L 8 R 1054/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 1510/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 1054/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zu den Voraussetzungen der Aufhebung einer rechtswidrig ohne die erforderliche Anrechnung einer Altersrente bewilligten Großen Witwenrente.
2. Nicht die Antragstellerin muss ihre Gutgläubigkeit, sondern die Behörde muss eine mindestens grobe Fahrlässigkeit der Antragstellerin nachweisen, um eine rechtswidrige Bewilligungsentscheidung nach mehr als 10 Jahren für die Vergangenheit und Zukunft aufzuheben.
3. Bereiten die Umstände einer elektronischen Antragsaufnahme im Rahmen einer persönlichen Vorsprache eine Beweisnot bzgl. grober Fahrlässigkeit, hat dies die Behörde, die das Antragsverfahren ausgestaltet hat, zu tragen, und nicht die Antragstellerin.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14.01.2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen eine auf den Zeitraum 01.06.2016 bis 31.03.2020 rückwirkende und ab dem 01.04.2020 laufende fast vollständige Teilaufhebung der ihr mit Bescheid vom 15.07.2016 bewilligten Großen Witwenrente sowie gegen die deshalb festgesetzte Rückforderung einer Überzahlung in Höhe von 7.569,58 €. Anlass der Aufhebung ist eine unterbliebene Anrechnung der bereits seit 2014 gewährten Altersrente der Klägerin.

Die 1948 geborene Klägerin und Berufungsbeklagte (fortan: Klägerin) bezieht seit 2014 eine Regelaltersrente von der Beklagten und Berufungsklägerin (fortan: Beklagte) in Höhe von (anfangs) monatlich 1.440,41 €. 2016 verstarb der 1947 geborene und ebenfalls bei der Beklagten rentenversicherte Ehemann der Klägerin S1 (fortan: Versicherter), der ab dem 01.05.2012 eine Regelaltersrente in Höhe von anfangs 304,98 € und zuletzt 312,42 € monatlich bezogen hatte (Verwaltungsakte, 1. Teilband, Blatt 32-33). In einer persönlichen Vorsprache beim Bürgeramt der Stadt F1 am 01.07.2016 beantragte die zu diesem Zeitpunkt 67-jährige Klägerin darauf eine Hinterbliebenenrente. Die Angaben der Klägerin wurden dabei in einem persönlichen Dialog von der Mitarbeiterin des Bürgeramts W1 erfragt und dann in das dafür von der Beklagten bereitgestellte Datenverarbeitungsprogramm übertragen und elektronisch an die Beklagte übermittelt. Als Seite 7 von 10 des auf diese Weise erstellten und bei der Beklagten eingegangenen Rentenantrags ist in der beigezogenen Papierakte der Beklagten ein Blatt mit dem folgenden Kurztext aktenkundig. Dieses Blatt wird automatisch anstelle der Fragen und Antworten generiert, wenn alle eingegebenen Antworten „Nein“ lauten (vgl. Erläuterung der Beklagten vom 03.06.2022, vgl. Seite 3 des Protokolls der nichtöffentlichen Sitzung). Der generierte Kurztext ersetzt den Wortlaut aller Fragen und gibt an deren Stelle weder eine Zusammenfassung ihres Inhalts noch zumindest des von den Fragen behandelten Themas wieder:

„R0660 – Anlage zum Antrag auf Hinterbliebenenrente / Erziehungsrente [Zeilenwechsel] Von der Antragstellerin bzw. dem Antragsteller sind alle Fragen mit ‘nein‘ beantwortet worden.“

Ein Abdruck der von der „Anlage R0660“ erwähnten Fragen ist nicht aktenkundig und wurde auch der Klägerin nicht ausgehändigt. Die näheren Umstände der Beantwortung der in dieser Anlage enthaltenen Fragen durch die Klägerin sind zwischen den Beteiligten streitig. Sowohl der in erster Instanz zuständige Kammervorsitzende des Sozialgerichts Konstanz (SG) als auch der Berichterstatter im Berufungsverfahren haben die Beklagte um Erstellung und Vorlage eines Abdrucks der Fragen in der Form, wie sie der antragaufnehmenden Sachbearbeiterin vorgelegen haben, bzw. um einen Screenshot der elektronischen Eingabemaske gebeten (Verfügung des SG vom 08.12.2020; Protokoll zum Erörterungstermin am LSG vom 03.06.2022, Seite 3). Dem ist die Beklagte in erster Instanz ohne Begründung und im Berufungsverfahren mit der Begründung nicht nachgekommen, dass dies „aus EDV-Gründen“ nicht möglich sei (Schreiben vom 08.07.2022). Sie hat anstelle dessen die Papierfassung der betreffenden Anlage des Antragsvordrucks vorgelegt. Die in der elektronischen Eingabemaske enthaltenen Fragen seien mit denen im vorgelegten Vordruck identisch. Dieses 15-seitige Dokument (LSG Akte Blatt 87 -101) trägt die Überschrift „Anlage zum Antrag auf Hinterbliebenenrente / Erziehungsrente – Angaben zum Einkommen –“. Unter den Ziffern 1 und 2 dieses Dokuments werden Angaben zur Person der bzw. des Versicherten und der Witwe bzw. des Witwers erfragt. Die Ziffern 3 bis 9 enthalten mehr als 50 Ja-/Nein-Fragen zu diversen Einkunftsarten. Ziffer 3 betrifft Arbeitsentgelt, Ziff. 4 Arbeitseinkommen, Ziff. 5 vergleichbares Einkommen, Ziff. 6 kurzfristiges und Ziff. 7 dauerhaftes Erwerbsersatzeinkommen. Unter Ziff. 7.1 wird nach einer „Rente aus eigener Versicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung (…)“ gefragt.

Auf einem von der Klägerin zum Abschluss ihres Antrags von Hand unterschriebenen Vordruck sind die folgenden vorformulierten Erklärungen enthalten:

            „Am 01.06.2016 habe ich obigen Antrag gestellt. Dieser beinhaltet
            Antrag auf Hinterbliebenenrente (R0500)
Anlage zum Antrag auf Hinterbliebenenrente / Erziehungsrente (R0660)
            Meldung zur KVdR (R0810)“
(…)
„Ich habe keinen bzw. keinen vollständigen Ausdruck der Antragsdaten gewünscht. Durch meine Unterschrift bestätige ich ausdrücklich die Richtigkeit der Antragsdaten.“

Am 12. und 13.07.2016 (Verwaltungsakte, 1. Teilband, Blatt 29 ff., 40) fertigte die Sachbearbeiterin der Beklagten Frau S2 eine „Entscheidungsvorlage über die Neufeststellung einer Rente“ im Rentenkonto des Versicherten aufgrund einer Änderung von Beitragszeiten in den Jahren 1982/1983. Der Tod des Versicherten war ihr dabei bereits bekannt (vgl. die Telefonvermerke der Sachbearbeiterin S2 vom 08.07.2016 und 13.07.2016 „Anruf der Witwe“ bzw. „Anruf bei der Witwe“, a.a.O. Blatt 23-Rs, 28). Ausweislich einer aktenkundigen Datenerfassung vom „13.07.2016 11:53:19“ (a.a.O. Blatt 37) lag der Sachbearbeiterin der Beklagten S2 anlässlich einer „Anforderung von Daten zur Einkommensanrechnung“ im Rahmen der Bearbeitung des Antrags auf Hinterbliebenenrente vom 01.07.2016 ab dem 12.07.2016 die konkrete Information vor, dass die verwitwete Ehefrau (hier Klägerin) des Versicherten bereits seit 2014 eine Regelaltersrente in Höhe von 1.440,41 € bezieht. Im Abschnitt „Eingegangene Meldung zum Versichertenrentenbezug des Berechtigten“ heißt es „Erledigung: Einkommensdaten sind eingegangen“. Diese Textpassage ist mit Textmarker hervorgehoben. Dieselbe Sachbearbeiterin S2 fertigte am 14.07.2016 (a.a.O. Blatt 51-52) eine Entscheidungsvorlage für die Bewilligung der beantragten Hinterbliebenenrente. Die Sachbearbeiterin vermerkte hierbei handschriftlich, das „Versichertenkonto Bl. 34 - 39“ geprüft zu haben (a.a.O. Blatt 51-Rs). Das dabei u.a. in Bezug genommene Blatt 37 enthält die konkreten und mit Textmarker hervorgehobenen o.g. Informationen zur Altersrente der Klägerin. Weiter ergibt sich aus der Entscheidungsvorlage vom 14.07.2016 (a.a.O. Blatt 52) unter anderem, dass die Voraussetzungen für die Große Witwenrente erfüllt sowie die Daten vollständig und richtig gespeichert seien. Wörtlich heißt es: „Sachlich und rechnerisch richtig bescheinigt mit Signatur durch den Feststeller“.

Mit Bescheid vom 15.07.2016 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 01.06.2016 eine Große Witwenrente in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 180,34 €. Unter dem Punkt „Mitteilungspflichten und Mitwirkungspflichten“ führte die Beklagte unter anderem Folgendes aus:

„Einkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Höhe der Rente haben. Sie müssen uns unverzüglich mitteilen, wenn Sie Erwerbseinkommen oder Erwerbsersatzeinkommen beziehen. Bitte teilen Sie uns auch mit, wenn Sie Erwerbsersatzeinkommen beantragen. […]
Erwerbsersatzeinkommen sind:
[…]
- Rente wegen Alters […]
[…]
Wir werden den Bescheid ganz oder teilweise aufheben, sobald uns Tatsachen bekannt werden, die den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe beeinflussen. Dies ist auch rückwirkend möglich. Zuviel gezahlte Beträge müssen Sie zurückzahlen. Sie können größere Überzahlungen vermeiden, wenn Sie Ihre Mitteilungspflichten rechtzeitig erfüllen.“

Eine Anrechnung der von der Klägerin bezogenen Regelaltersrente fand bei der Berechnung des vorbenannten Rentenbescheids tatsächlich nicht statt. Eine Anlage, aus der die Nichtanrechnung von Einkommen dem Grunde oder der Höhe nach hervorgeht, war dem Rentenbescheid nicht beigefügt.

Laut einem „Rentenbescheid“ vom „05.12.2019“ wurde die Große Witwenrente der Klägerin rückwirkend ab 01.06.2016 neu berechnet, eine Überzahlung für die Zeit vom 01.06.2016 bis 31.12.2019 in Höhe von 7.379,34 € und ein laufender Rentenanspruch ab 01.01.2020 in Höhe von monatlich nur noch 2,01 € (brutto) festgestellt (Verwaltungsakte, 2. Teilband, Blatt 12-17). Einen Abgangsvermerk zu diesem Bescheid bzw. Entwurf eines Bescheids gibt es nicht.

Mit Schreiben vom 06.01.2020 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Absenkung ihres Anspruchs auf Große Witwenrente durch teilweise Aufhebung des Bescheides vom 15.07.2016 sowie zur Rückforderung überzahlter Rentenleistungen für die Zeit vom 01.09.2016 bis 31.01.2020 in Höhe von 7.573,16 € an. Die beabsichtigte Teilaufhebung beruhe auf § 45 SGB X und die Rückforderung auf § 50 Abs. 1 SGB X. Die Klägerin habe bei der Beantragung der Hinterbliebenenrente keine Einkünfte angegeben. Die Klägerin habe die Fehlerhaftigkeit des Bescheids vom 15.07.2016 gekannt bzw. habe diese erkennen müssen, da sie dort darüber informiert worden sei, dass sie sämtliche Einkünfte bei der Beantragung einer Hinterbliebenenrente anzugeben habe und diese Auswirkungen auf die Rentenhöhe haben könnten. Zur Höhe der laufenden Absenkung machte die Beklagte im Anhörungsschreiben keine Angaben.

