Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 09. März 2021 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Verletztenrente.
Der im Jahr 1961 geborene Kläger hat den Beruf des Heizungsmonteurs erlernt. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Heizungs- und Sanitärinstallateur bei der Firma “F Heizung, Lüftung, Sanitär“ erlitt der Kläger am 10. Oktober 2013 einen Unfall. Der Kläger beabsichtigte, ein etwa 15 m langes und 15 kg schweres Kaminrohr zu installieren. Dies wurde an einer Seilwinde hochgezogen und fiel dann aus ca. 3 m Höhe auf die rechte Hand des Klägers. In der Rettungsstelle stellte der Durchgangsarzt Prof. Dr. H am Handrücken eine Sehnendurchtrennung der Fingerextensoren, eine Schnittwunde palmar über dem Grundglied des Ringfingers und über dem Grund- und Mittelglied des Kleinfingers fest, einen Hinweis auf Nervenläsionen sah er nicht. Der Kläger wurde vom 10. bis zum 16. Oktober 2013 in der C stationär behandelt und die Verletzung wurde durch Strecksehnennähte operativ versorgt. Im Zwischen- und Entlassungsbericht der C wird ausgeführt, dass die Durchblutung, Motorik und Sensibilität zu jeder Zeit voll erhalten gewesen seien. Bei den nachfolgenden Vorstellungen des Klägers am 19. und 21. Oktober 2013 wurde eine Beinvenenthrombose im Unterschenkel rechts festgestellt. Es erfolgte eine physiotherapeutische Behandlung der Hand, wobei sich der Heilungsverlauf insbesondere aufgrund von Schwellungen und Ödemen verzögert gestaltete. Der Kläger war bis zum 16. Februar 2014 arbeitsunfähig. Eine am 04. April 2014 durchgeführte MRT-Untersuchung der rechten Hand des Klägers ergab eine in Kontinuität abgrenzbare, narbig kaliberverstärkte Sehne des Musculus extensor pollicis longus und der Strecksehne D II/ D III, einen Erguss im Carpus, eine diskrete Tendovaginitis der Beugesehne D V sowie eine fortgeschrittene Arthrose des Daumengrundgelenks mit subchondralen Erosionen.
Im von dem Facharzt für Orthopädie und Handchirurgie Dr. H sowie dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Prof. Dr. E nach körperlicher Untersuchung des Klägers am 02. Dezember 2014 erstellten Ersten Rentengutachten werden eine Faustschlussstörung der rechten Hand (Zeige- und Mittelfinger), eine Minderung der groben Kraft der rechten Hand, eine Narbenbildung am Handrücken mit Schwellungsneigung, eine Störung des Feingriffs sowie eine leichte Störung der Abspreizung des rechten Daumens mit Minderung der Handspanne rechts festgestellt. Die tiefe Beinvenenthrombose im Unterschenkel, die indirekte Folge des Unfalls sei, habe aktuell zu keinen Funktionsstörungen geführt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde für die Zeit ab dem 17. Februar 2014 auf 20 vom Hundert (v. H.) geschätzt und eine erneute Begutachtung für 2016 empfohlen.
Die Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 12. Februar 2015 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. Oktober 2013 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. mit Wirkung ab dem 17. Februar 2014. Als Folgen des Arbeitsunfalls erkannte die Beklagte folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen an: Streckdefizit des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand sowie fehlender Faustschluss aufgrund Bewegungseinschränkung der Grundgelenke dieser beiden Finger nach Naht der Strecksehnen; leichte Störung der Abspreizbewegung des rechten Daumens; Muskelverschmächtigung des Ober- und Unterarmes rechts; Steifigkeit der Hand bei Störung der Feinmotokrik und Minderung der groben Kraft; Minderung der Handspanne sowie belastungsabhängige Verschwellung bei Narbenbildung auf dem rechten Handrücken; abgelaufene tiefe Beinvenenthrombose des rechten Unterschenkels.
