07.2019, Bl. 9 VerwA) ausgeschlossen werden konnte (Arztbrief UKF vom 10.07.2019, Bl. 7 VerwA).
Mit bei der Beklagten am 29.08.2019 eingegangenem Antrag begehrte die Klägerin erneut eine Rehabilitationsmaßnahme. Diese wurde vom 21.01. bis 25.02.2020 stationär in der Klinik H in D durchgeführt. Mit den Entlassungsdiagnosen depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, rezidivierende Hirninfarkte bei Verdacht auf (V.a.) Hyperviskositätssyndrom, myeloproliferative Neoplasie DD Polycytämia Vera, hochgradige distale Arteria carotis interna (ACI)-Stenose rechts, arterielle Hypertonie, Migräne, Unterlappenlobektomie 6/19 bei schwergradiger nekrotisierender und granulomatöser Entzündung wurde im Entlassungsbericht vom 25.02.2020 von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten ausgegangen, mit einer ausreichenden Remission sei im nächsten halben Jahr nicht zu rechnen.
Am 12.03.2020 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei (u.a. die oben genannten sowie einen Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung [MDK] vom 11.04.2019 und einen Bericht des K vom 04.04.2019), lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24.04.2020 ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin sei seit 03.07.2018 befristet voll erwerbsgemindert. Sie erfülle jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht, da sie im Zeitraum 03.07.2013 bis 02.07.2018 nur 31 Monate mit Pflichtbeiträgen habe. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, der Leistungsfall sei wesentlich später eingetreten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2020 zurück und verwies darauf, dass der Eintritt der vollen Erwerbsminderung ein medizinisch festgelegter Leistungsfall sei, der nicht verschoben werden könne. Mit Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 05.08.2018 (gemeint: 05.07.2018) und nicht wie im Ausgangsbescheid mitgeteilt am 03.07.2018 sei der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten. Zwar werde im Reha-Entlassungsbericht von September 2018 ein mehr als sechsstündiges Leistungsvermögen attestiert. Es handele sich jedoch um eine perspektivische Einschätzung, die sich im Nachhinein nicht bestätigt habe und zu optimistisch gewesen sei. Bereits im Bericht des MDK vom 11.04.2019 werde neben körperlich bedingten Einschränkungen auch auf die depressive Störung infolge der Hirninfarkte hingewiesen, was sich auch im Bericht des behandelnden K vom 04.04.2019 widerspiegele. Bezogen auf den Leistungsfall 05.07.2018 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Hiergegen richtet sich die am 08.01.2021 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage. Die Klägerin ist der Auffassung, nicht die unmittelbaren Folgen der Schlaganfälle begründeten die Erwerbsminderung, sondern erst die psychischen Beschwerden. Es sei nicht erwiesen, dass die psychische Erkrankung bereits 2018 soweit fortgeschritten gewesen sei, dass eine Erwerbsminderung dadurch begründet worden sei. Der zeitlich spätere Eintritt der psychischen Erkrankung ergebe sich auch aus den Reha-Entlassungsberichten. Während 2018 eine rein neurologische Behandlung durchgeführt worden sei, seien erst 2020 psychische Diagnosen gestellt und behandelt worden. Folglich sei die Klägerin 2018 mit einem vollschichtigen und 2020 mit einem geminderten Leistungsvermögen entlassen worden.