Mit Schreiben vom 16.01.2020, das bei der Beklagten am 20.01.2020 einging, erklärte die Klägerin erstaunt („mit einigem Entsetzen“), dass ihre Altersrente bei der Hinterbliebenenrente nicht berücksichtigt sei. Sie beziehe beide Renten vom selben Rententräger. Sie habe den Antrag auf Hinterbliebenenrente – ebenso wie ihren Antrag auf die eigene Altersrente – mit Hilfe der Sachbearbeiter des Amtes für Bürgerservice bei der Stadtverwaltung F1 erstellen lassen. Nach ihrer Wahrnehmung habe sie alle ihr vorgelesenen Fragen zutreffend beantwortet und seien die von ihr gegebenen Antworten von der Sachbearbeiterin aufgenommen worden. Hierbei sei es offensichtlich bei der Frage der eigenen Einkünfte zu einem Fehleintrag gekommen. Sie habe geantwortet, keine sonstigen Einkünfte außer ihrer Altersrente zu haben. Dies sei wohl missverstanden worden. Zwar sei es zutreffend, dass sie selbst den Antrag unterschrieben habe, jedoch sei ihr diesbezüglich keine Verschleierungsabsicht vorzuwerfen. Nach dem Tod ihres Ehemannes und seinem vorausgegangenen schrecklichen und langwierigen Leiden habe sie sehr viel organisieren müssen und dabei nicht mehr auf seine Hilfe zurückgreifen können. Sie habe die bisherigen Bescheide der Beklagten für sachlich und rechnerisch richtig gehalten und sei sich des Fehlers durch nicht berücksichtigte Einkünfte, die ebenfalls durch die Beklagte gewährt würden und daher ohnehin bekannt sein müssten, nicht bewusst gewesen. In der Gewissheit, dass ihr auch künftig die Rente in der bislang errechneten Höhe zustehe, und mangels unmittelbar erbberechtigter Nachkommen habe sie nach Tilgung aller während des langen Leidens ihres Ehemanns angelaufenen Schulden ihre Lebensführung so eingerichtet, dass sie keine nennenswerten Rücklagen habe, aus denen sie die Erstattungsforderung bezahlen könnte. Sie müsse ihre sonstigen Dispositionen nun erst einmal an ihr künftig verringertes Einkommen anpassen. Da die verbliebene Hinterbliebenenrente den Verwaltungsaufwand eigentlich nicht mehr lohne, bot sie (zunächst) an, auf diese Rente im Vergleichswege zu verzichten.

Mit Bescheid vom 31.01.2020 stellte die Beklagte die Große Witwenrente der Klägerin rückwirkend ab Rentenbeginn 01.06.2016 bis fortlaufend neu fest. Ab dem 01.04.2020 belaufe sich der Anspruch auf nur noch 2,01 € (brutto). Für den Zeitraum 01.06.2016 bis 31.03.2020 sei eine Überzahlung in Höhe von 7.569,58 € eingetreten, die die Klägerin gemäß § 50 SGB X erstatten müsse. Zur Begründung führte sie aus, dass der Bescheid vom 15.07.2016 hinsichtlich der Rentenhöhe ab dem 01.06.2016 nach § 45 SGB X zurückgenommen werde. Ergänzend zum Anhörungsschreiben vom 06.01.2020 führte die Beklagte noch aus, dass weder die Einwände der Klägerin noch sonstige Gründe geeignet seien, im Wege des Ermessens von der Rücknahme abzusehen. Gegen eine Rücknahme würden aus Sicht der Klägerin keine Gründe sprechen (sic). Aus Sicht der Beklagten würden für eine Rücknahme folgende Gründe sprechen: Die Beklagte verwalte das Vermögen der Versichertengemeinschaft treuhänderisch und sei zu einer sparsamen Haushaltsführung verpflichtet. Dies erfordere die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen, sofern hierfür die gesetzlichen Grundlagen gegeben seien. Insofern überwiege das öffentliche Gesamtinteresse dasjenige des einzelnen Betroffenen. Mit Rücksicht auf die Versichertengemeinschaft sei daher ein Verzicht auf den Rückforderungsbetrag nicht möglich.

Mit Schreiben vom 10.02.2020 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 31.01.2020 ein. Zur Begründung gab sie insbesondere an, dass sie vom Versicherungsamt der Stadt F1 leider keine Durchschrift ihres Antrags erhalten habe, sodass sie gar nicht prüfen könne, ob die städtische Bedienstete ihre Angabe, über kein Einkommen außer ihrer Altersrente zu verfügen, missverstanden und die an sie gestellte Frage einfach mit „nein“ beantwortet habe. Überdies gehe sie davon aus, dass die Beklagte pfleglich mit den Anträgen ihrer Versicherten umgehe und daher die Daten darauf abgleiche, ob diese mit den im eigenen Haus vorhandenen Daten übereinstimmen. Sie greife mit ihrem vorsorglich erhobenen Widerspruch nicht die errechnete Höhe der Rückforderung an, sondern wolle anhand der erbetenen Unterlagen den von der Beklagten erhobenen Vorwurf, dass sie wissentlich falsche Angaben gemacht habe und die Fehlerhaftigkeit des ursprünglichen Bescheides hätte erkennen können, prüfen. Schließlich sei es so, dass der Bürger die Bescheide der Beklagten, die über EDV und eigens ausgebildete Spezialisten verfüge, denen die Vermeidung methodischer Fehler zugetraut werde, als richtig ansehe. Schließlich betone sie „zur Klarstellung“, dass sie sich nicht gegen die „Richtigstellung“ des ursprünglichen Bescheids wende, sondern nur darum bitte, ob hinsichtlich ihrer finanziellen Situation ein Härtefall vorliege, der einen vollständigen oder teilweisen Erlass oder Ratenzahlung erlaube.

Mit Schreiben vom 21.02.2020 übersandte die Beklagte der Klägerin einen Abdruck der Aktenseiten 11-23, die den elektronisch übermittelten Rentenantrag enthalten.

Mit Schreiben vom 03.03.2020, das bei der Beklagten am 04.03.2020 einging, führte die Klägerin nach Einsichtnahme in den ihr übersandten Aktenauszug ergänzend zu ihrer bisherigen Widerspruchsbegründung aus, dass sich der Sachverhalt aus ihrer Sicht nun ganz anders darstelle. Aus dem Aktenauszug gehe hervor, dass der Beklagten bei der Bearbeitung des Rentenantrags bereits die Information vorgelegen habe, dass die Klägerin eine Altersrente beziehe. Sie gehe davon aus, dass in der Sachbearbeitung versäumt worden sei, dies bei der Errechnung der Hinterbliebenenrente korrekt zu berücksichtigen. Zudem seien die Rentenanpassungen seit dem 01.07.2017 stets in einem einzigen Bescheid zusammen für beide Renten erfolgt. Auch dies zeige, dass der Beklagten die Altersrente bekannt und ihre Auswirkung auf die Hinterbliebenenrente scheinbar beachtet worden sei. Sie halte zudem die Frist für eine zulässige Rücknahme für überschritten. Sie verfolge ihren Widerspruch daher weiter und beantrage, dass ihr beide Renten weiterhin ungekürzt gewährt würden.

Mit weiterem Schreiben vom 18.04.2020 führte die Klägerin ergänzend aus, dass aus den aktenkundigen Antragsunterlagen eindeutig sowohl das über dem Renteneintrittsalter liegende Alter der Klägerin als auch ihre Rentenversicherungsnummer ersichtlich seien. Damit hätten der Beklagten alle erforderlichen Informationen vorgelegen, um in ihren eigenen Systemen den Altersrentenbezug zu erkennen. Nach eigener Erinnerung habe die Klägerin der Mitarbeiterin beim Versicherungsamt der Stadt F1 auf die Frage nach anderem Einkommen geantwortet, außer der Rente über kein sonstiges Einkommen zu verfügen. Grobe Fahrlässigkeit liege daher allenfalls auf Seiten der Beklagten vor. Sofern die Mitarbeiterin bei der Eingabe der Angaben im Anschluss an den Vermerk zum Formular R0660, alle Fragen seien mit „nein“ beantwortet worden, nichts weiter ausgefüllt habe, so müsse die Mitarbeiterin – insbesondere bezüglich Punkt 7 – wohl davon ausgegangen sein, dass diese Frage für die Klägerin nicht maßgeblich sei, da gefragt werde, ob „seit“ Beginn der Rente wegen Todes Leistungen bezogen würden und nicht „bei“. Ungeachtet dieser semantischen Unklarheit, sei zu konstatieren, dass die Klägerin ihre Versicherungsnummer für die Altersrente bei der Antragsstellung angegeben habe. Anzunehmen, dass sie ihre Altersrente habe verschweigen wollen, sei vor diesem Hintergrund geradezu verwegen. Außerdem könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden, die Rechtswidrigkeit der Rentenfestsetzung erkannt oder grob fahrlässig verkannt zu haben. Nach Aktenlage sei völlig unklar, welche Angaben die Mitarbeiterin der Stadt F1 von der Klägerin überhaupt erfragt und wie sie diese per EDV weitergegeben habe.

In einer ersten Sitzung des Widerspruchsausschusses der Beklagten vom 17.06.2020 wurde eine Entscheidung mit dem Vermerk vertagt, dass ein Mitverschulden der Verwaltung angesichts des Alters der Klägerin bei der Antragstellung erneut zu prüfen und dass die Rückforderung bei Mitverschulden zu reduzieren sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2020, der am selben Tag versandt wurde, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin dennoch zurück. Die Rücknahme des Bescheids vom 15.07.2016 und der Folgebescheide sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft sowie die Erstattungsforderung entsprächen der Sach- und Rechtslage. Zur Begründung führte sie aus, dass die Klägerin verpflichtet gewesen sei, den Bescheid vom 15.07.2016 umfassend durchzulesen und auf inhaltliche „Richtigkeit“ zu überprüfen. Bei „richtigem Durchlesen“ hätte der Klägerin auffallen müssen, dass ihre Altersrente nicht berücksichtigt worden sei. Die Fehlerhaftigkeit des Bescheids vom 15.07.2016 und der Folgebescheide sei offenkundig und auch für juristische Laien ohne spezielle Kenntnisse im Rentenrecht erkennbar gewesen. Die erforderliche Sorgfaltspflicht sei in erheblichem Maße verletzt worden. Der Bescheid vom 15.07.2016 und die nachfolgenden Rentenbescheide hätten den eindeutigen Hinweis enthalten, dass neben der Rente bezogenes Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen Einfluss auf die Rentenhöhe haben könne und daher die Verpflichtung bestehe, den Bezug solcher Einkünfte und jede Veränderung mitzuteilen. Die Zehnjahresfrist für eine Rücknahme sei unstreitig gewahrt. Positive Kenntnis habe die Beklagte frühestens am 20.01.2020 gehabt. Im Rahmen des eingeräumten Ermessens habe die Beklagte zu prüfen, ob von dem im Grunde nach vorliegenden Rückforderungsanspruch zu Gunsten des Betroffenen ganz oder teilweise Abstand zu nehmen sei. Dies komme aber nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn zum Beispiel den Versicherungsträger ein Verschulden treffe oder Umstände vorlägen, die die Rückforderung als unbillig erscheinen ließen. Gegen eine Rücknahme spreche nach Einschätzung der Klägerin, dass keine wesentliche Veränderung ihrer Einkommensverhältnisse eingetreten sei, sie keine unrichtigen oder unvollständigen Angaben gemacht und die Beklagte keine Nachprüfung durchgeführt habe. Für eine Rücknahme spreche aber das öffentliche Interesse, Gelder, die der Versichertengemeinschaft zustünden, einzufordern. Die Klägerin habe um den Bezug ihrer Altersrente gewusst. Deren fehlende Berücksichtigung sei ohne spezielle Fachkenntnisse einfach zu erkennen gewesen. Hier überwiege eindeutig das Verschulden der Klägerin an der Nichtmitteilung der Altersrente das Mitverschulden der Beklagten an einer unterbliebenen Überprüfung auf weitere Renten anhand der Versicherungsnummer. Die Klägerin sei darüber informiert worden, dass neben der Rente bezogenes Erwerbsersatzeinkommen Einfluss auf die Rentenhöhe haben könne. Ein unbilliger Eingriff in die persönlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnisse liege nicht vor. Die Abwägung dieser Aspekte spreche selbst bei einem Mitverschulden der Beklagten dafür, dass die Gründe für eine Bescheidrücknahme überwögen. Auf die Rückforderung der Überzahlung – gegebenenfalls auch teilweise – zu verzichten, sei nicht sachgerecht.