Im Durchgangsarztbericht der Fachärztin für Allgemeinchirurgie Dr. Z vom 13. Juli 2015 werden eine nach Belastung zunehmende Schwellneigung, Schmerzen und Wetterfühligkeit berichtet. Die Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie J, Dr. H und Prof. Dr. E kommen in ihrem am 06. Juli 2016 aufgrund der Untersuchung des Klägers vom 31. Mai 2016 erstellten Zweiten Rentengutachten zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolgen noch eine reizfreie, langstreckig quer verlaufende Narbe über dem gesamten Handrücken, ein inkompletter Faustschluss, eine unvollständige Streckung des Zeige- und Mittelfingers, eine eingeschränkte Beweglichkeit in den Grundgelenken des Zeige- und Mittelfingers, eine eingeschränkte Beweglichkeit am Daumenendgelenk, eine reduzierte Abspreizbewegung des Daumens in der Handebene sowie rechtwinklig, Missempfindungen am Handrücken in Höhe der Grundgelenke der Finger II bis V sowie zwischen Daumen und Zeigefinger, eine reduzierte Empfindung beim Schreibgriff, eine reduzierte Grob- und Feinkraft sowie ein Röntgenbefund mit beginnender Arthrose am Daumengrundgelenk vorliegen würden. Die Strecksehnen am Daumen, Zeige- und Mittelfinger seien intakt. Der Faustschluss rechts war inkomplett mit einem Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand der Langfinger 2 bis 5 von 3/2,5/0/0cm. Auch eine vollständige Streckung der Langfinger konnte nicht erreicht werden mit einem Abstand vom Nagelrand zur verlängerten Handrückenebene der Finger 2 bis 5 von 0,5/0,5/0/0 cm. Die Einschränkung der Beugung des rechten Daumens im Endgelenk betrug im Seitenvergleich ca. 15° sowie bei der Abspreizung in der Handebene und rechtwinklig zur Handebene ca. 10 bis 15°, die Langfingerkuppen der rechten Hand konnten durch den Daumen problemlos berührt werden. Die Handspanne betrug auf der rechten Seite 23 cm und auf der linken Seite 23,5 cm. Die Bewegungseinschränkung der beiden Langfinger zwei und drei bestand vordergründig in den Grundgelenken der beiden Finger. Am Zeigefinger betrug die Extension/Flexion im Grundgelenk 0/10/60°, während sie im Mittel- und Endgelenk nahezu physiologisch war. Beim Mittelfinger war die Beweglichkeit im Grundgelenk ebenfalls bei frei beweglichem Mittel- und Endgelenk mit einer Extension/Flexion von 0/10/70° reduziert. Die Zweipunkte-Diskrimination ergab an allen Fingerkuppen physiologische Werte. Am Handrücken fand sich eine Hypästhesie im Areal von den Grundgelenken vom Zeige- bis zum Kleinfinger zur Furche zwischen Daumen und Zeigefinger streckseitig. Unfallunabhängig bestehe unter anderem eine Arthrose im Daumengrundgelenk. In Zusammenschau der Befunde schätzten die Fachärztin J, Dr. H und Prof. Dr. E nach abgeschlossener Gewöhnung und Anpassung die MdE dauerhaft auf 10 v. H.. Wesentliche Änderungen seien im weiteren Verlauf nicht mehr zu erwarten.
Nach entsprechender Anhörung des Klägers durch Schreiben vom 02. September 2016 entzog die Beklagte ihm mit Bescheid vom 22. September 2016 die Rente ab dem 01. Oktober 2016 und lehnte die Gewährung einer Verletztenrente auf unbestimmte Zeit ab. Als Folge des Arbeitsunfalls erkannte die Beklagte folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen an: Streckdefizit des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand bei fehlendem Faustschluss aufgrund Bewegungseinschränkung der Grundgelenke dieser beiden Finger sowie am Daumenendgelenk nach unter Narbenbildung verheilter Naht der Strecksehnen; leichte Störung der Abspreizbewegung des rechten Daumens; Störung der Greiffunktion, insbesondere des Feingriffs bei belastungsabhängiger Verschwellung. Zur Begründung stützte sie sich im Wesentlichen auf das Gutachten vom 06. Juli 2016. Da der Bescheid zunächst nicht zugestellt werden konnte, übersandte die Beklagte dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 05. Oktober 2016 den Bescheid erneut und führte darin aus, dass, weil der Bescheid nicht mehr im September zugestellt worden sei, gem. § 73 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) die Unfallrente erst zum 01. November 2016 entzogen werde. Dieses Schreiben und der Bescheid vom 22. September 2016 wurden dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers am 10. Oktober 2016 zugestellt. Widerspruch wurde gegen den Bescheid nicht erhoben.
Nach dem Durchgangsarztbericht der Dr. Z vom 08. August 2017 stellte sich der Kläger dort vor, weil ihm Gegenstände aus der Hand fielen und die gesamte Hand und Finger geschwollen waren. In dem von der Beklagten von dem Facharzt für Neurologie Dr. S und der Fachärztin für Neurologie Dr. J eingeholten neurologischen Befundbericht vom 18. September 2017 wurden eine leichte Druckschädigung des Nervus medianus im Karpaltunnel sowie eine Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis ab Handrücken bis nach distal ziehend festgestellt.
Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 21. Juni 2018 die Rücknahme des Bescheides vom 22. September 2016. Er rügte, dass der Bescheid nicht ausreichend begründet sei. Die Beklagte hätte sich mit den Inhalten des Ersten und des Zweiten Rentengutachtens auseinandersetzen müssen, ein Verweis auf das Ergebnis des Gutachtens vom 06. Juli 2016 genüge nicht. Auch ergebe sich aus diesem Zweiten Rentengutachten nicht, worin die wesentliche Besserung gegenüber der ersten Begutachtung bestehen solle. Die Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Februar 2019 ab und wies den hiergegen gerichteten der Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 2019 zurück.