Das SG hat für die Zeit ab Oktober 2018 die behandelnden Ärzte bzw. Therapeuten der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. K hat eine Arbeitsbelastung von sechs Stunden für unrealistisch gehalten (Auskunft vom 05.08.2021, S. 48 SG-Akte). B hat von Seiten der rein sensomotorischen Defizite keine Einschränkungen für eine körperlich leichte Bürotätigkeit gesehen, jedoch auf mögliche weitere Einschränkungen aufgrund neuropsychologischer Störungen verwiesen (Auskunft vom 25.08.2021, S. 69 SG-Akte). W hat in seiner Stellungnahme vom 02.09.2021 (S. 70 f. SG-Akte) über eine Verschlechterung der psychischen und physischen Belastbarkeit seit dem erneuten Schlaganfall im Juli 2018 berichtet. Der von der Rehaklinik D beschriebene Zustand liege seit Juli 2018 vor. W1 hat unter dem 22.10.2021 (S. 142 ff. SG-Akte) ausgeführt, bei Entlassung aus der stationären Behandlung am 09.10.2018 hätten noch Kribbelparästhesien am linken Hals, linken Torso bis zum Beckenkamm und linken Arm bis zum Handgelenk, sowie eine Feinmotorikstörung der linken Hand bestanden. Diese Beschwerden seien in den Verlaufsuntersuchungen bis auf residuelle Dysästhesien der linken Körperseite bei Berührung bei ansonsten intakter Oberflächensensibilität rückläufig gewesen. Über den weiteren Verlauf nach dem 11.07.2019 könnten keine Angaben gemacht werden.
Mit Urteil vom 23.02.2022 hat das SG die Klage abgewiesen unter Bezugnahme auf die Begründung des Widerspruchsbescheids. Ergänzend hat es ausgeführt, es sei mit der Beklagten der Auffassung, dass der Eintritt der vollen Erwerbsminderung bereits mit Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erfolgt sei. Dabei trage die Beklagte hierfür die Beweislast (unter Hinweis auf Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg 20.03.2019, L 2 R 2276/18). Das SG stütze seine Überzeugung auf die Auskünfte der sachverständigen Zeugen K und W. K weise einen durchgängigen Leidensverlauf seit November 2018 nach. Seit dem letzten Krankenhausaufenthalt hätten sich nur kurzfristige Besserungen des Befindens gezeigt. W sehe die Klägerin seit Juli 2018 als erheblich eingeschränkt an. Auch der Zusammenschau der ärztlichen Auskünfte könne das SG nicht entnehmen, dass von einem späteren Leistungsfall auszugehen wäre.
Gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 24.03.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 05.04.2022 Berufung eingelegt. Aus ihrer Sicht genügten die sachverständigen Zeugenaussagen nicht, um einen Leistungsfall bereits im Jahr 2018 nachzuweisen. Erst die neuropsychologischen Störungen beeinflussten das Leistungsvermögen negativ. K bestätige eine zunehmende Verschlechterung der psychischen Beschwerden. Auch die Reha-Entlassungsberichte sprächen für einen späteren Leistungsfall. Erst ab September 2019 seien sozialer Rückzug, Antriebsminderung und Konzentrationsstörungen aufgetreten, zuvor sei der emotionale Zustand aufgrund der verordneten Medikation stabil gewesen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23.02.2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie geht weiter von einem Leistungsfall vom 05.07.2018 (Arbeitsunfähigkeit bei erneutem Hirninfarkt) aus und hat auf entsprechende Nachfrage des Senats darauf hingewiesen, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente bei einem ab 02.12.2018 (oder später) eingetretenen Leistungsfall erfüllt wären.
Der Senat hat ergänzend K schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser hat unter dem 27.07.2022 ausgeführt, die im Februar 2017 begonnene Therapie sei im November 2017 nach Stabilisierung vorläufig abgeschlossen worden. Am 22.03.2018 sei bei deutlich stärkerer emotionaler Belastung die Therapie wieder aufgenommen worden mit zunehmend depressiver Symptomatik mit Grübeln, Weinen, negativem Selbstbild und sozialem Rückzug. Eine deutliche Verschlechterung von Konzentration, Antrieb, Affektstabilität, Planungs- und Entschlussfähigkeit sei nach den Schlaganfällen ab Juni 2018 eingetreten, ab dieser Zeit sei Arbeitsfähigkeit realistisch nicht mehr gegeben gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Aussage wird auf S. 26 bis 31 der Senatsakte Bezug genommen.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein psychiatrisches Gutachten bei E eingeholt. Aufgrund ambulanter Untersuchung am 23.11.2022 hat der Sachverständige bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom und organische psychische Störung vom Prägnanztyp der organischen affektiven Störung (bei Z.n. mehreren Hirninsulten mit neurologischen Ausfällen). Aktuell seien nur leichte körperliche Tätigkeiten ohne Anforderungen an Motorik und kognitive Leistungsfähigkeit weniger als drei Stunden täglich möglich. Die Leistungseinschränkung sei gesichert seit der Begutachtung, auch 2020 seien identische Befunde beschrieben worden. Nach den Berichten der Klägerin, dazu passe auch der Bericht des behandelnden Psychotherapeuten, habe die Verschlechterung 2019 begonnen, wobei April 2019, sicherer noch Mitte 2019 als Beginn des jetzigen Schweregrads anzusehen sei.