Nach einem Anruf des Bevollmächtigten der Klägerin bei der Beklagten am 03.08.2020 fertigte eine Mitarbeiterin der Beklagten, Frau M1, eine „Entscheidungsvorlage zur Abhilfe eines Widerspruchs“ (Verwaltungsakte, 2. Teilband, Blatt 122). Darin schlug sie eine vollständige Abhilfe unter Rücknahme des bereits am 28.07.2020 versandten Widerspruchsbescheids vor, da der Beklagten bereits am 13.07.2016 eine Meldung über die Höhe der Altersrente vorgelegen habe. Die Beklagte habe daher Kenntnis von der Höhe der Altersrente gehabt. Bei der Feststellung der Witwenrente sei die Einkommensanrechnung unterblieben. Darin liege ein „volles Verschulden“ seitens der Beklagten. Ein Endzeichner der Beklagten, Herr H1, trat diesem Abhilfevorschlag jedoch entgegen, da die Klägerin keine Rente angegeben habe und damit die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Nr. 2 SGB X vorlägen. Überdies sei zu berücksichtigen, dass die bereits gewährte Altersrente in Höhe von (damals) 1.440,41 € wohl erkennbar „ein wesentlicher Bestandteil des Familieneinkommens gewesen sein dürfte.“

Am 18.08.2020 hat ein Bekannter der Klägerin, Herr R1, unter Vorlage einer von der Klägerin am 12.08.2020 unterschriebenen Vollmacht in deren Namen Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) mit dem Antrag erhoben, den Aufhebungsbescheid vom 31.01.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ihre Große Witwenrente entsprechend der ursprünglichen Bewilligung vom 15.07.2016 weiter zu bezahlen. Auf Hinweis des SG an den Bevollmächtigten, dass eine Vertretung der Klägerin nur im Rahmen des § 73 SGG zulässig sei, hat die Klägerin persönlich mit Schreiben vom 26.10.2020 erklärt, dass die Klage als in ihrem Namen erhoben gelten solle.

Die nachfolgenden Schreiben im Klage- und Berufungsverfahren hat die Klägerin jeweils selbst unterschrieben.

Zur Klagebegründung hat die Klägerin ergänzend vorgetragen, dass die Beklagte schon vor Erlass des Bescheids vom 15.07.2016 Kenntnis vom Bezug ihrer Altersrente gehabt habe und dass eine Rückforderung deshalb ausscheide. Die Klägerin habe nachweislich nicht betrogen. Vielmehr habe die Beklagte einen Fehler begangen, den sie nun der Klägerin aufbürden möchte. Dass die Beklagte hierbei nicht vor falschen Anschuldigungen zurückschrecke, erschüttere das Vertrauen der Versicherten in die Beklagte, da die meisten Bundesbürger nicht über spezielle Rechtskenntnisse verfügen würden.

Das SG hat der Beklagten mit Verfügung vom 08.12.2020 unter Bezug auf das Textblatt R0660 (Blatt 16 der Verwaltungsakte) aufgegeben, einen vollständigen Abdruck der Fragen und der Antworten der Klägerin zur Anlage R0660 vorzulegen (vgl. oben). Die Beklagte hat sich hierzu bis zur mündlichen Verhandlung des SG am 14.01.2021 nicht geäußert.

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 14.01.2021 stattgegeben und den Bescheid vom 31.01.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2020 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid auf §§ 45, 50 SGB X beruhe und formell rechtmäßig sei. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Aufhebung für die Vergangenheit und Zukunft nach § 45 Abs. 1 SGB X lägen vor. Auf Vertrauensschutz könne sich die Klägerin wegen § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X nicht berufen, weil sie die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Bescheids habe erkennen können und müssen. Dass es sich bei der bereits bezogenen Altersrente der Klägerin um ein Erwerbsersatzeinkommen handele, sei durch schlichte Lektüre des Bescheids auch für einen juristischen Laien ohne Schwierigkeiten erkennbar, da die Beklagte auch hierüber informiert habe. Außerdem ergebe sich aus den im Bescheid abgedruckten Berechnungsanhängen ebenfalls eindeutig, dass eine Berücksichtigung der bereits zum damaligen Zeitpunkt gewährten Altersrente im Rahmen der nun bewilligten Großen Witwenrente nicht erfolgt sei, mithin beide Rentenformen ohne Kürzung und gegenseitige Berücksichtigung gewährt worden seien. Zwar habe der Klägerin nur oblegen, den Bewilligungsbescheid vom 15.07.2016 auf Plausibilität und nicht, wie die Beklagte meine, auch auf Richtigkeit zu prüfen. Die Klägerin, die sich ihrer Altersrente bei Bewilligung der Witwenrente bewusst gewesen sei, habe diese Prüfobliegenheit aber grob fahrlässig verletzt, da ihr bei gewissenhafter Lektüre des Bescheides vom 15.07.2016 die Diskrepanz zwischen der Relevanz eines Erwerbsersatzeinkommens (hier: Altersrente) und dessen Nichtberücksichtigung bei der Berechnung der Großen Witwenrente aufgefallen wäre. Es könne dahinstehen, ob außer dem Vertrauensschutz ausschließenden Tatbestand des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X auch derjenige der Nr. 2 dieser Vorschrift vorliege. Es müsse daher nicht weiter aufgeklärt werden, ob die Klägerin bei der Antragstellung vorwerfbar eine falsche Angabe gemacht habe, oder ob es sich um ein Missverständnis der antragsaufnehmenden Mitarbeiterin der Stadt F1 gehandelt habe. Die anstelle der allgemein geltenden Zweijahresfrist für rückwirkende Aufhebungsentscheidungen hier aufgrund eines Tatbestands des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X gemäß § 45 Abs. 3 S. 3 SGB X einschlägige Zehnjahresfrist sei gewahrt. Auch die Jahresfrist ab Kenntnis bis zur Entscheidung nach § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X sei ausgehend von der am 20.01.2020 bei der Beklagten eingegangenen Äußerung der Klägerin im Anhörungsverfahren eingehalten.

Allerdings erweise sich die Aufhebungsentscheidung auf der Rechtsfolgenseite als ermessensfehlerhaft. Die Ermessensausübung sei bereits dadurch defizitär, dass in ihr der Klägerin erneut vorgeworfen werde, vom Bezug der Altersrente gewusst zu haben und die Rechtswidrigkeit der Bewilligung erkannt haben zu können. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 21.03.1990 – 7 RAr 112/88, Rn. 27) scheide eine doppelte Berücksichtigung dieser Umstände aus, da sie bereits den Tatbestand des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X prägten und somit nicht nochmals dem Begünstigten im Rahmen der Ermessensentscheidung vorgehalten werden könnten. Unbedenklich sei dagegen, dass aus den Antragsunterlagen die Rentenversicherungsnummer der Klägerin hervorgehe. Das Versäumnis der Beklagten, anhand der Versichertennummer eigeninitiativ den Bezug einer (Alters)Rente zu prüfen, trete hinter dem Verschulden der Klägerin zurück. Ein gerichtlich überprüfbarer Ermessensfehler liege jedoch im vollständigen Ausblenden der bei der Bearbeitung übersehenen Datenerfassung vom 13.07.2016. Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung im Rahmen des § 45 SGB X erfordere eine umfassende Abwägung zwischen dem Individualinteresse des Begünstigten und dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes. In diese Abwägung müssten sämtliche relevanten Verhältnisse des Einzelfalles einfließen. Innerhalb des Abwägungsvorgangs stehe der Beklagten eine – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare – Gewichtung der einzelnen Belange zu. Zwar sei die Behörde nicht verpflichtet, eigene Fehler zugunsten des Betroffenen zu berücksichtigen, eine rechtmäßige Abwägungsentscheidung setze aber voraus, dass sämtliche für die Abwägung bedeutsamen Belange erkannt und benannt würden. Dem werde die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Die Tatsache, dass zur Vorbereitung des Rentenbescheids vom 15.07.2016 eine Datenerfassung vom 13.07.2017 erfolgt und zur Akte gelangt sei, aus der sich für die zuständige Sachbearbeitung ohne weiteres der Bezug der Altersrente der Klägerin ergebe, werde weder im Bescheid vom 31.01.2020 noch im Widerspruchsbescheid vom 28.07.2020 überhaupt erwähnt. Dies werde auch durch die „Entscheidungsvorlage zur Abhilfe des Widerspruchs“ vom 03.08.2020 deutlich. Grundlage dieser Vorlage sei der Anruf des Bevollmächtigten der Klägerin bei der Beklagten vom gleichen Tag gewesen. Der Bevollmächtigte habe die Beklagte in diesem Telefonat darauf aufmerksam gemacht, dass sich aus der Verwaltungsakte ergebe, dass die Beklagte bereits kurz vor der Rentenbewilligung vom 15.07.2020 Kenntnis von der Altersrente der Klägerin gehabt habe. Die Bedeutsamkeit dieser Tatsache ergebe sich anschaulich aus den Ausführungen der Sachbearbeiterin M1, denen zufolge die Kenntnis der Beklagten vom Bezug der Altersrente vor Erlass des Bescheides ein volles Verschulden der Beklagten belege, sodass der bereits erlassene Widerspruchsbescheid vom 28.07.2020 wieder aufzuheben sei. Unverständlich sei die ablehnende Stellungnahme des Endzeichners H1, der ohne neue Erkenntnisse eine vorsätzliche Täuschung durch die Klägerin behauptet und auf die (nicht übersehbare) Höhe der Altersrente verwiesen habe. Die Beklagte sei unabhängig vom wertmäßigen Verhältnis der Alters- und Hinterbliebenenrente gehalten, alle ermessensrelevanten Aspekte zu ermitteln und zu bewerten. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X eröffne für die Beklagte lediglich die Aufhebungs- und Rückforderungsmöglichkeit. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Beklagte im Rahmen der vorzunehmenden Ermessensentscheidung „Narrenfreiheit“ hätte und nach ihrem Belieben abwägungsrelevante Aspekte einfach unberücksichtigt lassen dürfe. Selbst wenn die Beklagte entsprechende Ermessenserwägungen noch in zulässiger Weise nachschieben dürfte, werde eine vollumfängliche Aufhebung ohne Reduzierung der Rückforderungshöhe der rechtlich gebotenen Abwägung nicht gerecht.