Der Kläger hat mit seiner am 23. Mai 2019 beim Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klage sein Begehren auf Gewährung einer Verletztenrente auf unbestimmte Zeit ab dem 01. November 2016 weiterverfolgt. Er hat sich weiter darauf berufen, dass der Ablehnungsbescheid vom 22. September 2019 nicht die Mindestanforderungen, die nach § 35 Abs. 1 Satz 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) an eine Begründung zu stellen seien, erfülle. Es fehle an einer eigenen Entscheidung der Beklagten zur Höhe der MdE. Aus dem in Bezug genommenen Zweiten Rentengutachten vom 06. Juli 2016 ergebe sich kein Unterschied zu den Feststellungen des Ersten Rentengutachtens. Seit dem Unfall habe er eine Narbe auf dem rechten Handrücken und die Hand schwelle von Zeit zu Zeit an. Erst durch notwendige Ergotherapie könne das Wasser wieder aus der Hand entweichen. Wegen des Narbengewebes könne er seine Hand nicht mehr vollständig zur Faust schließen. Die rechte Hand sei auch dicker als die linke und während der Arbeit fielen ihm Schraubenzieher und Zangen o. ä. Gegenstände einfach so aus der Hand, ohne dass er es bemerke. Er sei Rechtshänder, die Feinmotorik sei ihm nicht mehr möglich. Auch im Rahmen des gerichtlichen Gutachtens habe keine wesentliche Besserung der Befunde gegenüber dem Ersten Rentengutachten festgestellt werden können.
Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie hat darauf verwiesen, dass gemäß § 62 Abs. 2 SGB VII die MdE bei der Prüfung einer Rente auf unbestimmte Zeit völlig neu eingeschätzt werde. Ein Vergleich mit den Unfallfolgen bzw. der Höhe der MdE für die als vorläufige Entschädigung geleisteten Rente finde gemäß § 62 Abs. 2 SGB VII nicht statt.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. S vom 15. Januar 2020, das dieser aufgrund einer körperlichen Untersuchung des Klägers am selben Tag erstellt hat. Dr. S hat festgestellt, dass unfallbedingt noch Bewegungseinschränkungen des Zeige- und Mittelfingers am Grund- und Mittelgelenk mit Einschränkung des Faustschlusses, eine Narbenbildung mit Schwellneigung am Handrücken, eine leichte Kraftminderung der rechten Hand und eine Gefühlsminderung der rechten Hand bei Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis bestehen würden. Unfallunabhängig leide der Kläger an einer Arthrose im Grundgelenk des rechten Daumens mit leichter Funktionseinschränkung. Der Unfall sei die alleinige Ursache der Bewegungseinschränkungen des Zeige- und Mittelfingers sowie der Gefühlsstörungen und der Schwellneigung der rechten Hand. Die Einschränkungen der Beweglichkeit im Grundgelenk des rechten Daumens seien auf die unfallunabhängige Arthrose im Grundgelenk zurückzuführen. Eine wesentliche Verschlimmerung der Arthrose im Grundgelenk des Daumens sei durch den Unfall vom 10. Oktober 2013 nicht eingetreten. Nach Eintritt der Arbeitsfähigkeit ab dem 17. Februar 2014 sei die MdE mit 20 v. H. einzuschätzen. Es bestehe Übereinstimmung mit dem Ersten Rentengutachten vom 02. Dezember 2014. Eine wesentliche Besserung habe seit diesem Zeitpunkt nicht stattgefunden. Die Beweglichkeit der Grundgelenke und Mittelgelenke an Zeige- und Mittelfinger hätten im zeitlichen Verlauf eine leichte Verschlechterung erfahren. Die MdE sei daher fortlaufend auf 20 v. H. bis zum Zeitpunkt der Begutachtung und darüber hinaus festzulegen.
Die Beklagte hat hierzu mit Schriftsatz vom 02. Februar 2020 kritisch Stellung genommen und eine beratungsärztliche Stellungnahme des Facharztes für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. V vom 29. Januar 2020 eingereicht. Sie hat bemängelt, dass Dr. S lediglich einen Vergleich gegenüber dem Zustand bei der Gewährung der Rente als vorläufige Entschädigung vorgenommen habe. Dies sei jedoch im Falle der erstmaligen Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit nicht zulässig. Dr. V hat ausgeführt, dass die bei der Untersuchung vom 31. Mai 2016 im Gutachten vom 06. Juli 2016 dokumentierten Einschränkungen der Beweglichkeit des rechten Daumens, des Zeige- und Mittelfingers sowie die Kraftminderung und die Hypästhesie/-algesie des Handrückens lediglich eine MdE von 10 v. H. rechtfertigen würden. Das funktionelle Defizit sei keinesfalls mit einer Teilamputation des Zeige- und Mittelfingers rechts in Höhe der Mittelgelenke gleichzusetzen. Eine entsprechende Verletzung würde eine dauerhafte MdE von 20 v. H. rechtfertigen. Aufgrund der wesentlich gleichbleibenden Befunde im aktuellen Gutachten vom 15. Januar 2020 sei an einer MdE von 10 v. H. festzuhalten.