Die Beklagte ist auch in Kenntnis des Gutachtens von E bei dem von ihr zugrunde gelegten Leistungsfall 05.07.2018 geblieben. Sicherlich sei es im April 2019 zu einer signifikanten Verschlechterung gekommen. Damit sei aber nicht nachgewiesen, dass erst zu diesem Zeitpunkt eine überdauernde quantitative Leistungsminderung eingetreten sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und nach §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Bescheid der Beklagten vom 24.02.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, da sie keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat. Der Eintritt des Leistungsfalls ist nicht zur Überzeugung des Senats zu einem Zeitpunkt eingetreten, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen.
Voraussetzung für einen Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung ist u.a. nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bzw. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI), dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat (sog. Drei-Fünftel-Belegung). Zu Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zählen nach § 55 Abs. 2 SGB VI auch freiwillige Beiträge, die als Pflichtbeiträge gelten (Nr. 1), oder (Nr. 2) Pflichtbeiträge, für die aus den in § 3 oder § 4 genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten (dies betrifft insbesondere auch Pflichtbeiträge für Lohnersatzleistungen, vgl. § 3 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 3a SGB VI) oder Beiträge für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat (Nr. 3). Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Berücksichtigungszeiten, Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 oder 2 liegt, und Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Die vorstehend genannten Zeiten sind nur zu berücksichtigen, soweit sie nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.
Diese versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat die Klägerin nur erfüllt, wenn der Versicherungsfall entweder bereits vor Oktober 2011 oder frühestens ab 02.12.2018 eingetreten ist. Für einen Versicherungsfall bis 30.09.2011 bestehen von vornherein keine Anhaltspunkte, ein solcher wird von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Aufgrund der erheblichen Lücke im Versicherungsverlauf liegt die sog. Drei-Fünftel-Belegung erst wieder bei Eintritt des Leistungsfalls ab 02.12.2018 (oder später) vor, da gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 SGB VI auch ein im Kalendermonat des Eintritts der Erwerbsminderung gezahlter Pflichtbeitrag zu berücksichtigen ist, es sei denn, diese Minderung ist am Ersten des Kalendermonats eingetreten (Gürtner in BeckOGK, Stand: 01.07.2020, SGB VI § 43 Rn. 14). Ausweislich des aktuellen Versicherungsverlaufs - dessen Vollständig- und Richtigkeit die Klägerin nicht in Zweifel gezogen hat - sind im Zeitraum vom 02.12.2013 bis 01.12.2018 insgesamt 36 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt - anders als bei einem bereits am 01.12.2018 (oder früher) eingetretenen Versicherungsfall (dann nur 35 Monate mit Pflichtbeiträgen im Zeitraum vom 01.12.2013 bis 30.11.2018).
Es greift vorliegend auch keiner der Tatbestände des § 43 Abs. 5 SGB VI bzw. des § 241 Abs. 2 SGB VI ein (dann wäre eine Pflichtbeitragszeit für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erforderlich).