Die Beklagte hat am 19.03.2021 gegen das ihr am 26.02.2021 zugestellte Urteil Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie ist der Ansicht, dass nur die rückwirkende Aufhebung und die Erstattungsforderung und nicht auch die laufende Absenkung der Hinterbliebenenrente Gegenstand des Widerspruchs- und Klageverfahrens geworden sei (vgl. Berufungsbegründung vom 13.04.2021 und Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 03.06.2022). Das SG habe im angefochtenen Urteil verkannt, dass es nach der neueren Rechtsprechung u.a. des LSG Baden-Württemberg (29.03.2017, Az. L 2 R 4019/16) übereinstimmend mit der Literatur abweichend von dem vom SG zitierten älteren BSG Urteil vom 21.03.1990 (Az. 7 Rar 112/88) nicht ermessensfehlerhaft sei, die Vertrauensschutz tatbestandlich ausschließenden Gründe bei der Ermessensausübung erneut zu berücksichtigen. Ferner sei es unter Beachtung des BSG-Urteils vom 30.10.2013 (B 12 R 14/11 R) nicht zu beanstanden, dass die Beklagte ihr eigenes Mitverschulden in der Ermessensausübung nicht berücksichtigt habe. Denn auf Seiten der Beklagten handele es sich um einen „normalen“ Fehler in der Sachbearbeitung im Sinne dieser Rechtsprechung, während auf Seiten der Klägerin ein grob fahrlässiges Verkennen der Rechtswidrigkeit vorliege. Entsprechendes zeige anschaulich das (unveröffentlichte) Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12.07.2017 – L 4 R 438/16 (Senatsakte Blatt 104 ff.). Weil es sich bei Rentenbewilligungen um ein Massenverfahren handele, obliege es den Versicherten, den Bescheid auf Plausibilität zu prüfen (LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 16.02.2021 – L 13 R 1927/20 und vom 01.02.2010 – L 4 R 3304/08). Ein Mitverschulden müsse sich auch nicht stets in einer Reduzierung der Erstattungsforderung auswirken (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.11.2015 – L 5 R 1929/15). Nicht zu beanstanden sei insbesondere, das öffentliche Interesse der Versichertengemeinschaft an einer Rückführung unrechtmäßig ausbezahlter Leistungen höher zu gewichten als das individuelle Interesse, solche Leistungen zu behalten (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 07.08.2013 – L 5 R 57/11). Die Beklagte gehe angesichts der von der Klägerin geleisteten Unterschrift davon aus, dass sie bei der Antragstellung arglistig getäuscht habe. Zur weiteren Begründung verweist sie schließlich auf ein Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 21.04.2008, Az. L 3 AL 34/05. Sie gehe vor diesem Hintergrund davon aus, dass es sich bei der Angabe der Klägerin, sie habe mündlich auf ihre Altersrente hingewiesen, um eine unbeachtliche Schutzbehauptung handle. Die Klägerin sei hierfür beweisbelastet. Zwar sei der Hinweis des Berichterstatters zutreffend, dass eine Rentenminderung zutreffend unterbleibe, wenn Einkommen innerhalb des Freibetrages bezogen werde. Da der Rentenbescheid jedoch keinen Hinweis zu diesem Freibetrag enthalte, habe die Klägerin von einem Freibetrag nichts wissen können. Sie habe nur über die im Rentenbescheid enthaltene Information verfügt, dass eine Versichertenrente Einfluss auf die Rentenhöhe haben könne. In vergleichbaren Fällen habe die Rechtsprechung einen solchen „Kann“-Hinweis für ausreichend befunden, um § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zu bejahen. Sie beruft sich hierfür auf ein auszugsweise zitiertes Urteil des Hessischen LSG vom 30.01.2015, Az. L 5 R 390/12 (Schriftsatz vom 08.07.2022).

Die unterbliebene Berücksichtigung der Altersrente sei der Beklagten durch einen am 04.11.2019 erstellten Gesamtkontenspiegel bekannt geworden. „Der Ordnung halber“ weise die Beklagte schließlich darauf hin, dass der Bevollmächtigte der Klägerin in einem Telefonat mit der Beklagten mitgeteilt habe, Medien und die Politik über die „Machenschaften und Betrügereien“ der Beklagten zu informieren.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14.01.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen und trägt vor allem erneut vor, dass sie bei der Antragstellung vollständige und richtige Angaben gemacht habe. Sie habe gegenüber der Sachbearbeiterin des Bürgeramts, die ihren Rentenantrag aufgenommen habe, auf die Frage nach anderen Einkünften geantwortet: „Keine außer meiner Altersrente.“ Sie ist der Ansicht, dass nicht nur die rückwirkende Aufhebung der Hinterbliebenenrente und die darauf beruhende Erstattungsforderung Verfahrensgegenstand sei, sondern auch die laufende Absenkung der Hinterbliebenenrente. Ihr Widerspruch müsse entsprechend ausgelegt werden. Sofern ihr Widerspruch insoweit verfristet sei, habe die Beklagte ihr durch tatsächliche Befassung mit diesem Begehren konkludent Wiedereinsetzung gewährt.

Der Berichterstatter hat den Sach- und Streitstand mit den Beteiligten am 03.06.2022 in nichtöffentlicher Sitzung erörtert und den Beteiligten eine vergleichsweise Erledigung des Rechtsstreits vorgeschlagen, der die Beteiligten im Nachgang des Termins entgegengetreten sind. Beide Beteiligte haben sich im Termin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Auf das Protokoll wird im Übrigen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung der Sachbearbeiterin der Rentenantragstelle im Bürgeramt der Stadt F1 Frau W1. Auf ihre Aussage vom 26.10.2022 wird Bezug genommen. Sie hat im Wesentlichen erklärt, an die konkrete Antragstellung trotz der ihr benannten Anknüpfungstatsachen keine Erinnerungen mehr zu haben. Sie könne weder bestätigen noch ausschließen, dass die Klägerin ihr die Antwort „Kein Einkommen außer meiner Altersrente“ gegeben habe.

Beide Beteiligte haben sich in Kenntnis dieser Aussage mit Schreiben vom 20.11.2022 und 22.11.2022 weiterhin mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
           
Wegen aller weiteren Einzelheiten und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die aus zwei Teilbänden bestehende Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 31.01.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Das diesen Bescheid aufhebende Urteil des SG ist daher nicht zu beanstanden.

Gegenstand des Verfahrens ist die mit einer reinen Anfechtungsklage statthaft angegriffene teilweise Aufhebung der mit Bescheid vom 15.07.2016 bewilligten Großen Witwenrente der Höhe nach sowohl für die Vergangenheit (ab Rentenbeginn 01.06.2016) als auch für die Zukunft (ab 01.04.2020). Die zugleich angefochtene Erstattungsforderung in Höhe von 7.569,58 € betrifft die aufgrund der Aufhebung für die Vergangenheit eingetretene Überzahlung. Zu Unrecht macht die Beklagte im Berufungsverfahren geltend, dass die laufende Absenkung der Rente nicht Verfahrensgegenstand sei. Während die Klägerin ihren mit Schreiben vom 10.02.2020 fristgerecht eingelegten Widerspruch ursprünglich auf die rechtlich selbstständige rückwirkende Aufhebung und die mit ihr einhergehende Erstattungsforderung beschränkt und die Kürzung der laufenden Rente ausdrücklich akzeptiert hatte, wandte sie sich mit dem am 04.03.2020 bei der Beklagten eingegangenen weiteren Schreiben vom 03.03.2020 erstmals auch gegen die laufende Kürzung ihrer Hinterbliebenenrente („Ich beantrage, dass beide Renten weiterhin ungekürzt gewährt werden.“). Zu diesem Zeitpunkt war die Widerspruchsfrist bereits abgelaufen. Sie endete ausgehend von dem Abgangsvermerk „31.01.2020“ zum Bescheid vom 31.01.2020 (Verwaltungsakte Blatt 38-Rs) und dem nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 03.02.2020 fingierten Zugang am Dienstag, dem 03.03.2020, einen Tag vor Eingang des Schreibens der Klägerin. Allerdings verwarf die Beklagte den um dieses Begehren erweiterten Widerspruch insoweit nicht als unzulässig, sondern entschied über ihn auch in der Sache, wie sich aus der Begründung des Widerspruchsbescheids auf Seite 1 ergibt. Darin heißt es: „Die Rücknahme des Bescheides vom 15.07.2016 und der Folgebescheide sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft (…) entsprechen der Sach- und Rechtslage (…)“. Der Beklagten steht es frei, auch über einen an sich unzulässigen Widerspruch in der Sache zu entscheiden. Die Sachurteilsvoraussetzung eines Vorverfahrens nach § 78 SGG erfordert nicht dessen fehlerfreie Durchführung und schließt insbesondere nicht aus, dass über verfristete Widersprüche in der Sache entschieden wird (BeckOGK/Becker, Stand: 01.02.2023, SGG § 78, Rn. 31; MKLS/B. Schmidt, 13. Aufl. 2020, SGG § 78 Rn. 2). Einer Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist nach § 27 Abs. 2 S. 4 SGB X, wie von der Klägerin mit Schreiben vom 04.07.2022 geltend gemacht, bedurfte es hierfür nicht. Bei dem weiteren „Bescheid“ vom 05.12.2019 handelt es sich mangels erkennbarer Bekanntgabe nur um einen im Rahmen des am 04.11.2019 erstellten Gesamtkontenspiegels (vgl. Schriftsatz vom 13.04.2021, Seite 2) gefertigten ersten Entwurf der hier streitbefangenen Aufhebung. Er ist nicht Gegenstand des Verfahrens.

Rechtsgrundlage der angefochtenen Aufhebung ist § 45 SGB X. Die Rückforderung der für den Zeitraum 01.06.2016 bis 31.03.2020 errechneten Überzahlung richtet sich nach § 50 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 45 SGB X. Bei dem zurückgenommenen Bewilligungsbescheid vom 15.07.2016 handelt es sich um einen wegen Missachtung der Anrechnungsvorschrift § 97 SGB VI rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Die angefochtene Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist formell rechtmäßig. Auf die insoweit zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils des SG wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist jedoch materiell rechtswidrig.

Gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X ist das Vertrauen in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann er sich gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt wurde (Nr. 1) oder auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Nr. 3). Bei Arglist, Täuschung, Drohung oder Bestechung ist eine Aufhebung unbefristet möglich. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann gemäß § 45 Abs. 3 S. 3 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Nr. 2 oder 3 gegeben sind (Nr. 1). Im Übrigen ist eine Rücknahme nur innerhalb von zwei Jahren ab der Bekanntgabe zulässig (§ 45 Abs. 3 S. 1 SGB X). Nach § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X wird der Verwaltungsakt nur in den Fällen des Absatzes 2 Satz 3 und des Absatzes 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies gemäß § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme rechtfertigen.

Ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X liegt entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG nicht vor. Die Beklagte trifft die Feststellungslast für diese ihr günstige Tatsache. Eine Rücknahme für die Vergangenheit scheidet bereits deshalb aus (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Aus demselben Grund ist die zweijährige Regelfrist für die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X und nicht die Zehnjahresfrist nach Satz 3 dieser Vorschrift einschlägig. Die mit Bescheid vom 31.01.2020 verfügte Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 15.07.2016 erfolgte außerhalb dieser Frist und war damit insgesamt (auch für die Zukunft) rechtswidrig. Auf die vom SG als fehlerhaft beanstandete Ermessensausübung und die von der Beklagten hiergegen vorgebrachten Einwände kommt es daher nicht entscheidend an (s.u. II.).

I. Die Klägerin genießt Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X.

Die Klägerin hat ihre gesamte Lebensführung an denjenigen finanziellen Verhältnissen ausgerichtet, die sich aus der Bewilligung ihrer Altersrente seit 2014 und der Hinterbliebenenrente seit 2016 ergeben haben. Über nennenswerte Rücklagen verfügt die Klägerin nach ihren bereits im Anhörungsverfahren gemachten glaubhaften (vgl. Klägerschreiben vom 16.01.2020) und auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben nicht. Ihr Vertrauen ist schutzwürdig, weil dem kein Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X entgegensteht. Der Senat stellt fest, dass weder ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X (Täuschung, Drohung, Bestechung) (dazu 1.) noch ein Fall der Nr. 2 (grob fahrlässig unvollständige oder unrichtige Angaben – dazu 2.), noch ein Fall der Nr. 3 (Kennen oder grob fahrlässiges Verkennen der Rechtswidrigkeit – dazu 3.) vorliegt.

1. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin die Bewilligung ihrer Hinterbliebenenrente durch arglistige Täuschung bewirkt hätte, sind nicht ersichtlich. Soweit die Beklagte der Klägerin mit Schriftsatz vom 02.06.2021 unter Verweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.03.2013 (Az. 5 C 10.12) Arglist vorwirft, verkennt sie, wie fern diese Annahme unter Berücksichtigung der konkreten Umstände, insbesondere der maßgeblichen Perspektive der Klägerin, liegt. Über die Angaben der Klägerin zur Frage 7.1 der Anlage R0660 bestehen zwar Unklarheiten, die sich auch durch die Befragung der Beteiligten und die Zeugenvernehmung der antragaufnehmenden Sachbearbeiterin im Rahmen des Berufungsverfahrens nicht aufklären ließen. Fest steht jedoch, dass der Klägerin bewusst war, dass sie bei der Vorsprache im Bürgeramt der Stadt F1 im Begriff war, eine Hinterbliebenenrente von demjenigen Rententräger zu beantragen, der ihr bereits seit 2014 laufend eine Altersrente gewährte. Fest steht weiter, dass sie bei der Antragstellung im Zusammenhang ihrer Krankenversicherung der Rentner zutreffend ihre Versichertennummer angegeben hat. Der Klägerin bei dieser Ausgangslage zu unterstellen, sie habe arglistig, also bewusst, den Bezug ihrer Altersrente gegenüber ausgerechnet derjenigen Behörde verschleiern wollen, die ihr diese Altersrente gewährt, ist kaum vorstellbar. Der vom BVerwG entschiedene und von der Beklagten in diesem Zusammenhang zitierte Fall ist mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Dort hatte ein Antragsteller von BAföG-Leistungen i
n den Antragsformularen verschwiegen, dass er neben den angegebenen Vermögenswerten auch Inhaber eines auf seinen Namen bei einer Bank eingerichteten Wertpapierdepots mit einem Depotwert von über 20.000,- € gewesen war, das er zu Beginn der gewährten Leistungen angeblich auf Geheiß seiner Großmutter, um deren treuhänderisch verwaltetes Vermögen es sich gehandelt habe, auf seine Schwester übertragen hatte.

2. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin bei der Antragstellung am 01.07.2016 vorsätzlich (dazu siehe bereits 1.) oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hätte, auf denen der aufgehobene Verwaltungsakt beruht. Die genauen Umstände, wie das im elektronischen Antragsverfahren automatisch generierte Textblatt zur Anlage R0660 „Alle Fragen wurden mit Nein beantwortet“ zustande gekommen ist, sind zwischen den Beteiligten streitig und lassen sich nicht abschließend aufklären. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast trifft nicht die Klägerin, sondern die Beklagte, die sich sowohl im Zusammenhang der ggf. von 2 auf 10 Jahre verlängerten Rücknahmefrist (§ 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X) als auch als Vorbedingung für eine rückwirkende Aufhebung (§ 45 Abs. 4 S. 1 SGB X) auf das Vorliegen eines Tatbestands des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X beruft, die Folge, dass die geltend gemachte Tatsache nicht nachweisbar ist (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 26.10.2021 – L 10 AL 109/20 –, juris).

Der erst 2 Wochen nach der Antragstellung zur Kenntnis der Klägerin gelangte Hinweis im Rentenbescheid vom 15.07.2016 „Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Höhe Ihrer Rente haben“ ist im Zusammenhang mit der Antragstellung am 01.07.2016 und damit den Ausnahmetatbestand § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht relevant. Dieser Hinweis ist nur für § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X von Bedeutung (dazu s.u. 3.).

Der Senat stellt unter Auswertung des Vorbringens der Klägerin zum konkreten Hergang bei der Antragstellung und der Beklagten zur Gestaltung des elektronischen Antragsverfahrens sowie unter Berücksichtigung der insoweit unergiebigen Aktenlage und der Aussage der Zeugin Frau W1 fest, dass nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin bei der Antragstellung mündlich gegenüber Frau W1 auf die Frage nach anderen Einkünften gutgläubig und objektiv zutreffend erklärt hat: „Keine außer meiner Altersrente.“ Allerdings lässt sich nach Überzeugung des Senats weder positiv feststellen noch widerlegen, dass die Klägerin diese mündliche Erklärung abgegeben hat.

Bei dieser Ausgangslage erlauben die zu § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X entwickelten Maßstäbe nicht die Annahme grob fahrlässig falscher oder unvollständiger Angaben. Denn hierfür müsste die Klägerin die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt haben (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz). Davon geht der Senat aus den folgenden Gründen nicht aus:

Missachtet ein Antragsteller die klaren und eindeutigen Hinweise in einem Merkblatt oder die konkreten, unzweideutigen Abfragen in einem Antragsvordruck und konnte er dies nach seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem Bildungsstand erkennen, so begründet dies im Regelfall zumindest grobe Fahrlässigkeit (BSGE 44, 264, 273; BSG, Urteil vom 24.04.1997 - 11 RAr 89/96 - juris Rn. 23; BSGE 113, 184 = SozR 4-1300 § 45 Nr. 13, jeweils Rdnr. 22). Auch unzureichende Sprachkenntnisse sind dabei regelmäßig nicht geeignet, den Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu entkräften. Denn solche ggf. unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers zu überwinden, obliegt dem Antragsteller (BSG, Urteil vom 24.04.1997 – 11 RAr 89/96, juris Rn. 23 unter Verweis auf § 19 Abs. 1 SGB X; BSG, Urteil vom 01.07.2010 – B 13 R 77/09 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr. 18, SozR 4-1300 § 45 Nr. 9). Diese Rechtsprechung betrifft herkömmliche Antragsverfahren auf Papier. Bei ihnen liegen alle Angaben vor dem Leisten der Unterschrift buchstäblich in den Händen des Antragstellers und können von ihm auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft werden. Verbleiben dennoch Fehler, liegt es nahe, davon auszugehen, dass sie durch diese (mögliche und zumutbare) Prüfung hätten vermieden werden können und daher grob fahrlässig entstanden sind (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2017 – L 7 AS 758/13 –, Rn. 40, juris, zu dem auf einem persönlich unterzeichneten Formantrag verschwiegenen Vermögen).

Dieser Rechtsgedanke lässt sich nicht ohne weiteres auf eine in persönlicher Vorsprache erfolgte elektronische Antragsaufnahme übertragen. Zwar kann auch in diesem Fall die abschließende Erklärung zu unterschreiben sein, dass die gemachten Angaben vollständig und richtig seien. Mit einer solchen Unterschrift kann ein Antragsteller allerdings nur insoweit Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit der gemachten Angaben übernehmen, als er diese beim Unterschreiben überhaupt hat überprüfen können. Denn diese Prüfmöglichkeit ist Voraussetzung für den von der angeführten Rechtsprechung entwickelten strengen Maßstab für das Vorliegen bewusst oder grob fahrlässig falscher (oder unvollständiger) Angaben bei der Antragstellung.

a) Für ein bewusstes Verschweigen der Altersrente durch die Klägerin bei der Antragsaufnahme, das heißt für eine ausdrückliche Verneinung der ihr konkret vorgelesenen Frage Nr. 7.1, ist nichts ersichtlich. Ein solches Vorgehen läge unter den hier bestehenden Umständen auch sehr fern, da die Klägerin keinen Anlass hatte, an die entfernte Möglichkeit zu denken, dass derselbe Rententräger, der ihr bereits seit 2014 eine Rente zahlte, dies bei der Berechnung und Bewilligung der weiteren Rente trotz Einsatz von EDV überhaupt übersehen kann. Dementsprechend hat die Klägerin ihre eigene Versichertennummer nicht etwa verfälscht angegeben oder verschwiegen, sondern im Zusammenhang der KVdR wahrheitsgemäß erklärt. Weit weniger eindeutig wäre hingegen eine Situation, in der das anzurechnende Erwerbsersatzeinkommen z.B. aus einer Betriebsrente oder einer Auslandsrente stammt. Vorliegend sind nicht einmal verschiedene Regionalträger der Gesetzlichen Rentenversicherung involviert.

b) Auch für eine (grob) fahrlässige Falschbeantwortung der Frage Nr. 7.1 durch die Klägerin ist nichts ersichtlich. Die von der Klägerin unterschriebene Abschlusserklärung über die Vollständigkeit und Richtigkeit der gemachten Angaben ist nicht geeignet, eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X zu begründen.

Zwar bewirkt etwa das Unterschreiben einer vorgefertigten Erklärung mit dem Inhalt, dass ein bestimmtes Merkblatt erhalten und zur Kenntnis genommen wurde, dass zumindest grob fahrlässig handelt, wer dieses Merkblatt entweder gar nicht erst liest oder – entgegen seinem Inhalt – erforderliche Angaben unterlässt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2016 – L 8 AL 4082/15 –, Rn. 49, juris). Die von der Klägerin unterzeichnete Erklärung nimmt jedoch nicht auf ein ihr ausgehändigtes Merkblatt Bezug. Im Gegenteil steht vorliegend fest, dass der Klägerin weder ein Abdruck der mit der Anlage R0660 gestellten Fragen noch der von ihr darauf gegebenen Antworten ausgehändigt wurde. Auch sonst hatte die Beklagte die Klägerin vor oder bei der Antragstellung nicht mit relevanten Informationen versorgt (vgl. Angaben der Beklagten im Erörterungstermin am 03.06.2022, Protokoll Seite 3, 2. Absatz).

Der Senat verkennt nicht, dass individuelle erschwerende Umstände im Umfeld eines Antragstellers, die nicht offen zu Tage treten, nicht von der antragsaufnehmenden Person oder der Behörde zu verantworten sind. Eine emotionale Belastungssituation – wie bei der Klägerin nach dem Versterben des Ehemanns – verschiebt den Verschuldensmaßstab daher für sich allein nicht. Vielmehr liegt es im Verantwortungsbereich eines Antragstellers, eine individuelle Überforderungssituation ggf. unter Zuhilfenahme Dritter eigenverantwortlich zu überwinden. Insoweit ist kein anderer Maßstab anzulegen als bei unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen der antragstellenden Person (dazu vgl. oben BSG, Urteile v. 24.04.1997 und 01.07.2010).

