S 38 KA 392/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 392/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Bei der Befreiung von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Wird die Praxistätigkeit unvermindert fortgeführt oder liegt diese über dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe, so besteht die widerlegbare Vermutung, dass ein Vertragsarzt ohne weiteres in der Lage ist, den ärztlichen Bereitschaftsdienst zu leisten. Mit der Formulierung in § 14 Abs. 2 BDO-KVB in der Regel hat der Satzungsgeber aber deutlich gemacht, dass trotz überdurchschnittlicher Praxistätigkeit bzw. unverminderter Praxistätigkeit eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst höchst ausnahmsweise möglich ist.

II. Es besteht aber eine Nachweispflicht, wie sich aus § 14 Abs. 1 BDO-KVB ergibt. Hierbei genügt nicht eine pauschale Behauptung. Vielmehr müssen konkrete aussagekräftige Nachweise vorgelegt werden.


I. Die Klage wird abgewiesen.


II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.


T a t b e s t a n d :

Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klage ist die Befreiung der Klägerin vom ärztlichen Bereitschaftsdienst. Der Antrag auf Befreiung vom Bereitschaftsdienst - die Klägerin ist Allgemeinärztin - wurde abgelehnt. Der Widerspruch dagegen war erfolglos. Die Beklagte führte aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Befreiung von der Teilnahme am Bereitschaftsdienst. Denn es liege kein schwerwiegender Grund im Sinne von § 14 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB (Bereitschaftdienstordnung) vor. Nach § 14 Abs. 2 BDO-KVB liege in der Regel kein schwerwiegender Grund vor, wenn die Antragstellerin unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe die Praxis führe. Von der Regelung könne nicht ausnahmsweise abgewichen werden, da die Fallzahlen den Fachgruppendurchschnitt erheblich überstiegen. Somit komme es nicht darauf an, ob ein schwerwiegender Grund vorliege. Rein vorsorglich werde aber hierzu ausgeführt, dass die Dienstbelastung lediglich 68 Stunden/Jahr betrage. Die Klägerin könne auch von einer Wunschdienstplanung Gebrauch machen. Sie könne also Dienste selber auswählen. Außerdem habe sie die Möglichkeit der Abgabe an einen Poolarzt bzw. auch an einen Vertreter. Selbst bei Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes müsse beachtet werden, dass ein öffentliches Interesse an der Sicherstellung des Bereitschaftsdienstes bestehe und auch die Interessen der übrigen Mitglieder der Bereitschaftsdienstgruppe zu wahren seien.
Dagegen ließ die Klägerin Klage zum Sozialgericht München einlegen. Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass die Klägerin in der Bereitschaftsdienstregion  G-Stadt tätig sei. Sie sei für 36 Monate befreit gewesen. Hintergrund für den jetzigen Antrag auf Befreiung sei, dass sie alleinerziehende Mutter von drei Kindern (geb. 2005, 2009, 2009) sei. Sie habe unter anderem für das dreijährige Kind die alleinige elterliche Sorge. Durch die Kindsväter, Eltern oder Dritte bestehe auch keine Betreuungsmöglichkeit. Die Teilnahme am Bereitschaftsdienst, insbesondere zu Nachtzeiten kollidiere mit der für sie bestehenden Aufsichtspflicht, den Kindern gegenüber. Die Termine seien unplanbar. Es bestehe auch ein großes räumliches Einzugsgebiet. Außerdem sei der Bereitschaftsdienst zentral geregelt. Die Dienste könnten nicht mehr in den Praxisräumlichkeiten abgehalten werden. Es bestehe Rufbereitschaft von 22:00 Uhr bis 8:00 Uhr. Wenn drei Termine in dem Zeitraum wahrzunehmen seien, dann sei sie als Ärztin die ganze Nacht unterwegs und müsse ihre Kinder ohne Aufsicht lassen. Für die Nachtstunden sei auch keine Betreuung zu finden. Es sei auch zu beachten, dass 68 Stunden pro Jahr sieben Tage Bereitschaftsdienst im Jahr entsprächen. Insgesamt sei deshalb die Teilnahme am Bereitschaftsdienst aufgrund der geschilderten Umstände unzumutbar. Der Klägerin würde es schon ausreichen, wenn die Beklagte sich selbst um den Ersatz für die Dienste kümmern könnte. Die persönliche Situation habe sich auch noch durch die schwere Erkrankung ihres Vaters entscheidend verändert. Als Anwältin für Familienrecht müsse sie auch auf die Rechtsprechung im Bereich des Unterhaltsrechts hinweisen. Die Rechtsprechung halte die Aufnahme eines Minijobs oder einer Teilzeittätigkeit für absolut ausreichend, wenn ein Kind über drei Jahre alt sei.