Nach § 43 Abs. 5 SGB VI ist eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestands eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist (z.B. Arbeitsunfall, Berufskrankheit; vgl. § 53 SGB VI). Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Gemäß § 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung für Versicherte auch dann nicht erforderlich, die vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung mit sog. Anwartschaftserhaltungszeiten (§ 241 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 6 SGB VI) belegt ist. Dies ist vorliegend schon deshalb nicht der Fall, weil das Versicherungskonto der Klägerin Lücken aufweist und hier keine Anwartschaftserhaltungszeiten vorliegen (s. Versicherungsverlauf S. 68 ff. Senats-Akte). Dass die 1963 geborene Klägerin schließlich bereits vor dem 01.01.1984 erwerbsgemindert gewesen und seitdem durchgängig ist - sodass auch insoweit Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erforderlich wären (§ 241 Abs. 2 Satz 1 a.E. SGB VI) -, ist nicht ersichtlich und von ihr auch nicht einmal behauptet worden.
Unter Zugrundelegung dessen dürfte die Klägerin frühestens ab 02.12.2018 erwerbsgemindert (gewesen) sein. Dies ist indes nicht nachgewiesen, vielmehr sprechen die vorliegenden ärztlichen Unterlagen nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens dafür, dass bereits seit dem Hirninfarkt im Sommer 2018 und damit jedenfalls ab der Arbeitsunfähigkeit am 05.07.2018 eine Erwerbsminderung vorliegt. Verbleibende Zweifel am genauen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung gehen zu Lasten der Klägerin. Die objektive Beweislast in Bezug auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 SGB VI trägt die die Rente begehrende Versicherte. Dies erstreckt sich auch auf das Erfordernis des Eintritts des Leistungsfalls zu einem Zeitpunkt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen 02.05.2022, L 2 R 16/21, zitiert - wie alle nachfolgende Rechtsprechung - nach juris; Hessisches LSG 07.05.2021, L 5 R 206/18, Rn. 98 und 04.09.2019, L 6 R 264/17, Rn. 86; Bayerisches LSG 23.01.2013, L 19 R 855/11, Rn. 57; vgl. auch Bundessozialgericht [BSG] 21.10.2021, B 5 R 1/21 R, Rn. 25 - zum Bestehen von Versicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls gem. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI; a.A. LSG Baden-Württemberg 20.03.2019, L 2 R 2276/18).
Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarkts auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., zitiert - wie alle nachfolgenden höchstrichterlichen Entscheidungen - nach juris). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Für die Beurteilung des Eintritts eines Leistungsfalls der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung, also eines jedenfalls unter sechsstündigen Leistungsvermögens, ist eine rückschauende Betrachtungsweise maßgeblich. Als objektives Merkmal der Erwerbsminderung liegt ein gesundheitsbedingtes Unvermögen eine Erwerbstätigkeit auf nicht absehbare Zeit ausüben zu können vor, wenn die Erwerbsminderung sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt. Dies folgt aus § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach Renten wegen Erwerbsminderung nicht vor Beginn des 7. Monats nach Eintritt der Erwerbsminderung geleistet werden. Stellt sich im Rahmen der retrospektiven Betrachtungsweise zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Rentenantrag bzw. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach Ablauf von sechs Monaten heraus, dass eine (zunächst möglicherweise nur vorübergehende) Leistungsminderung nicht endet, sondern wie hier in eine Dauerleistungsminderung bzw. länger andauernde Leistungsminderung übergeht, so ist der Beginn der Leistungsminderung identisch mit dem Eintritt der Erwerbsminderung. Dies gilt unabhängig davon, ob anfangs noch Aussicht auf eine Behebung der Leistungsminderung bestanden haben mag (BSG 23.03.1977, 4 RJ 49/76; LSG Schleswig-Holstein 15.09.2022, L 1 R 141/17; LSG Niedersachsen-Bremen 23.09.2021, L 2/12 R 159/20; LSG Hamburg 22.10.2013, L 3 R 92/11; Bayerisches LSG 02.02.2010, L 19 R 1039/09). Die prognostisch zu beurteilende Aussicht auf Behebung der Erwerbsminderung hat lediglich Auswirkungen für die Dauer der Rentengewährung (§ 102 Abs. 2 SGB VI), nicht aber für den Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsminderung (BSG, a.a.O.).
