L 4 SO 112/22 B

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 19 SO 50/21
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 112/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zur Frage der Aussetzung eines Verfahrens bei gestelltem Antrag auf Überprüfung nach § 44 SGB X.


Die Beschwerde des Beklagten vom 12. Juli 2022 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 1. Juni 2022 wird zurückgewiesen. 


Gründe

I.

Der 1968 geborene Kläger, der im Leistungsbezug durch den Beklagten steht, klagt in der Hauptsache gegen einen mit Bescheid vom 1. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2021 geltend gemachten Aufwendungsersatz des Beklagten (Zeitraum: Mai bis Juli 2014 lt. Bescheid vom 1. März 2021) aus dem Nachlass der Frau D. D., die 2014 verstarb. Mit Bescheid vom 10. Februar 2016 erklärte der Beklagte sich bereit, die Betreuungskosten des Klägers im M.-Haus in C-Stadt im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) in der Zeit ab dem 1. Februar 2016 bis zum 30. April 2018 zu übernehmen. Unter dem 23. August 2016 hob der Beklagte die Kostenzusage vom 10. Februar 2016 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) auf (Tenor des Bescheides). Aufgrund der ungeklärten wirtschaftlichen Situation des Klägers werde die Kostenzusage ab dem Zeitpunkt des Erbfalles, der noch ermittelt werden müsse – mindestens aber ab dem 23. April 2016 (Zeitpunkt der Mitteilung über den Erbfall) – rückwirkend nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3 SGB X insoweit aufgehoben, als ab diesem Zeitpunkt die Betreuungskosten nunmehr auf Grundlage des § 19 Abs. 5 i.V.m. § 19 Abs. 3 SGB XII im Rahmen einer erweiterten Hilfeleistung übernommen würden. Im Rahmen des Klageverfahrens gegen den Bescheid des Beklagten vom 1. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2021 (S 19 SO 50/21) hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers unter dem 20. Mai 2022 gegen den Bescheid des Beklagten vom 23. August 2016 einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt und angeregt, das Klageverfahren bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens gegen den Bescheid vom 23. August 2016 auszusetzen. Mit Beschluss vom 1. Juni 2022 hat das Sozialgericht das Klageverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gegen den Bescheid vom 23. August 2016 ausgesetzt. Die Entscheidung des Rechtsstreites hänge nach vorläufiger Würdigung davon ab, ob der Bescheid vom 23. August 2016 als hinreichende Rechtsgrundlage für die vorliegend streitigen Bescheide in Betracht komme. Das diesbezüglich geführte Verfahren sei daher für die hiesige Entscheidung vorgreiflich und die Aussetzung des Verfahrens sachgerecht.

Gegen den dem Beklagten am 14. Juni 2022 zugestellten Beschluss hat dieser am 12. Juli 2022 Beschwerde bei dem Sozialgericht Marburg eingelegt. Zur Begründung weist er darauf hin, dass der Antrag nach § 44 SGB X unzulässig, in jedem Fall aber unbegründet sei. Die Vorschrift ermögliche eine Überprüfung der Rechtswidrigkeit von bestandskräftigen Verwaltungsakten, worum es dem Kläger aber in Wirklichkeit nicht gehe. Letztlich handele es sich bei der von dem Kläger aufgeworfenen Frage um eine Auslegung des Bescheides vom 23. August 2016 und nicht um dessen Rechtswidrigkeit. Dies sei durch das Gericht im anhängigen Verfahren zu klären. Es sei auch nicht zu erkennen, dass das erstinstanzliche Gericht im Rahmen des Beschlusses Ermessen ausgeübt habe. Prozessökonomische Gründe seien von dem Gericht offensichtlich falsch gewertet worden. 

Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 1. Juni 2022 aufzuheben und den Antrag des Klägers abzulehnen.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde des Beklagten zurückzuweisen.

Sie weist im Beschwerdeverfahren darauf hin, dass es dem Bescheid vom 23. August 2016, der dem Beklagten als Grundlage seiner angefochtenen Entscheidung vom 1. März 2021 diene, an der hinreichenden Bestimmtheit gemäß § 33 Abs. 1 SGB X fehle, weshalb der Antrag nach § 44 SGB X gestellt worden sei. Die mangelnde hinreichende Bestimmtheit sei ohne Zweifel nach § 44 SGB X zu prüfen. Ohne den Bescheid vom 23. August 2016 fehle es an einer „Umstellung“ der Leistungen auf die so genannte „erweiterte Hilfe“ und es komme eine Rückforderung insgesamt nicht in Betracht.
 

II.

