1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob bei der Klägerin die Voraussetzungen für einen höheren Grad der Behinderung (GdB) und für die Merkzeichen „B“ und „H“ vorliegen.
Unter dem 19.10.2015 beantragte die Klägerin erstmals die Feststellung einer Behinderung und des Grades der Behinderung nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Mit Bescheid vom 03.11.2015 wurde ein GdB von 50 für die Klägerin festgestellt. Folgende Funktionsbeeinträchtigungen wurden dabei berücksichtigt:
• Seelische Störungen.
In der Folge mehrerer Änderungsanträge stellte die Beklagte mit Bescheid vom 05.02.2015 einen GdB von 50 fest. Der Widerspruch der Klägerin hiergegen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.2015 zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ lägen nicht vor.
Unter dem 19.11.2015 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 05.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2015. Mit Bescheid vom 28.12.2015 wurde der Antrag abgelehnt. Es lägen weder die Voraussetzungen für die Feststellung eines höheren GdBs, noch für die Anerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ vor.
Nach einem Verzicht auf die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und einen späteren Widerruf, stelle die Beklagte mit Bescheid vom 04.07.2016 erneut fest, dass bei der Klägerin ein GdB von 50 vorliege. Die Voraussetzungen zur Feststellung von Merkzeichen lägen nicht vor.
Unter dem 30.09.2016 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag, welcher mit Bescheid vom 21.10.2016 zurückgewiesen wurde. Der hierauf eingegangene Widerspruch, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2016 zurückgewiesen. Die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens „G“ lägen nicht vor, weshalb Ausführungen zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ nicht notwendig seien.
Unter dem 15.02.2017 stellte die Klägerin einen neuerlichen Änderungsantrag. Dieser wurde mit Bescheid vom 04.04.2017 abgelehnt. Auf den Widerspruch der Klägerin, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.06.2017 ein GdB von 60 für psychische Störungen aufgrund des diagnostizierten Autismus festgestellt. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ seien nicht erfüllt. Im Übrigen werde der Widerspruch daher zurückgewiesen.
Mit der am 13.07.2017 zum Sozialgericht Gießen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Befundberichten bei den behandelnden Ärzten der Klägerin.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihre Erkrankungen einen GdB von 100 sowie die Anerkennung der Merkzeichens „B“ und „H“ rechtfertigen. Das Merkzeichen „B“ sei notwendig, das die Klägerin überdurchschnittlich häufig in Personenkontrollen der Polizei gerate. Aufgrund ihres Autismus und weil sie dies als Repressalie empfinde, würde sie in der entsprechenden Situation unangemessen reagieren. Es sei in der Vergangenheit daher schon zu körperlichen Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten gekommen. Sie habe hiervon einen gebrochenen Arm davongetragen.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 04.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.06.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen „B“ und „H“ festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Grad der Behinderung von 100 und die Voraussetzungen des Merkzeichens „B“ und „H“ lägen nicht vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten, wird auf die Gerichts- und die Beklagtenakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht erhoben.
Sie ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.06.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf die behördliche Feststellung der Merkzeichen „B“ und „H“ sowie eines höheren GdBs.
Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX alte Fassung) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Menschen sind nach der Definition des § 2 Abs. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Sie sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthaltsort oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auch hierzu die erforderlichen Feststellungen (vgl. § 152 Abs. 4 SGB IX).
Zwar wurde mit dem Gesetz vom 07.01.2015 in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage unmittelbar im SGB IX geschaffen, welche es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erlaubt, seit 15.01.2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Eine auf der Grundlage dieser Verordnungsermächtigung erlassene Rechtsverordnung liegt jedoch bislang nicht vor. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es somit bei der bisherigen Rechtslage, auch wenn die VersMedV einschließlich ihrer Anlage zu § 2 nicht auf der Grundlage dieser erst seit 15.01.2015 gültigen Verordnungsermächtigung erlassen wurde. (vgl. dazu § 159 Abs. 7 SGB IX; BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4, Rn. 11 f. sowie Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2015 – L 6 SB 1430/15, Juris).