In seiner hierzu von SG eingeholten Stellungnahme vom 06. März 2020 hat Dr. S ausgeführt, dass von den Bewegungseinschränkungen sowohl die Endgelenke als auch die Mittelgelenke des Zeigefingers und Mittelfingers rechts betroffen seien. Soweit Dr. V annehme, dass die Befunde nicht mit einer Teilamputation des Zeige- und Mittelfingers gleichzusetzen seien, so seien keine direkten Vergleichstabellen bezüglich einer Schädigung, wie sie bei dem Kläger vorliegen, zu erkennen. Die Besonderheit ergebe sich aus der Kombination der Bewegungseinschränkungen, der Kraftminderung sowie der nachgewiesenen neurologischen Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis, woraus im Einzelfall eine MdE von 20 v. H. resultiere.
Das SG hat mit Urteil vom 09. März 2021 den Bescheid der Beklagten vom 22. September 2016 und den Bescheid vom 19. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2019 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Verletztenrente über den 01. November 2016 hinaus auf unbestimmte Zeit zu bewilligen.
Anspruchsgrundlage für die Rente sei § 56 SGB VII. Danach hätten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert sei, einen Anspruch auf Rente. Dabei bezeichne die MdE den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Versicherungsfalls bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Inwieweit ein Arbeitsunfall die körperlichen und geistigen Fähigkeiten eines Versicherten beeinträchtige, beurteile sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen, seien die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das Schrifttum herausgearbeitet hätten. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden würden, so bildeten sie doch die Grundlage einer gleichen und gerechten Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis. Diesen Maßstab zugrunde gelegt, gehe die Kammer vom Vorliegen einer rentenberechtigenden MdE aus. Sie stütze sich auf das Gutachten des Dr. S. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirkten, seien zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besäßen aber keine Bindungswirkung für das Gericht. Die Kammer halte die Bewertung von Dr. S für überzeugend. Dieser habe unter Bezugnahme auf die gutachterliche Literatur dargelegt, dass eine MdE von 20 v. H. als angemessen anzusehen sei. Es bestünden Bewegungseinschränkungen, eine Kraftminderung sowie die neurologisch nachgewiesene Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis. Der gutachterlichen Literatur, und dabei folge die Kammer dem Gutachter, sei keine derartige Kombination zur MdE-Bewertung zu entnehmen. Soweit Dr. V darauf verweise, dass die Schwere der Einschränkung nicht mit anderen Einstufungen der MdE von 20 v. H., z. B. der Teilamputation des Zeige- und Mittelfingers vergleichbar sei, sei Dr. S dem überzeugend entgegengetreten. So liege hier durchaus eine Gemengelage von Beeinträchtigungen samt neurologischer Schädigung vor, die durch die Kammer mit einer MdE von 20 v. H. bewertet werde.
Gegen das ihr am 12. März 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. März 2021 Berufung eingelegt. Sie meint, das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten vermöge hinsichtlich der MdE-Einschätzung nicht zu überzeugen. Gegenstand der Entscheidung vom 22. September 2016 sei nicht die Prüfung der Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 Abs. 1 SGB X, sondern eine vollkommen neue Feststellung von Unfallfolgen und der MdE ohne Bezug zu einer vorherigen Feststellung gewesen. Darauf, ob eine Besserung eingetreten sei, komme es daher nicht an. Als Vergleichsgrundlage seien die zitierten Erfahrungswerte aus der Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit 9. Auflage, S. 605 ff.) heranzuziehen. Beim kompletten Ausfall der zwei betroffenen Finger wäre die Greif- und Haltefunktion zweifellos erheblich und elementar eingeschränkt. Zudem spielten Anpassung und Gewöhnung auch hier eine wesentliche Rolle. Die physiologische Adaptation sei zu berücksichtigen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit 9. Auflage, S. 576). Aus der Einbeziehung der neurologischen Komponente resultiere keine Erhöhung der MdE. Die relevante Funktionsminderung der Hand bzw. der Finger ergebe sich schon aus dem chirurgisch-orthopädischen Fachgebiet, daher komme es zu einer Überschneidung mit den neurologischen Störungen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 09. März 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung sowie das von Dr. S erstinstanzlich erstellte Sachverständigengutachten. Diese stützten sich auf eine detaillierte körperliche und radiologische Untersuchung. Dr. S empfehle im Ergebnis eindeutig eine MdE von 20 v. H., weil das Rentengutachten vom 06. Juli 2016 keine nachvollziehbare medizinische Begründung enthalte, warum eine Reduktion von anfänglich 20 v. H. auf 10 v. H. gerechtfertigt sein könnte. Hinsichtlich der aktuellen Beschwerden fänden sich dort keine wesentlichen Abweichungen gegenüber dem Ersten Rentengutachten.
Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 01. Oktober 2021 (Kläger) und vom 13. September 2021 (Beklagte) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs.1, § 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheiden, nachdem sich alle Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Die gemäß § 151 SGG frist- und formgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
Das SG Berlin hat zu Unrecht der Klage stattgegeben, den Bescheid der Beklagten vom 22. September 2016 sowie den Bescheid vom 19. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2019 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Verletztenrente über den 01. November 2016 hinaus auf unbestimmte Zeit zu bewilligen. Das als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage auszulegende Begehren erweist sich als unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat die begehrte Rücknahme des Bescheides vom 22. September 2016 und die Gewährung einer Verletztenrente auf unbestimmte Zeit ab dem 01. November 2016 zu Recht abgelehnt.
1. Als Rechtsgrundlage für die von dem Kläger im Berufungsverfahren weiterverfolgte Aufhebung des Bescheides vom 22. September 2016, mit dem die als vorläufige Entschädigung gewährte Rente entzogen und die Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer abgelehnt wurde, kommt nur § 44 Abs. 1 SGB X in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Entziehung der als vorläufige Entschädigungsleistung gewährten Rente und die Ablehnung der Rente auf unbestimmte Zeit erweisen sich als materiell rechtmäßig (2.). Auch die Rüge des Begründungsmangels verpflichtete die Beklagte nicht zur Aufhebung ihres Bescheides vom 22. September 2016 (3.).
2. Die Ablehnung einer Verletztenrente ab dem 01. November 2016 begegnet keinen materiell-rechtlichen Bedenken. Weder hat die Beklagte ihrer Entscheidung einen unrichtigen Sachverhalt zu Grunde gelegt noch hat sie das Recht unrichtig angewandt.
Die Beklagte war gemäß § 62 Abs. 2 SGB VII befugt, die vorläufige Entschädigung des Klägers durch Bescheid vom 22. September 2016 zu entziehen und die Rentengewährung auf Dauer abzulehnen, ohne an die Feststellungen zur Höhe der MdE in dem Bescheid über die Gewährung der Rente als vorläufige Entschädigung gebunden zu sein (a.). Die beim Kläger aufgrund des Unfalls bestehenden Einschränkungen rechtfertigten zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 22. September 2016 nicht die Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer ab dem 01. November 2016 (b.).
a. In der gesetzlichen Unfallversicherung haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus um mindestens 20 v. H. gemindert ist, nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf Rente. Diese wird bei Minderung der Erwerbsfähigkeit als Teilrente geleistet und in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VII). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Innerhalb dieses Zeitraums kann der Vomhundertsatz der MdE jederzeit ohne Rücksicht auf die Dauer der Veränderung neu festgestellt werden (§ 62 Abs. 1 SGB VII). Gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII kann bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Nach Satz 1 des § 62 Abs. 2 SGB VII wird die Rente jedoch spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall kraft Gesetzes als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet.
§ 62 Abs. 2 SGB VII ermächtigt somit dazu, trotz vorliegender Entscheidung über die Bewilligung einer Verletztenrente als vorläufige Entschädigung, eine Dauerrente ohne Bindung an die bisher zugrunde gelegte MdE nach einer niedrigeren MdE zu bewilligen, ohne dass dafür eine wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen eingetreten sein muss, die bei Bewilligung der vorläufigen Entschädigung vorgelegen haben. Die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII setzt voraus, dass eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung bewilligt wurde, der Versicherungsträger nunmehr erstmals darüber entscheidet, ob dem Versicherten eine Rente auf unbestimmte Zeit zusteht, und der Änderungsvorbehalt wegen Ablaufes des Dreijahreszeitraumes noch nicht entfallen war (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 19. Dezember 2013 – B 2 U 1/13 R –, Rn. 11, juris).
Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 SGB VII lagen hier vor. Die Rente war dem Kläger mit Bescheid vom 12. Februar 2015 als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. mit Wirkung ab dem 17. Februar 2014 bewilligt worden. Mit Bescheid vom 22. September 2016 hat die Beklage erstmals darüber entschieden, ob dem Kläger eine Rente auf unbestimmte Zeit zu gewähren ist.