Die Gestaltung des elektronischen Antragsverfahrens durch die Beklagte birgt im Zusammenhang der Anlage R0660 jedoch Fehlerquellen und Defizite, die völlig außerhalb des Verantwortungsbereichs der unterschreibenden Person – hier der Klägerin – liegen und die der Klägerin eine Überprüfung ihrer Angaben auf Richtigkeit und Vollständigkeit unmöglich gemacht haben:

(1) Zwar muss sich ein Antragsteller falsche Angaben in einem elektronisch erfassten Antrag dann ungeachtet ihrer Entstehung wie eigene Fehler vorhalten lassen, wenn er abschließend eine ausreichende und zumutbare Möglichkeit hat, alle Angaben zu prüfen. Eine Prüfung auf Richtigkeit und Vollständigkeit setzt allerdings voraus, dass außer den Antworten auch die zugehörigen Fragen sichtbar sind. Das ist vorliegend jedenfalls hinsichtlich der in der Anlage R0660 enthaltenen 50 Fragen nicht der Fall. Selbst wenn die Klägerin die Möglichkeit gehabt haben sollte, das automatisch generierte Textblatt „Alle Fragen wurden mit Nein beantwortet“ vor der Abgabe ihrer Unterschrift auf dem Bildschirm der Mitarbeiterin des Bürgeramts F1 oder auf einem separaten Kundenbildschirm einzusehen, so hätte ihr dies keine Erkenntnis und Überprüfungsmöglichkeit eingeräumt. Der generierte Kurztext umschreibt noch nicht einmal das Thema dieser Anlage mit wenigstens einem einzigen Wort, geschweige denn werden der Inhalt und Wortlaut der als verneint erwähnten Fragen wiedergegeben.

(2) Selbst dem Senat konnte die Beklagte auf Anforderung kein originalgetreues Abbild der bei der Klägerin angewandten Eingabemaske vorlegen, sondern lediglich den – vorliegend nicht zum Einsatz gelangten – Papiervordruck verbunden mit der vom Senat nicht überprüfbaren Versicherung, dass dieser mit der damals zum Einsatz gelangten Eingabemaske identisch sei. Eine vollständige Identität ist allerdings schon deshalb fraglich, weil unklar ist, wie gut oder schlecht sichtbar die hier maßgebliche Frage 7.1, die sich im Papierformular auf der Seite 13 von 15 befindet, in der elektronischen Eingabemaske ist. Um der Klägerin eine im Vergleich zum Papierantrag zumindest gleichwertige Prüfungsmöglichkeit einzuräumen, ist insbesondere eine auch für Versicherte mit wenig EDV-Erfahrung leicht handhabbare, möglichst intuitive Navigation durch die sehr zahlreichen Fragen (allein in dieser Anlage mehr als 50) von hoher Bedeutung. Dies ist für den Senat anhand der dürftigen Angaben der Beklagten auf eine entsprechende Befragung im Erörterungstermin und der Erläuterungen in ihrem Schriftsatz vom 08.07.2022 nicht feststellbar. Die Beklagte verkennt mit ihrer Berufungserwiderung insbesondere, dass es nicht der Klägerin obliegt, sich von einer prima facie erwiesenen groben Fahrlässigkeit zu exkulpieren. Fehl gehen daher die Vorhaltungen der Beklagten, dass die Erklärung der Klägerin zum Geschehen bei der Antragsaufnahme eine Schutzbehauptung darstelle. Die von der Klägerin bereits im Anhörungsverfahren und seither wiederholt und in sich konsistent vorgetragene Erklärung, dass sie auf die ihr gestellte Frage nach Einkünften geantwortet habe „Keine außer meiner Altersrente“ ist plausibel und es besteht aus Sicht des Senats kein Anlass, daran zu zweifeln.

(3) Der Umstand, dass die Klägerin auf einen vollständigen Ausdruck der Antragsdaten verzichtet hat, ist nicht geeignet, Rückschlüsse auf eine fahrlässige Falschangabe oder gar Bösgläubigkeit der Klägerin zu ziehen (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 26.10.2021 – L 10 AL 109/20 –, juris). Denn diese Option ist in dem von der Beklagten gestalteten elektronischen Antragsverfahren ausdrücklich vorgesehen. Eine Ausübung dieses von der Beklagten eröffneten Wahlrechts kann nicht ohne weiteres zu Lasten der Antragsteller interpretiert werden. Selbst wenn dies im Vergleich zur Antragstellung auf Papiervordrucken (die ein Antragsteller eigeninitiativ und auf eigene Kosten kopieren müsste, um eine Kopie für sich zu erhalten) anders zu bewerten sein sollte, bleibt ausschlaggebend, dass der Verzicht auf eine Ausfertigung der gemachten Angaben ohne Belang ist, wenn die unterbliebene Ausfertigung – wie hier – die entscheidenden Angaben gar nicht enthalten hätte, weil die zu den Nein-Antworten gehörenden Fragen durch einen automatisch generierten und völlig inhaltsleeren Text ersetzt worden wären, der nicht einmal das Thema der Anlage benennt.

(4) Letztlich wäre sogar demjenigen Antragsteller eine sinnvolle Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Nein-Antworten verwehrt geblieben, der sich an den genauen Wortlaut der mehr als 50 Fragen dieser Anlage hätte erinnern können. Denn ob eine zusätzlich gemachte mündliche Erläuterung (wie die hier streitige Angabe „außer meiner Altersrente“) Eingang in ein eventuell vorhandenes Freitextfeld gefunden hätte, wäre ebenfalls nicht erkennbar geworden. Vor diesem Hintergrund ist der Vorwurf der Beklagten (Schriftsatz vom 08.07.2022, Seite 3), die Klägerin habe sich mit dem im Antragsverfahren ausdrücklich vorgesehenen Verzicht auf einen Ausdruck selbst der Möglichkeit einer umfassenden Prüfung „beraubt“, nicht nachvollziehbar.

(5) Welche mündlichen Erklärungen der Klägerin dem automatisch generierten Textblatt „Alle Fragen wurden mit Nein beantwortet“ genau zugrunde lagen, ist unklar und streitig. In diesem Zusammenhang ist von großer Bedeutung, ob und ggf. welche weiteren Fehler außer einer Falschangabe der Klägerin das zur Akte gelangte Ergebnis verursacht haben können. Nicht feststellbar ist bereits, ob die Mitarbeiterin der Rentenantragstelle, Frau W1, der Klägerin die Frage Nr. 7.1, bei der es sich um eine von mehr als 50 Fragen dieser Anlage handelt, überhaupt und ggf. in welcher (eindeutigen oder missverständlichen, vollständigen oder verkürzten) Weise vorgelesen und/oder erläutert hat. Genauso wenig steht fest, wie genau die Klägerin gegebenenfalls auf diese Frage geantwortet hat und warum dies zu der letztlich dokumentierten Dateneingabe geführt hat. Zu konstatieren ist allerdings, dass die Klägerin schon in ihrer schriftlichen Anhörung im Verwaltungsverfahren, bei der sie die Richtigstellung der Rentenhöhe für die Zukunft zunächst noch akzeptiert hatte, dieselben in sich konsistenten und plausiblen (s.o.) Angaben gemacht hatte wie im weiteren Verlauf des Verfahrens. Unmittelbar nachdem sie den Bearbeitungsfehler der Beklagten durch eine Akteneinsicht erkannt hatte, erweiterte sie ihren Widerspruch auch auf die laufende Rente, ohne an ihrem eigenen Vorbringen zum Hergang etwas zu ändern. Für die Annahme einer Schutzbehauptung ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte. Gleichzeitig sind weitere Fehlerquellen denkbar, die erklären können, dass das Vorbringen der Klägerin („Keine außer meiner Altersrente“) zutrifft und dennoch alle Fragen der Anlage R0660 als verneint aktenkundig wurden. Konkret lassen sich auf 5 Ebenen der elektronischen Antragsaufnahme in persönlicher Vorsprache der Klägerin mögliche Fehlerquellen identifizieren, nämlich (1) beim unvollständigen oder missverständlichen Fragen durch die Mitarbeiterin Frau W1, (2) beim Verstehen der Frage durch die (z.B. hörgeschädigte) Antragstellerin, (3) beim (z.B. undeutlichen oder leisen) Antworten der Antragstellerin, (4) beim (z.B. durch Störgeräusche beeinträchtigten) Hören und (z.B. aufgrund Ablenkung oder mangelnder Dialektkenntnis) Verstehen der den Antrag aufnehmenden Person sowie (5) bei deren händischer Eingabe des von ihr subjektiv Verstandenen in die EDV. Bei der hier relevanten Anlage R0660 kommt noch erschwerend hinzu, dass das elektronische Antragsverfahren im Zusammenhang dieser Anlage kein Freitextfeld für individuelle Erklärungen vorsieht (vgl. Angaben der Beklagten im Erörterungstermin vom 03.06.2022). Ein solches gebe es nur abschließend ganz am Ende. Es wäre der antragsaufnehmenden Mitarbeiterin Frau W1 also nicht einmal möglich gewesen, den Wortlaut einer solchen Aussage der Klägerin an dieser Stelle des Antragsverfahrens zu vermerken. Wenn die Klägerin also erklärt haben sollte „Keine außer meiner Altersrente“, so liegt es nahe, dass Frau W1 bei dieser Anlage alle Antworten auf „Nein“ gesetzt und die Zusatzerklärung der Klägerin bestenfalls für das erst zum Schluss ausfüllbare Freitextfeld vorgesehen, dann aber wieder vergessen oder schlimmstenfalls von vornherein (mangels unmittelbarer Möglichkeit, die Angabe aufzunehmen) ignoriert hat.

Diese Defizite in der Gestaltung des elektronischen Antragsverfahrens vor allem im Vergleich zu einer konventionellen Antragstellung auf Papierformularen konnte der Klägerin nicht bewusst sein. Es ist daher auch nicht davon auszugehen, dass die Klägerin wusste oder hätte wissen können, dass eine solche Erklärung („Keine außer meiner Altersrente“) nicht unmittelbar aufgenommen werden kann und dadurch Gefahr lief, aus dem Blick zu geraten oder falsch aufgenommen zu werden. Diese potentielle Fehlerquelle ist ein im elektronischen Antragsverfahren unmittelbar angelegtes und damit von der Beklagten zu verantwortendes Defizit. Bei konventioneller Antragstellung über ein Papierformular hätte sich ein Sachverhalt wie der von der Klägerin schlüssig dargestellte so zugetragen, dass die Frage nach anderem Einkommen pauschal verneint und mit dem handschriftlichen Vermerk „außer meiner Altersrente“ hätte versehen werden können. Diese Möglichkeit war der Klägerin und der antragsaufnehmenden Mitarbeiterin Frau W1 durch die Gestaltung des elektronischen Antragsverfahrens verwehrt. Das evtl. Versäumnis, die individuelle Angabe der Klägerin zumindest am Ende des Antrags in einem Freitextfeld aufzunehmen, wäre ein Fehler im Verantwortungsbereich der Beklagten, weil es sich bei der Mitarbeiterin des Bürgeramts Frau W1 nicht um eine von der Klägerin ausgewählte und bevollmächtigte Hilfsperson handelt, sondern um eine der Beklagten zuzurechnenden Person (vgl. unten c).