In ihrer Replik vertrat die Beklagte die Auffassung, die Teilnahme am Bereitschaftsdienst sei der Klägerin zumutbar. Es werde nochmals auf die Wunschdienstplanung hingewiesen. Es sei daher möglich, sich entsprechende Schichten auszusuchen, sodass die Kinderbetreuung sichergestellt werden könne. Die Dienstplanung erfolge ca. ein Jahr im Voraus. Damit müsse es möglich sein, rechtzeitig organisatorische Maßnahmen zutreffen. Im Übrigen biete die Klägerin auch in ihrer Praxis Abendsprechstunden und Hausbesuche an sowie eine Samstagssprechstunde. Die Beklagte wies darauf hin, dass die Dienste meistens tagsüber stattfänden. Die Klägerin sei im Jahr 2022 befreit gewesen. Im Jahr 2023 sei sie am 22./23.05.2023 und 04./05.12. zum Bereitschaftsdienst eingeteilt. Es handle sich um eine Einteilung zu zwei nächtlichen Fahrdiensten. Die Dienste seien auch von der Klägerin selbst ausgesucht worden. Es sei nicht glaubhaft, dass für zwei Tage im Jahr keine nächtliche Betreuung zu finden sei. Im Übrigen bestehe, wie bereits mehrfach ausgeführt auch die Möglichkeit, die Dienste an den Pool bzw. einen Vertreter abzugben.
In der mündlichen Verhandlung am 04.05.2023 teilte der Vertreter der Beklagten mit, die Klägerin sei erst im Dezember 2023 zu einem Nachtdienst eingeteilt. Die Beklagte signalisierte auch ihre Unterstützung, wenn ausnahmsweise der Bereitschaftsdienst nicht übernommen werden könne und auch kein Poolarzt/Vertreter gefunden werden könne. Voraussetzung sei aber, dass gegenüber der Beklagten die Bemühungen der Klägerin dargestellt werden.
Die Prozessbevollmächtigte Klägerin stellte den Antrag aus dem Schriftsatz vom 29.08.2022.
Die Vertreter der Beklagten beantragten, die Klage abzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 04.05.2023 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zum Sozialgericht eingelegte Klage - es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG - ist zulässig, erweist sich aber als unbegründet.
Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, die den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung überantwortet ist, umfasst auch die vertragsärztliche Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (§§73 Abs. 2, 75 S. 1 S. 1 und 2 SGB V). Auf dieser Rechtsgrundlage wurde die Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (BDO-KVB) erlassen, die hier in der Fassung vom 23.11.2012, in Kraft getreten am 20.4.2013 zur Anwendung kommt. In deren § 2 sind diejenigen Ärzte, medizinische Versorgungszentren ... aufgeführt, die zur Teilnahme an dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verpflichtet sind. Nachdem die Klägerin als Vertragsärztin zugelassen ist, besteht für sie eine entsprechende Verpflichtung (§ 2 Abs. 1 Ziff. 1).
§ 14 BDO-KVB enthält einen Befreiungstatbestand. Danach k a n n ein Vertragsarzt ... aus schwerwiegenden Gründen ganz, teilweise oder vorübergehend und zusätzlich auch befristet (§ 14 Abs. 6) vom ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden.
In § 14 Abs. 2 BDO-KVB ist bestimmt, dass ein schwerwiegender Grund nach Abs. 1 durch Vorlage geeigneter Unterlagen nachzuweisen ist. Des Weiteren sieht § 14 Abs. 2 BDO-KVB vor, dass ein schwerwiegender Grund für eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst nach Absatz 1 S. 2 lit. a) oder b) in der Regel nicht vorliegt, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 S. 2 a. und b. erfüllt, jedoch unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe vertragsärztlich tätig ist ...
Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (auch Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst ganz, teilweise, vorübergehend, zeitlich befristet), wie sich der Formulierung "kann" in § 14 Abs. 1 BDO-KVB entnehmen lässt. Ferner ist in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu differenzieren zwischen der völligen Befreiung, der teilweisen oder vorübergehenden und zeitlich befristeten. Liegt ein schwerwiegender Grund für die Befreiung vor, ist zu prüfen, ob statt einer völligen Befreiung andere eingeschränkte Befreiungsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine teilweise Befreiung in Betracht zu ziehen sind. Aber auch aus der Regelung des § 14 Abs. 2 BDO-KVB (Formulierung "in der Regel"), ist ein Ermessen abzuleiten.
Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid darauf hingewiesen, dass die Praxis der Klägerin über dem Durchschnitt der Fachgruppe liegt. Insofern ist die Regelung in § 14 Abs. 2 BDO-KVB zu beachten. Danach liegt in der Regel kein schwerwiegender Grund nach § 14 Abs. 1 S. 2 lit. a) bzw. b) vor, wenn die Praxistätigkeit unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe fortgeführt wird. Es handelt sich um eine widerlegbare Vermutung, dass ein Vertragsarzt bei unverminderter Praxistätigkeit auch ohne weiteres in der Lage ist, den Ärztlichen Bereitschaftsdienst zu leisten. Mit der Formulierung in § 14 Abs. 2 BDO-KVB "in der Regel" hat der Satzungsgeber deutlich gemacht, dass trotz überdurchschnittlicher Praxistätigkeit bzw. unverminderter Praxistätigkeit eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst höchst ausnahmsweise möglich ist. Maßgeblich sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, was im Rahmen einer Einzelfallentscheidung zu würdigen ist.
Eine extreme familiäre Situation kann dazu führen, dass höchst ausnahmsweise trotz der Regelung in § 14 Abs. 2 BDO-KVB eine Befreiung von der Teilnahme ein Bereitschaftsdienst zu gewähren ist.
Von der Klägerin wird insbesondere geltend gemacht, sie sei alleinerziehende Mutter von drei minderjährigen Kindern, darunter ein Kind mit unter vier Jahren und es sei ihr nicht möglich, jemanden zur Kinderbetreuung für die Zeit während ihrer Teilnahme am Bereitschaftsdienst zu finden; insbesondere nicht zu Nachtzeiten.
Das Gericht verkennt nicht, dass die konkrete Situation der Klägerin mitunter herausfordernd sein mag, die familiären Belange und Pflichten (Aufsichtspflicht) mit beruflichen Belangen zu vereinbaren. Damit müssen sich aber nicht nur die Klägerin, sondern auch andere alleinerziehende Mütter und Väter, die freiberuflich tätig sind, arrangieren. Es handelt sich somit nicht um ein singuläres Problem der Klägerin. Zudem ist das öffentliche Interesse an einem funktionierenden Bereitschaftsdienst, aber auch das Interesse anderer am Bereitschaftsdienst teilnehmenden Ärzte zu beachten. Vor diesem Hintergrund kann eine Befreiung auch nicht teilweise in Betracht kommen. Denn es handelt sich auch um eine pauschale Befreiung in § 14 BDO-KVB.
Hinzu kommt, dass die Dienste ca. ein Jahr im Voraus feststehen, eine Wunschdienstplanung auch möglich ist und die Dienste grundsätzlich in die Tagesstunden gelegt werden können. Insofern hat die Klägerin ausreichend Gelegenheit, sich lange Zeit vorher um die Kinderbetreuungsmöglichkeiten umzusehen und, falls dies nicht möglich ist, die Dienste an einen Poolarzt oder einen Vertreter abzugeben.
Abgesehen davon besteht, wie sich aus § 14 Abs. 1 BDO-KVB ergibt, eine Nachweispflicht. Dieser Verpflichtung ist die Klägerin auch nicht nachgekommen. Es genügt nicht die pauschale Behauptung, es sei ihr nicht möglich, die Kinderbetreuung sicherzustellen und die Dienste an den Pool oder an einen Vertreter abzugeben. Vielmehr hätten konkrete aussagekräftige Nachweise vorgelegt werden müssen.
Falls trotzdem kurzfristig vor dem Termin weder eine Kinderbetreuungsmöglichkeit bestehen sollte, noch eine Abgabe der Dienste möglich sein sollte, müsste dann die Beklagte hierüber informiert werden, die im Rahmen ihres Sicherstellungsauftrages auch für den Bereitschaftsdienst die Letztverantwortung besitzt. Es handelt sich hierbei aber um eine Einzelfallsituation. Voraussetzung ist aber, dass die Klägerin der Beklagten gegenüber den qualifizierten Nachweis führt, dass keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten bestanden und die Versuche, die Dienste abzugeben, fehlschlugen. Dass eine Abgabe von Diensten möglich ist, zeigt sich auch daran, dass etliche Dienste der Klägerin im Jahr 2023 abgegeben werden konnten.
Soweit von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf das Unterhaltsrecht und die hierzu ergangene Rechtsprechung der Familiengerichte hingewiesen wird, führt dies nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Klägerin hat sich bewusst für die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung entschieden. Dazu gehören nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Zu letzteren gehört auch die Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst.
Aus den genannten Gründen war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.

 

Rechtskraft
Aus
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