Auch die Dreijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII, nach deren Ablauf die als vorläufige Entschädigung gewährte Rente von Gesetzes wegen zur Rentengewährung auf Dauer wird, war noch nicht verstrichen. Maßgebend für den Ablauf der Dreijahresfrist und die Umwandlung in eine Rente auf Dauer gem. § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist die formelle Wirksamkeit und damit gemäß § 37 Abs. 1 i. V. m. § 39 Abs. 1 SGB X die Bekanntgabe des die Rente auf Dauer feststellenden bzw. ablehnenden Bescheides (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Auflage, Stand: 15. Januar 2022, § 62 SGB VII Rn. 30; Kranig/Timm in: Hauck/Noftz SGB VII, § 62 Rn. 11). Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 22. September 2016 an den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers mittels förmlicher Zustellung am 10. Oktober 2016 war diese Frist noch nicht abgelaufen. Die Frist begann am Tag nach Eintritt des Arbeitsunfalls (§ 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB - ), mithin am 11. Oktober 2013, und endete mit dem Ablauf des Tages, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis (hier der Arbeitsunfall) fällt (§ 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 188 Abs. 2 1. Alt. BGB). Die Frist lief daher erst mit dem 10. Oktober 2016 ab. Dass die als vorläufige Entschädigung gewährte Rente nach § 73 Abs. 2 Satz 1 SGB VII wegen der erst im Oktober 2016 erfolgten Zustellung des Bescheides vom 22. September 2016 noch bis zum 31. Oktober 2016 und damit nach Ablauf der Dreijahresfrist zu leisten war, ist unschädlich. Für die Wahrung der Dreijahresfrist genügt es, dass die die Bewilligung der vorläufigen Entschädigung aufhebende Verfügung innerhalb dieses Zeitraums gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X durch Bekanntgabe wirksam wird, auch wenn ihre materiell-rechtlichen Wirkungen nach diesem Zeitraum eintreten (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – B 2 U 1/13 R –, Rn. 15, juris, Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Auflage, Stand: 15. Januar 2022, § 62 SGB VII Rn. 30; Kranig/Timm in: Hauck/Noftz SGB VII, § 62 Rn. 11).
b. Die beim Kläger aufgrund des Unfalls bestehenden Einschränkungen rechtfertigten zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 22. September 2016 nicht die Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer ab dem 01. November 2016.
aa. Der Kläger hat am 10. Oktober 2013 einen Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII erlitten. Nach § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Mithin hängt die Bemessung der MdE von zwei Faktoren ab: Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG, Urteile vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 R -, Rn. 12, und 20. Dezember 2016 – B 2 U 11/15 R -, Rn. 18 ff., m. w. N., jeweils in juris).
Dies zugrunde gelegt, steht nicht zur Überzeugung des Senats gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG fest, dass bei dem Kläger durch den anerkannten Arbeitsunfall verursachte Gesundheitsfolgeschäden vorlagen, die eine MdE von mindestens 20 v. H. bedingen.
bb. Für die Beurteilung der Frage, ob eine rentenberechtigende MdE beim Kläger vorlag, ist auf den Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 22. September 2016, hier der Zustellung am 10. Oktober 2016, abzustellen. Anders als bei der direkten Anfechtung eines die Rentengewährung ablehnenden Bescheides, kombiniert mit dem Begehren nach einer Rentengewährung, ist vorliegend nicht die Rentengewährung an sich, sondern die Entscheidung der Beklagten, den ursprünglichen Bescheid nicht nach § 44 SGB X abzuändern, Streitgegenstand. Maßgeblich ist dafür nach § 44 SGB X, ob der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt seines Erlasses das Recht richtig angewandt hat bzw. vom richtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Es ist mithin die ursprüngliche Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. September 2016 zu prüfen.
cc. Für die Bewertung der MdE kommt es weder entscheidend auf das bloße Vorliegen von Diagnosen noch auf bildgebende Befunde an, im Vordergrund stehen vielmehr die objektivierbaren Funktionsdefizite. Bei dem Kläger lagen im Oktober 2016 folgende unfallbedingte Einschränkungen der rechten Hand vor:
- eine reizfreie, langstreckig, quer verlaufende Narbe über dem gesamten Handrücken,
- ein inkompletter Faustschluss mit einem Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand der Langfinger 2 bis 5 von 3/ 2,5/0/0 cm,
- eine unvollständige Streckung des Zeige- und Mittelfingers mit einem Abstand vom Nagelrand zur verlängerten Handrückenebene der Finger 2 bis 5 von 0,5/0,5/0/0 cm, vordergründig wegen einer eingeschränkten Beweglichkeit in den Grundgelenken des Zeigefingers (Extension/Flexion 0/10/60°) und des Mittelfingers (Extension/Flexion von 0/10/70°) bei nahezu physiologischer Beweglichkeit in den Mittel- und Endgelenken,
- eine eingeschränkte Beweglichkeit am Daumenendgelenk, im Sinne einer reduzierten Abspreizbewegung des Daumens in der Handebene (Einschränkung der Beugung des rechten Daumens im Endgelenk im Seitenvergleich ca. 15°) sowie rechtwinklig (Einschränkung im Seitenvergleich ca. 10 bis 15°),
- Missempfindungen am Handrücken in Höhe der Grundgelenke der Finger II bis V sowie zwischen Daumen und Zeigefinger,
- eine reduzierte Empfindung beim Schreibgriff,
- eine reduzierte Grob- und Feinkraft,
- belastungsabhängige Verschwellungen am Handrücken.