Ob sich eine oder mehrere dieser Fehlerquellen verwirklicht haben, ist nicht feststellbar. Fest steht indes, dass keine Anhaltspunkte bestehen, die die Darstellung der Klägerin in Zweifel ziehen oder gar widerlegen würden. Vielmehr ist bei einer lebensnahen Betrachtung des Geschehens plausibel und wahrscheinlich, dass sich die Dinge so zugetragen haben, wie von der Klägerin dargestellt. Demnach war die Klägerin, die sich nur einen Monat nach dem Versterben ihres Ehemanns neben der Trauerbewältigung und allem anderen Organisatorischen nun auch der Beantragung der Hinterbliebenenrente widmen wollte, sogar bestrebt, nichts verkehrt zu machen. So habe sie sich gerade deshalb und im Vertrauen auf die damit einhergehende Unterstützung dafür entschieden, den Antrag nicht allein, sondern im Rahmen einer persönlichen Vorsprache im Bürgeramt zu stellen. Die Vorstellung, dass die Klägerin sich die mit dieser Art der Antragstellung einhergehenden Besonderheiten sogar hätte zu Nutze machen wollen, um gegenüber der Beklagten ausgerechnet eine ebenfalls von der Beklagten bezogene Altersrente zu verschweigen, erscheint dagegen lebensfremd. Denn dass der Beklagten im weiteren Verlauf der Fehler unterlaufen würde, bei der Berechnung der beantragten Rente die weitere bereits laufende Rente zu übersehen, ist alles andere als vorhersehbar.

c) Etwaige Fehler bei der Antragsaufnahme und Eingabe in die EDV durch die Mitarbeiterin der Rentenantragstelle des Bürgeramts der Stadt F1 wären der Klägerin nicht zuzurechnen (vgl. BSG, Urt. v. 29.10.1991 – 13/5 RJ 38/89, dort zum Verwaltungsbeamten im Versicherungsamt). Denn anders als bei einem Bevollmächtigten oder einem rechtlichen Betreuer des Versicherten stehen Mitarbeiter in den Rentenantragstellen der Bürgerämter der Gemeinden nicht „im Lager“ der antragstellenden Versicherten, sondern in demjenigen der Rentenversicherungsträger. Für eine Zurechnung von Verschulden dieser Mitarbeiter an die Antragsteller fehlt nicht nur eine gesetzliche oder rechtsgeschäftliche Grundlage, so dass Regelungen der Wissens- und Verschuldenszurechnung (§ 166, § 278 BGB) ausscheiden, sondern der Versicherte hat auch keinerlei Möglichkeit, die Auswahl der antragaufnehmenden Person zu beeinflussen. Ein etwaiges Verschulden dieser Personen kann daher auch nicht auf ein Auswahlverschulden des Versicherten gestützt werden.

3. Die Klägerin hat die Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung vom 15.07.2016 gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X weder erkannt noch grob fahrlässig verkannt. Der Senat stellt dies anhand des beiderseitigen Vorbringens, der im Bescheid vom 15.07.2016 enthaltenen Informationen und der übrigen aktenkundigen Umstände fest.

a) Der Prüfungsmaßstab für die Feststellung einer nicht nur einfachen, sondern groben Fahrlässigkeit ist, ob sich die Rentenbewilligung aus der Sicht der Klägerin als unplausibel erweisen konnte und musste. Es oblag ihr dagegen keineswegs, den Bescheid auf Richtigkeit zu prüfen (so noch die Gründe des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2020). Dass es dem Begünstigten eines Rentenbescheids obliegt, den Bescheid (nur) auf innere Plausibilität zu prüfen, wendet die Beklagte mit ihrer Berufungsbegründung unter Verweis auf die Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg (Urteile vom 16.02.2021 – L 13 R 1927/20 und 01.02.2010 – L 4 R 3304/08) im Ansatz zutreffend ein (vgl. oben). Hierbei kommt es allerdings – was die Berufungsbegründung nicht ausreichend würdigt – auf den konkreten Empfängerhorizont an. Über weitere Informationen als diejenigen, die sich aus dem Bewilligungsbescheid selbst ergeben, verfügte die Klägerin nicht. Anderes ist jedenfalls nicht ersichtlich und wird auch von der Beklagten nicht vorgetragen (vgl. deren Angaben im Erörterungstermin vom 03.06.2020, Protokoll Seite 3). Auf Seite 4 des Bewilligungsbescheids vom 15.07.2016 ist der oben (S. 4) wörtlich zitierte Hinweis zur Anrechnung von Einkommen und Erwerbsersatzeinkommen enthalten. Der Hinweis ist ergebnisoffen formuliert („kann Einfluss haben“), ohne darauf einzugehen, welche Umstände (d.h. insbesondere das Überschreiten welches Freibetrags) die Rente dem Grunde nach überhaupt reduzieren würden und gegebenenfalls in welchem Umfang. Wer diesen „Kann“-Hinweis vollständig und gewissenhaft liest, kann nicht davon ausgehen, dass ein anderes Einkommen dem Grunde nach zwingend zu einer Reduzierung der Rentenhöhe führt. Die Klägerin brauchte dies lediglich in Betracht zu ziehen. Die tatsächliche Bewilligung einer Großen Witwenrente von hier anfangs rd. 180,- € lässt deren Fehlerhaftigkeit angesichts einer zugrundeliegenden Altersrente des verstorbenen Ehemanns in Höhe von zuletzt 312,42 € auch in Kenntnis dieses vagen Hinweises (eindeutig) nicht offen zu Tage treten – im Gegenteil: Die als „Große“ Witwenrente titulierte Leistung war der Höhe nach nicht unplausibel. Offensichtlich falsch und damit unplausibel wäre etwa eine Hinterbliebenenrente, die die Höhe der zugrundeliegenden Versichertenrente übersteigt oder die einen offensichtlichen Zahlendreher enthält oder die durch eine Kommaverschiebung um den Faktor 10 überhöht wäre.

b) Dass präzisere Hinweise einen strengeren Prüfmaßstab ermöglichen, zeigt die bei Bewilligungsbescheiden von Erwerbsminderungsrenten übliche detaillierte Erläuterung der Hinzuverdienstgrenzen.
Dem von der Beklagten mit Schriftsatz vom 02.06.2021, Seite 3, zitierten und mit Schriftsatz vom 08.07.2022 vorgelegten unveröffentlichten Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12.07.2017 – L 4 R 438/16 lag eine solche Erwerbsminderungsrente zugrunde, bei deren Bewilligung unter Verweis auf eine beigefügte Anlage präzise erläutert wurde, innerhalb welcher Hinzuverdienstgrenzen Einkünfte in welcher Höhe mindernd angerechnet werden (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a.a.O, Seite 3, Senatsakte Blatt 104). Dem dortigen Versicherten war es daher möglich, selbst nachzurechnen, ob sein Zuverdienst hätte angerechnet werden müssen oder nicht und in welcher Höhe. Davon kann bei dem vorliegenden sehr allgemeinen und ergebnisoffenen Hinweis keine Rede sein.

c) Mit ihrem Verweis auf das Urteil des Hessischen LSG vom 30.01.2015, Az. L 5 R 390/12, in dem es ebenfalls um das Zusammentreffen einer Witwenrente und einer Altersrente und deren fehlerhaft unterbliebene Anrechnung geht, übersieht die Beklagte grundlegende Unterschiede des dort entschiedenen Sachverhalts zu dem vorliegenden und stützt sich auf einen nicht tragenden Teil jener Entscheidungsgründe (obiter dictum).

Der vom Hessischen LSG a.a.O. entschiedene Sachverhalt unterscheidet sich vom vorliegenden vor allem dadurch, dass dort eine Hinterbliebenenrente rechtmäßig bewilligt und erst aufgrund einer nachträglich hinzugetretenen Altersrente aufgehoben wurde. Tragende Rechtsgrundlage der Aufhebung war dementsprechend die ein Verschulden gar nicht vorsehende Regelung in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X (vgl. dazu die ggü. der Vorinstanz klarstellende Hervorhebung im Urteil des Hessischen LSG, a.a.O., juris, Rn. 54). Ein grob fahrlässiges Verkennen der Rechtswidrigkeit (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4) hat das Hessische LSG deshalb ausdrücklich offengelassen (a.a.O., Rn. 57). Die stark verkürzte Wiedergabe jener Entscheidung im Schriftsatz der Beklagten vom 08.07.2022 lässt unerkannt, dass es sich bei den auszugsweise zitierten Gründen nur um ein obiter dictum handelt. Soweit das Hessische LSG zusätzlich (a.a.O. Rn. 58 ff.) eine grob fahrlässig unterbliebene Mitteilung des später hinzugetretenen Einkommens als weitere Rechtsgrundlage (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) für die Aufhebung angenommen hat, handelt es sich um einen andersartigen Sachverhalt. Die insoweit vom Hessischen LSG behandelten Rechtsfragen (a.a.O. Rn. 58 ff.) betreffen die hier maßgebliche Frage, ob die im Bewilligungsbescheid enthaltenen Hinweise geeignet sind, ein grob fahrlässiges Verkennen der (anfänglichen) Rechtswidrigkeit zu begründen, überhaupt nicht. Die für die Beurteilung grober Fahrlässigkeit wichtige Unterscheidung zwischen dem Hinzutreten eines ganz neuen Einkommens und einer bloßen Veränderung eines von Anfang an vorhandenen Einkommens hat auch der dort beklagte Rentenversicherungsträger mit seiner Klageerwiderung betont und angemerkt, dass eine Mitteilung von Veränderungen – wie bereits im Bewilligungsbescheid erläutert – unterbleiben könne, wenn die Änderung nur einen bereits bekannten Rentenbezug betreffe (z.B. Rentenanpassungen), nicht aber eine erstmalige Neubewilligung einer Rente (Hessisches LSG, a.a.O., juris, Rn. 25). Dieser Differenzierung schloss sich auch das Hessische LSG an (a.a.O. Rn. 61). Vorliegend geht es jedoch nicht darum, dass bei der Betroffenen erst nach Erhalt des im Bewilligungsbescheid enthaltenen Hinweises ein neues Einkommen hinzugetreten wäre, welches mitzuteilen die Klägerin (dann) unterlassen hätte mit der Folge, dass auf diese nachträgliche Unterlassung ein grob fahrlässiges Verkennen der rechtswidrig gewordenen Bewilligung gestützt werden könnte. Vielmehr geht es hier um eine anfängliche Rechtswidrigkeit und die Frage, ob die Klägerin dies grob fahrlässig verkannt hat. Nach Erhalt des „Kann“-Hinweises im Bewilligungsbescheid vom 15.07.2016 hat sich am Einkommen der Klägerin nichts Wesentliches mehr geändert, was ihr hätte Veranlassung geben können, bei der Beklagten nachzufragen oder eine Mitteilung zu machen. Gemäß der plausiblen und nicht widerlegten Darstellung der Klägerin (s.o.) hatte sie von Anfang an auf ihre seit Jahren bezogene Altersrente hingewiesen. Bei Erhalt des „Kann“-Hinweises im fehlerhaften Bewilligungsbescheid konnte sie folglich davon ausgehen, dass ihre Altersrente bereits berücksichtigt ist, wenn auch im Ergebnis ohne ersichtliche Auswirkung auf die Rentenhöhe. Dieses Ergebnis ist vom „Kann“-Hinweis mitumfasst und daher nicht unplausibel.