Ausgehend von diesem retrospektiven Maßstab spricht vieles für den Eintritt des Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung ab der andauernden Arbeitsunfähigkeit ab 05.07.2018. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) war das Leistungsvermögen der Klägerin spätestens seit diesem Zeitpunkt infolge der erlittenen Hirninfarkte sowie einer depressiven Erkrankung nicht nur in qualitativer Hinsicht, sondern auch in quantitativer, d.h. in zeitlicher Hinsicht in rentenmaßgeblichem Umfang dauerhaft eingeschränkt. Wie bereits dargelegt, gehen verbleibende Zweifel am Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls zu Lasten der Klägerin.
Aus dem Bericht vom 13.07.2018 über die stationäre Behandlung in der S der UKF (Bl. 43 ff. VerwA) lässt sich entnehmen, dass bei der Klägerin bereits ab Mai 2018 Symptome aufgetreten waren in Form von vertikal versetzten Doppelbildern, Hemianopsie (Halbseitenblindheit) nach rechts und polytopen Gefühlsstörungen der linken Körperhälfte. Diagnostiziert worden sind rezidivierende zerebrale Ischämien multifaktorieller Genese unter unzureichender Marcumar-Therapie. Die nachfolgende Rehabilitation in den Kliniken S in G vom 26.07. bis 30.08.2018 hat neben weiter bestehenden - als nicht gravierend eingeschätzten - feinmotorischen Einschränkungen und einer Gangunsicherheit vor allem neurokognitive Defizite mit erheblichen Einbußen der Konzentration gezeigt. Hier haben sich zwar Hinweise auf eine Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit während der Rehabilitation ergeben, allerdings sind weiterhin Erschöpfungszustände nach einer gewissen Zeit aufgefallen (ca. 30 Minuten) sowie eine erschwerte Krankheitsverarbeitung (Ängstlichkeit und Unsicherheit, depressive Verstimmung). Angesichts der erzielten Fortschritte hatten die Ärzte der S-Kliniken „in den nächsten Monaten weitere Verbesserungen“ erwartet und waren daher perspektivisch von einem vollschichtigen Leistungsbild im Bezugsberuf als Sekretärin und Sachbearbeiterin ausgegangen bei Entlassung als arbeitsunfähig. Diese positive Prognose hat sich indes nachfolgend nicht bestätigt. Bereits vom 20.09. bis 09.10.2018 hat die Klägerin nach weiteren rechtshemisphärischen Infarkten erneut stationär in der S der UKF behandelt werden müssen. Für die Verlaufskontrollen am 11.01.2019 und 11.07.2019 beschreibt W1 (UKF) im Rahmen seiner Aussage als sachverständiger Zeuge (S. 142 ff. SG-Akte) residuelle Dysästhesien der linken Körperhälfte bei Berührung bei ansonsten intakter Oberflächensensibilität sowie insbesondere eine fehlende allgemeine Belastbarkeit. Im Verlauf haben sich zwar die neurologischen, insbesondere sensomotorischen Defizite weiter verbessert (so auch B in seiner Aussage gegenüber dem SG, S. 69 SG-Akte), jedoch haben die psychischen Beschwerden infolge der Depression zugenommen. So geht auch der W von einer Verschlechterung nach dem erneuten Schlaganfall im Juli 2018 und einem seither aufgehobenen Leistungsvermögen aus. Vergleichbar berichtet K in seiner Aussage als sachverständiger Zeuge gegenüber dem Senat (S. 25 ff. Senatsakte) über eine deutliche Verschlechterung von Konzentration, Antrieb, Affektstabilität, Planungs- und Entschlussfähigkeit (exekutive Funktionen) sowie Einschätzung eigener Fähigkeiten und Grenzen nach den Schlaganfällen ab Juni 2018; aus seiner Sicht ist „ab dieser Zeit Arbeitsfähigkeit nicht mehr realistisch gegeben“ gewesen bei Verdacht, dass ein wesentlicher Teil der Symptomatik nicht nur durch eine Depression, sondern