Davon ist der Senat im Sinne des Urkundsbeweises aufgrund der von der Fachärztin J, Dr. H und Prof. Dr. Ein ihrem Gutachten vom 06. Juli 2016 aufgrund der Untersuchung des Klägers vom 31. Mai 2016 getroffenen Feststellungen überzeugt. Anhaltspunkte, wonach diese Feststellungen fehlerhaft gewesen sein könnten, bestehen nicht. Der Kläger ist den dortigen Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht nicht entgegengetreten. Sie lassen sich auch mit den übrigen in den Akten befindlichen Unterlagen zu den Einschränkungen des Klägers in Übereinstimmung bringen. Befunde, die nach der Begutachtung durch Dr. H und Prof. Dr. E am 31. Mai 2016 erhoben worden sind, geben ebenfalls keinen Anhalt für eine fehlerhafte Feststellung der tatsächlich noch verbliebenen unfallbedingten Einschränkungen. Insbesondere ergeben sich solche Umstände nicht aus dem erstinstanzlich von Dr. S am 15. Januar 2020 erstellten Gutachten. Seine Feststellungen ergaben zwar zum Teil eine gering vermehrte Bewegungseinschränkung, z. B. mit Blick auf das Streck- und Beugedefizit des Zeige- und des Mittelfingers im Grundgelenk und im Mittelgelenk. Die ca. 3,5 Jahre später erfolgte Untersuchung, die zudem in anderen Teilen (z. B. Faustschluss) eine Verbesserung ausweist, ist nicht geeignet, die Richtigkeit der im Mai 2016 erfolgten Feststellung in Frage zu stellen.
Die Beklagte hat ihrem Bescheid vom 22. September 2016 die im Gutachten vom 06. Juli 2016 festgestellten Einschränkungen zu Grunde gelegt und ist damit nicht von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen.
dd. Aus den unter cc. dargestellten Einschränkungen ergibt sich zur Überzeugung des Senats keine MdE in rentenberechtigender Höhe. Die MdE liegt unter 20 v. H..
Bei eingetretenen Funktionseinbußen wie Bewegungseinschränkungen von Finger-und Handgelenken nach Verletzungen des Bewegungsapparates sowie Sensibilitätsstörungen nach Nervenverletzungen orientiert sich die gutachterliche Beurteilung an einem abstrakten Gliedverlust. In Relation zu einem abstrakten Gliedverlust bewertet der Gutachter die entstandenen Funktionsausfälle. Die Aufgliederung der Handfunktion in Fein- und Grobgriff ist dabei eine Grundlage zur Einschätzung der Teilschäden. Besondere Bedeutung kommt zudem dem Sensibilitätsverlust eines Fingers zu, da eine gerichtete und feinmotorisch gesteuerte Greiffunktion damit nur unter Sichtkontrolle durchgeführt werden kann (Fritze/Mehrhoff, Die ärztliche Begutachtung, 8. Auflage 2012, S. 766).
Die Greif- und Haltefunktion der Hand des Klägers war zum ganz überwiegenden Teil erhalten. Der Kläger konnte nach den Feststellungen im Zweiten Rentengutachten auch noch eine ganz erhebliche Grobkraft mit 37 kg sowie eine Feinkraft im Spitzgriff von 9 kg und im Schlüsselgriff von 12 kg mit der rechten Hand aufbringen. Der Zeige- und der Mittelfinger der rechten Hand waren lediglich im Grundgelenk in der Streck- und Beugefähigkeit in geringem Maße und der Daumen in der Abspreizfähigkeit gering eingeschränkt. Der Faustschluss war mit einem Finger-Hohlhandabstand des Zeige- bzw. Mittelbingers von 3,0 cm bzw. 2,5 cm zwar inkomplett, die Langfingerkuppen konnten den Daumen jedoch problemlos berühren und die Handspanne der rechten Hand entsprach nahezu derjenigen der linken. Auch Sensibilitätsstörungen an den Fingern oder Fingerkuppen hatten sich nicht gezeigt. Die wesentlichen Funktionen der Hand waren mit dem Grob- und Feingriff, die bei der Untersuchung gut demonstriert werden konnten, ganz überwiegend in physiologisch normalem Ausmaß erhalten. Lediglich beim Schreibgriff hatte der Kläger ein vermindertes Gefühl und eine reduzierte Kontrolle angegeben. Die Funktionsfähigkeit der Hand war auch nicht wesentlich durch die verbliebene neurologische Störung in Form von Missempfindungen am Handrücken in Höhe der Grundgelenke der Finger II bis V sowie zwischen Daumen und Zeigefinger, verursacht durch die Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis, und die Schwellneigung an der Narbe am Handrücken eingeschränkt. Der Ramus superficialis des Nervus radialis ist ein Endast des Nervus radialis, der sensibel den Handrücken versorgt. Da der Handrücken weder zum Greifen noch zum Tasten benutzt wird, sind die dortigen Sensibilitätsstörungen und revisiblen Schwellungen nicht geeignet, die Funktion der Hand erheblich zu beeinträchtigen. Da die Hand damit – bis auf wenige spezielle Funktionen – grundsätzlich zur Arbeit im Erwerbsleben eingesetzt werden konnte, ergibt sich aus den Unfallfolgen zur Überzeugung des Senats kein Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens in Höhe