Die Beschwerde ist zulässig. Die Beschwerdefähigkeit der Aussetzungsentscheidung ist allgemein anerkannt Bei einer Aussetzung handelt es sich insbesondere um keine bloße prozessleitende Verfügung i.S.v. § 172 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG - (h.M. vgl. Guttenberger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, Stand: 15. Juni 2022, § 114 SGG Rdnr. 51ff m.w.N.; Keller in: Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage 2020, § 114 Rdnr. 9). 

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gegen den Bescheid vom 23. August 2016 auszusetzen, lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Ausreichend ist nach § 114 Abs. 2 S. 1 SGG auch, dass das Rechtsverhältnis durch eine Verwaltungsbehörde festzustellen ist.

Das Beschwerdegericht prüft nicht, ob die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des Sozialgerichts zu den Rechtsfragen im Hauptsacheverfahren, auf deren Grundlage es einen Beschluss über die Aussetzung erlassen hat, zutreffend ist, außer wenn der Mangel der Entscheidungserheblichkeit offensichtlich ist. Auch nach der Auffassung des Senats würden andernfalls Fragen, deren Klärung nach der Systematik des Sozialgerichtsgesetzes den Rechtsmitteln der Berufung und ggf. der Revision vorbehalten ist, in das anders ausgestaltete Beschwerdeverfahren, das beispielsweise keine Pflicht zur mündlichen Verhandlung kennt, verschoben (Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 26. Oktober 2009 – 3 AZB 24/09 –, zitiert nach juris Rdnr. 9; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 7. März 2023, L 9 SO 12/23 B, zitiert nach juris; Keller, a.a.O., § 114 Rdnr. 9; Guttenberger, a.a.O., § 144 Rdnr. 53; vgl. ausführlich zum Streitstand: Loytved, jurisPR-SozR 5/2022 Anm. 5 zu: Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Januar 2022, L 3 U 202/21 B, zitiert nach juris). 

Hieran gemessen ist das Sozialgericht vertretbar davon ausgegangen, dass das Verfahren nach § 44 SGB X, das die Prozessbevollmächtigte mit ihrem Antrag vom 20. Mai 2022 bei dem Beklagten im Blick auf den Bescheid vom 23. August 2016 eröffnet hat, von Einfluss im Sinne einer Entscheidungserheblichkeit für das vorliegende Verfahren hat. Der Bescheid vom 23. August 2016 bildet aufgrund des Wechsels der rechtlichen Grundlage für die Leistungsgewährung an den Kläger die rechtliche Grundlage für den mit Bescheid vom 1. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2021 geltend gemachten Aufwendungsersatz durch den Beklagten. Die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Bescheides etwa im Blick auf die Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes kann das Sozialgericht zudem nicht inzident überprüfen und stellt auch keine Frage der Auslegung dar. Das Gericht ist an eine bestandskräftige Entscheidung der Verwaltung gebunden (vgl. hierzu auch: Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 18. November 2014, L 3 R 8/12, zitiert nach juris).

Die Entscheidung über eine Aussetzung des Verfahrens steht in sämtlichen von § 114 SGG erfassten Fällen grundsätzlich im pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts. Von einer Ermessensreduzierung auf Null – und einem hiermit korrespondierenden Anspruch von Beteiligten auf Aussetzung des Verfahrens – ist aber auszugehen, wenn andernfalls eine Entscheidung des Sozialgerichts nicht möglich wäre. Dies ist nach der Auffassung des Senats insbesondere dann zu bejahen, wenn die Voraussetzungen einer Sachentscheidung - wie hier die Frage der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vom 23. August 2016 - im betreffenden Verfahren aufgrund der Bestandskraft nicht geklärt werden können. 

Eine Kostenentscheidung hat mit der ganz herrschenden Rechtsprechung nicht zu ergehen. Das Beschwerdeverfahren gegen die Entscheidung über die Aussetzung stellt einen nicht eigenständigen Verfahrensabschnitt dar, der Bestandteil des Hauptsacheverfahrens ist (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – II ZB 30/04 – zitiert nach juris Rdnr. 12; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 7. März 2023, L 9 SO 12/23 B, zitiert nach juris; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. November 2012, L 1 KR 421/12 B, zitiert nach juris Rdnr. 9; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Mai 2014, L 4 KR 553/14 B, zitiert nach juris Rdnr. 21; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 18. November 2018, L 6 AS 478/19 B, zitiert nach juris Rdnr. 14; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. Juni 2022, L 11 KR 1075/21 B, zitiert nach juris Rdnr. 7 und Beschluss vom 7. November 2022, L 7 AS 1091/22 B, zitiert nach juris; a.A. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Januar 2022, L 3 U 202/21 B, zitiert nach juris Rdnr. 22).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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