durch neurologische Funktionseinschränkungen als Folge des Apoplex bestanden hat. Im Rahmen der Untersuchung durch den MDK am 11.04.2019 haben nebeneinander weiterhin neurologische Defizite sowie eine mittelgradige depressive Episode bzw. eine organische affektive Erkrankung vorgelegen. Auch wenn die Erwerbsfähigkeit im Rahmen dieser Begutachtung (noch) nicht abschließend hat eingeschätzt werden können, ist es bei der Einschätzung einer weiterhin - für mindestens weitere drei Monate - aufgehobenen Leistungsfähigkeit für berufliche Anforderungen geblieben. Nachfolgend haben ab Mai 2019 die Untersuchungen und Behandlungen wegen der Lungenerkrankung im Vordergrund gestanden mit Unterlappenlobektomie im Juni 2019. Damit einhergegangen ist eine weitere deutliche Verschlechterung des psychischen Zustands der Klägerin, wie K für die Zeit ab April 2019 berichtet. Die nachfolgende Rehabilitationsmaßnahme vom 21.01. bis 25.02.2020 bestätigt schließlich ein aufgehobenes Leistungsvermögen wie auch das Ergebnis der Untersuchung durch den Wahlsachverständigen E im November 2022. Aus dem dargestellten Verlauf lässt sich zur Überzeugung des Senats erkennen, dass nach den Schlaganfällen jedenfalls ab Juli 2018 eine durchgreifende Besserung trotz intensiver Behandlung nicht mehr hat erzielt werden können. Arbeitsfähigkeit hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt mehr erreicht. Damit ist sie durchgehend bereits seit Juli 2018 voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI, da sie bereits seit dieser Zeit auf nicht absehbare Zeit außerstande gewesen ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Sie ist mit den bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht nur nicht in der Lage gewesen, ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Sekretärin bzw. Sachbearbeiterin auszuüben, sie ist auch außerstande gewesen, überhaupt eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Diese Feststellung trifft der Senat auf der Grundlage der Rehabilitationsberichte der Kliniken S und der Klinik D, der Berichte der UKF sowie der Aussagen von W und K.
Soweit E ausführt, der Eintritt der Erwerbsminderung lasse sich gesichert frühestens im April 2019, eher noch im Sommer 2019 feststellen, folgt der Senat dem nicht. E begründet diese Einschätzung mit den Berichten der Klägerin und des behandelnden Psychotherapeuten. Allein auf die subjektive Einschätzung der Klägerin kann die Beurteilung indes keinesfalls gestützt werden. So sind entgegen der Berufungsbegründung Konzentrationsstörungen nicht erst seit September 2019 aufgetreten, sondern werden bereits im Entlassungsbericht der Kliniken S beschrieben („Am vordringlichsten waren Einbußen der Konzentration, weshalb sie nicht mehr ausdauernd für mehr als ein paar Minuten lesen konnte.“, S. 28 SG-Akte). Soweit E sich auf die Aussage des K bezieht, übersieht er, dass dieser zwar eine (weitere) Verschlechterung ab April 2019 beschreibt, allerdings zugleich davon ausgeht, dass bereits ab Sommer 2018 nach den Schlaganfällen aufgrund von deutlicher Verschlechterung von Konzentration, Antrieb, Affektstabilität, Planungs- und Entschlussfähigkeit sowie Einschätzung eigener Fähigkeiten und Grenzen kein verwertbares Leistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt mehr bestanden hat. Zudem berücksichtigt E die oben dargelegten, bereits ab Sommer 2018 insbesondere im Entlassungsbericht der Kliniken S dokumentierten Einschränkungen nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.