von 20 v. H.. Dass die Funktionsbeeinträchtigungen der rechten Hand des Klägers keine MdE in Höhe von 20 v. H. rechtfertigen, zeigt auch ein Vergleich mit den in der Gutachtenliteratur für verschiedene Schädigungen der Hand vorgeschlagenen MdE-Werten. Danach ist – worauf bereits Dr. V hingewiesen hat - beispielsweise der Verlust des Zeige- und Mittelfingers im Mittelgelenk mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit 9. Auflage, S. 607. Abb. 2.22), ebenso die vollständige Versteifung des Zeigefingers in allen Gelenken (Thomann/Grosser/Schröter, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 3. Auflage 2020, S. 255). Die beim Kläger vorhandenen Funktionseinschränkungen weisen ein solches Ausmaß offensichtlich nicht auf. Bei den benannten, eine MdE von 20 v. H. begründenden Verletzungen ist die Greif- und Haltefunktion der Hand erheblich eingeschränkt, was beim Kläger gerade nicht der Fall war. Insoweit folgt der Senat, in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Beratungsarztes Dr. V nicht den Ausführungen des erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen Dr. S, der – auch für Oktober 2016 – von einer MdE von 20 v. H. ausgeht. Dr. S hat zwar in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 06. März 2020 zutreffend dargelegt, dass die Bewertung, in welcher Höhe eine MdE vorliegt, anhand der jeweiligen Umstände im Einzelfall vorzunehmen sei und es für den vorliegenden Fall in der Begutachtungsliteratur an vergleichbaren Tabellenwerten fehle. Er begründet aber nicht, aufgrund welcher konkreten Einschränkungen des Klägers er welche Einschränkungen auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens annimmt. Auch eine vergleichende Betrachtung der Einschränkungen mit Funktionsstörungen, die nach der gutachterlichen Literatur mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten sind, hat Dr. S nicht angestellt. Als wesentliches Element seiner Begründung stellt er vielmehr darauf ab, dass im Vergleich zum Zustand beim Ersten Rentengutachten keine wesentliche Verschlechterung eingetreten sei. Darauf kommt es – wie bereits dargelegt – aber aus rechtlichen Gründen nicht an.
3. Auch die Rüge des Klägers, der Bescheid vom 22. September 2016 sei formell rechtswidrig, weil er entgegen § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht ausreichend begründet worden sei, führt nicht zu einer Verpflichtung der Beklagten, den Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X aufzuheben.
Dabei lässt der Senat offen, ob die Begründung noch den Anforderungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X entsprach. Danach ist u. a. ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen. In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Selbst wenn die Beklagte diesen Anforderungen nicht gerecht geworden sein und damit das (formelle) Recht unrichtig im Sinne von § 44 SGB X angewandt haben sollte, hätte sie nicht aus diesem Grunde die Sozialleistung zu Unrecht nicht erbracht. Die Beklagte hat – wie ausführlich dargelegt – dem Kläger keine Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht, denn der Kläger hatte keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Verletztenrente. Zudem setzt § 44 Abs. 1 SGB X seinem Wortlaut nach ein Beruhen der fehlenden Leistungserbringung auf der Rechtsverletzung voraus. Inwieweit formelle Fehler überhaupt zu einer Aufhebung nach § 44 Abs. 1 SGB X führen können, ist umstritten. An einem Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts und dem Nichterbringen der Sozialleistung oder der Erhebung von Beiträgen wird es bei rein formellen Verstößen regelmäßig fehlen (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage , Stand: 23. Februar 2022, § 44 SGB X, Rn. 74). Jedenfalls im konkreten Fall einer möglicherweise unzureichenden Begründung der getroffenen, nicht im Ermessen der Beklagten stehenden Entscheidung ist ein Beruhen der Leistungsablehnung darauf aber ausgeschlossen (vgl. Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage , Stand: 23. Februar 2022, § 44 SGB X, Rn. 105). Dieses Ergebnis steht auch in Einklang mit der systematischen Betrachtung der im SGB X geregelten Fehlerfolgen. Gemäß § 42 Satz 1 SGB X kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Kann demnach bei einem Begründungsmangel schon im Rahmen der direkten Anfechtung keine Aufhebung verlangt werden, wenn es an einem „Beruhen“ fehlt, kann derjenige, der die Widerspruchsfrist versäumt, im Rahmen des Verfahrens nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht besser gestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.