d) Soweit die Beklagte anführt, dass aus dem Fehlen einer Anlage zur Einkommensanrechnung für die Klägerin ersichtlich gewesen sei, dass die Rentenberechnung unvollständig gewesen sei, ist zu beachten, dass hierfür der Empfängerhorizont und nicht das übliche Wissen eines bei der Beklagten tätigen Sachbearbeiters maßgeblich ist. Als erstmalige Bezieherin einer Hinterbliebenenrente hatte die Klägerin kein Erfahrungswissen über die Anzahl und den Inhalt der zu einem vollständigen Hinterbliebenenrentenbescheid gehörenden Anlagen. Auch das im Bescheid vom 15.07.2016 enthaltene Inhaltsverzeichnis der Anlagen gibt dazu keine Auskunft (VA, 1. Teilband, nicht pag.). Dass auch eine „Null-Berechnung“, die auf die Rentenhöhe keine ergebnisrelevante Auswirkung hat, als eigenständige Anlage hätte beigefügt werden müssen, drängt sich nicht auf. Die Klägerin musste ausgehend von dem ihr verfügbaren Wissen nicht allein aus dem Fehlen einer weiteren Anlage den Schluss ziehen, dass die Rentenberechnung fehlerhaft ihre Altersrente unberücksichtigt ließ. Ausgerechnet aus der geringen Kenntnis der Klägerin von rentenrechtlichen Zusammenhängen in Verbindung mit der fehlenden Aufklärung über Freibeträge im Bewilligungsbescheid schließen zu wollen (so die Beklagte mit Schriftsatz vom 08.07.2022, Seite 2), dass die Klägerin erst recht habe erkennen müssen, dass die Rentenberechnung fehlerhaft war, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Die Klägerin konnte und musste nicht wissen, mit welchen Anlagen ein solcher Bescheid vollständig ist (s.o.) und brauchte wegen des Fehlens einer Anlage über die (Nicht)Anrechnung der Altersrente daher nicht stutzig zu werden. Sie konnte vielmehr davon ausgehen, dass die Altersrente gerade deshalb keine weitere Erwähnung fand, weil sie nach Prüfung durch die Beklagte im Ergebnis nicht anzurechnen ist.

4. Nichts Anderes folgt aus der übrigen von der Beklagten zur Begründung ihrer Rechtsauffassung zitierten Rechtsprechung.

a) Der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 29.03.2017, Az. L 2 R 4019/16, lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein Versicherter bei der Antragstellung (unstreitig) den Bezug einer Auslandsrente verschwiegen hat. Der mit der Rentenbewilligung verbundene Hinweis, dass Renten, auch Auslandsrenten mitzuteilen seien, reiche aus – so das LSG a.a.O. – um ein grob fahrlässiges Verkennen der Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung zu begründen. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von jenem dadurch, dass vorliegend erstens nicht feststellbar ist, ob die Klägerin den Bezug ihrer Altersrente tatsächlich verschwiegen oder zutreffend (mündlich) angegeben hat und lediglich Fehler, die von der Beklagten zu verantworten wären, zu der Fehlinformation geführt haben und dass es sich zweitens hier um zwei Renten ein- und desselben inländischen Rententrägers handelt. Ein typischer Versicherter dürfte in einem Fall wie dem vorliegenden anders als in jenem Fall einer Auslandsrente davon ausgehen, dass einem inländischen Rententräger die von ihm an einen Versicherten laufend gewährten Leistungen bekannt sind bzw. automatisiert angezeigt werden und daher nicht übersehen werden können.

b) Soweit die Beklagte unter Verweis auf das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 21.04.2008, Az. L 3 AL 34/05 davon ausgeht, dass die Klägerin die Beweislast dafür trage, dass sie entgegen den Antragsunterlagen vollständige Angaben gemacht habe, ist klarzustellen, dass jene Entscheidung auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar ist. In jener Entscheidung wurde ein vom Antragsteller zu verantwortendes Fehlverhalten bei der Mitteilung leistungserheblicher Angaben festgestellt und für alles Weitere vorausgesetzt (vgl. der von der Beklagten im Schriftsatz vom 02.06.2021, Seite 2, zitierte Entscheidungsauszug). Ein solches Fehlverhalten ist vorliegend streitig und lässt sich gerade nicht feststellen. Eine etwaige Fehlangabe der Klägerin wäre im Übrigen unter den Besonderheiten, die die elektronische Antragstellung im Dialog mit einer Mitarbeiterin der Rentenantragstelle mit sich bringt, auch nicht sicher als grob fahrlässig zu beurteilen, da die Klägerin, wie gezeigt, bei der Abgabe ihrer Unterschrift keine geeignete Möglichkeit hatte, ihre Antworten zur Anlage R0660 auf Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen. Falls ein Verständnis- oder Eingabefehler auf Seiten der Mitarbeiterin der Rentenantragstelle erfolgt ist, was nach Überzeugung des Senats nicht weniger wahrscheinlich ist, als dass der Klägerin ein Erklärungsfehler unterlaufen ist, dann wäre dieser Fehler sogar nur von der Beklagten zu vertreten, die sich ein Verschulden der in den kommunalen Rentenantragstellen tätigen Beschäftigten wie eigenes zurechnen lassen muss (s.o.).


II. Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist im Übrigen, wie das SG im Ergebnis zutreffend festgestellt hat, auch deshalb rechtswidrig, weil sie an Ermessensfehlern leidet. Auf die Gründe des angefochtenen Urteils wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen. Ergänzend weist der Senat lediglich auf Folgendes hin:

Soweit die Beklagte ihre ohne Berücksichtigung des Mitverschuldens ausgeübte Ermessensausübung mit einem Verweis auf das Urteil des BSG vom 30.10.2013 (B 12 R 14/11 R) rechtfertigt, ist festzustellen, dass die Beklagte vorliegend nicht nur einen durchschnittlichen und in einer Massenverwaltung kaum zu vermeidenden „normalen“ bzw. „einfachen“ Fehler begangen hat, der hinter einer (vorliegend streitigen) groben Fahrlässigkeit auf Seiten des Versicherten vollständig zurücktreten würde, wie das BSG a.a.O. entschieden hat. Im Gegenteil ist aus der beigezogenen Verwaltungsakte abzuleiten, dass der Sachbearbeiterin der Beklagten ein atypischer Fehler unterlaufen ist, wie es offenbar auch der Widerspruchsausschuss der Beklagten in seiner ersten Sitzung und eine Sachbearbeiterin der Beklagten mit ihrem Abhilfevorschlag noch nach Erlass des Widerspruchsbescheids vertreten haben. Denn mit einem handschriftlichen (also individuell verfassten) Verweis auf die Aktenseiten 34 bis 39 hat die Sachbearbeiterin Frau S2 vermerkt, das Versichertenkonto anhand dieser gerade einmal 6 Aktenseiten (also sehr überschaubar und konkret) geprüft zu haben. Auf einer dieser 6 konkret und individuell benannten und geprüften Aktenseiten (Blatt 37) befindet sich die kaum übersehbare Information zur Altersrente der Klägerin einschließlich deren Zahlbetrags. Ob die darüber hinaus vorhandene Hervorhebung mit einem Textmarker erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt oder bereits bei der Prüfung durch die Sachbearbeiterin S2 vorhanden war oder sogar von ihr selbst vorgenommen wurde, bedarf für die Qualifizierung des Bearbeitungsfehlers als ein nicht „normaler“ Fehler keiner weiteren Prüfung. Im Übrigen steht auf Seiten der Klägerin anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall wie gezeigt gerade nicht fest, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Jenes BSG Urteil ist auf den vorliegenden Sachverhalt daher nicht übertragbar.

Auch aus dem von der Beklagten mit Schriftsatz vom 02.06.2021, Seite 3, in diesem Zusammenhang zitierten und mit Schriftsatz vom 08.07.2022 vorgelegten unveröffentlichten Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12.07.2017 – L 4 R 438/16 lässt sich nicht ableiten, dass es sich vorliegend nur um einen „einfachen“ bzw. „normalen“ Fehler der Beklagten handle, der hinter einer groben Fahrlässigkeit des Versicherten zurücktrete. Denn in jener Entscheidung ging es um eine Erwerbsminderungsrente und die Anrechnung von Hinzuverdienst gemäß den geltenden Hinzuverdienstgrenzen. Anders als der Hinweis im vorliegend streitbefangenen Hinterbliebenenrentenbescheid erläuterte jener Erwerbsminderungsrentenbescheid unter Verweis auf eine beigefügte Anlage präzise, innerhalb welcher Hinzuverdienstgrenzen Einkünfte in welcher Höhe mindernd angerechnet werden (vgl. oben I. 3. b). Dem dortigen Versicherten war es demnach leicht möglich nachzuvollziehen, ob und wie sein Zuverdienst hätte angerechnet werden müssen.


Zur Vollständigkeit weist der Senat angesichts der nur auszugsweisen Wiedergabe des Urteils des Hessischen LSG vom 30.01.2015, Az. L 5 R 390/12 im Schriftsatz der Beklagten vom 08.07.2022 noch auf Folgendes hin: Abgesehen davon, dass die in der Person des Versicherten begründeten Umstände dort und hier grundverschieden und eine Übertragung der dort nur als obiter dictum formulierten Überlegungen zu einem grob fahrlässigen Verkennen der Rechtswidrigkeit auf den vorliegenden Fall damit ausscheidet (s.o. I. 3. c), enthält jenes Urteil weitere, von der Beklagten nicht vorgetragene Umstände und Ausführungen, die der Rechtsauffassung der Beklagten entgegenstehen. Ausgehend von einem nahezu identischen Bearbeitungsfehler wie hier nahm der dortige Rentenversicherungsträger im Rahmen einer Ermessensausübung wegen seines Mitverschuldens eine Reduzierung der Aufhebung und Rückforderung auf die Hälfte vor. Dies geschah sogar unter der dort einschlägigen Rechtsgrundlage § 48 SGB X, die eine Ermessensausübung anders als der hier einschlägige § 45 SGB X überhaupt nur in atypischen Fällen erfordert („soll…“). Das Hessische LSG bezweifelte zwar einen solchen atypischen Fall (a.a.O., Rn. 68-70), bestätigte aber letztlich, dass Ermessen auszuüben war und beanstandete nicht, dass der dortige Rentenversicherungsträger die Aufhebung und Rückforderung wegen seines Mitverschuldens auf die Hälfte reduzierte (a.a.O., Rn. 73).

III. Mit der Rechtswidrigkeit der Aufhebungsentscheidung entfällt auch die für die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X erforderliche Grundlage. Sie ist daher ebenfalls rechtswidrig.

IV. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die in
§ 48 Abs. 3 SGB X vorgesehene Regelung zu einem allmählichen Abschmelzen des fehlerhaften Teils der Hinterbliebenenrente führt. Nach dieser Vorschrift bleiben Änderungen zugunsten des Betroffenen, wie hier vor allem die jährlich zu erwartenden Rentenanpassungen, solange außer Betracht, bis die der Höhe nach rechtswidrig bewilligte Leistung wieder die objektiv rechtmäßige Höhe erreicht.

V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

VI. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) im Hinblick auf die Besonderheiten einer elektronischen Rentenantragstellung in persönlicher Vorsprache bei einer Rentenantragstelle für den Nachweis einer groben Fahrlässigkeit des Antragstellers zugelassen.

 

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