Die VersMedV enthält als Anlage zu § 2 die versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), welche Rechtsnormcharakter haben (BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9 SB 3/08 R - Juris; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 20. Mai. 2014 – L 15 SB 226/13, Juris) und Ausgangspunkt der Bewertung des GdB sind. Diese VG werden auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin fortentwickelt. Bestandteil der VG ist die GdS-Tabelle, die einzelne Werte für bestimmte Gesundheitsstörungen enthält. Diese Werte sind aus langer Erfahrung gewonnen und stellen altersunabhängige Mittelwerte dar. Es handelt sich um Richtwerte, von denen mit einer die besonderen Gegebenheiten darstellenden Begründung abgewichen werden kann. Entscheidend ist die Berücksichtigung der im Einzelfall gegebenen, die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigenden körperlichen, geistigen und seelischen Störungen.
Nach B 3.5.1 tiefgreifende Entwicklungsstörungen (insbesondere frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom) der VersMedV beträgt bei tief greifenden Entwicklungsstörungen ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten der GdB 10–20, mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB 30–40, mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB 50–70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB 80–100.
Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen.
Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist.
Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich.
Die Klägerin lebt alleine und kann ihren Haushalt eigenständig führen. Sie hat, wenn auch wenige, soziale Kontakte in Form ihrer Partnerin. Dies gilt unabhängig davon, dass ihre Partnerin nach Angaben der Klägerin selbst körperlich und geistig eingeschränkt ist. Im Bereich des Erwerbslebens ist die Integration der Klägerin bis heute nicht gelungen. Die erkennende Kammer erachtet daher einen GdB der im Bereich der mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten liegt als angemessen. Einen Anspruch der über einen GdB von 60 hinausgeht, vermag die Kammer nicht zu erkennen.
Die Voraussetzungen des Merkzeichens „H“ liegen nicht vor.
Nach der VersMEdV sind Hilflos diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen - nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB I X) und dem Einkommensteuergesetz „nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.
Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft. Außerdem sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen. Hilflosigkeit liegt im oben genannten Sinne auch dann vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe nicht unmittelbar bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähme. Die ständige Bereitschaft ist z. B. anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist.
Der Umfang der notwendigen Hilfe, bei den häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen muss erheblich sein. Dies ist der Fall, wenn die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt wird. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig sind und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorgenommen werden, genügen nicht (z. B. Hilfe beim Anziehen einzelner Bekleidungsstücke, notwendige Begleitung bei Reisen und Spaziergängen, Hilfe im Straßenverkehr, einfache Wund- oder Heilbehandlung, Hilfe bei Heimdialyse ohne Notwendigkeit weiterer Hilfeleistung). Verrichtungen, die mit der Pflege der Person nicht unmittelbar zusammenhängen (z. B. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung) müssen außer Betracht bleiben.
Es ist weder erkennbar noch vorgetragen, dass die Klägerin, die ihren Haushalt alleine führen kann, für eine Reihe von häufig und regemäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremde Hilfe dauernd bedarf. Dies hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt.
Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ oder „Gl“ vorliegen sind nicht gegeben.
In Ermangelung der Feststellung der Merkzeichen „H“, „G“ oder „Gl“ kann auch das Merkzeichen „B“ nicht anerkannt werden. Denn nach der VersMedV ist eine Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G", „Gl" oder „H" vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind.
Darüber hinaus begehrt die Klägerin das Merkzeichen „B“ nicht wegen Schwierigkeiten bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern weil sie bei der Begegnung mit Polizeibeamten Unterstützung benötigt, um bei einer etwaigen Personenkontrolle keine körperliche Auseinandersetzung zu provozieren. Die Anerkennung des Merkzeichens „B“ aus diesem Grund kann jedoch aufgrund der Vorgaben der VersMedV nicht erfolgen.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.