Die jeweils am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmende Behörde der Sozialleistungsverwaltung trifft für Unzulänglichkeiten des elektronischen Rechtsverkehrs regelmäßig kein Organisationsverschulden.
Die Funktionsfähigkeit des elektronischen Rechtsverkehrs hat das Justizministerium zu gewährleisten, welches in Baden-Württemberg mit dieser Aufgabe gerichtsbekanntermaßen zuweilen überfordert scheint.
Tenor: |
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Tatbestand und Entscheidungsgründe: |
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Totalentziehung existenzsichernder Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
In der Vergangenheit bevollmächtigte die Klägerin für Auseinandersetzungen mit dem Beklagten den auch im Verfahren S 12 AS 3350/22 mit der Interessenvertretung beauftragten anwaltlichen Vertreter. Ihm erteilte sie auch anlässlich eines an die Klägerin gerichteten Schriftsatzes des Beklagten vom 27. Juli 2022 eine Vollmacht, die auf den 01. August 2022 datiert. Dem Wortlaut der Urkunde zufolge bevollmächtigte sie den Anwalt zur Einlegung von Widersprüchen und zur Prozessführung, die sich auch auf „Folgeverfahren aller Art“ „erstrecken“ sollte.
Die Vollmachturkunde vom 01.08.2022 legte der Rechtsanwalt dem Beklagten auf dessen Anforderung in elektronischer Form vor. Im sich anschließenden Verfahren beachtete der Beklagte die Vollmacht bei dem Versand des an die Klägerin gerichteten Versagungsbescheides vom 04. August 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2022. Dessentwegen gab sodann das Sozialgericht Karlsruhe dem im Namen der Klägerin durch den Rechtsanwalt angebrachten einstweiligen Rechtsschutzantrag mit Beschluss vom 20. September 2022 statt.
Im Anschluss hieran versagte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Oktober 2022 der Klägerin erneut die durch sie beantragte Bewilligung von Grundsicherungsleistungen mit Rückwirkung zum 01. Juni 2022. Der bereits am 01.08.2022 für das vorangegangene Versagungsverfahren von der Klägerin bevollmächtigte Rechtsanwalt legte hiergegen am 10. November 2022 erneut Widerspruch ein.
Noch am selben Tag bestätigte der Beklagte ihm den Eingang des Widerspruchs. Zugleich forderte er die Vorlage einer auf das neue Versagungsverfahren bezogenen Vollmachturkunde. Hierfür setzte der Beklagte eine Frist von einem Tag.
Am Folgetag kam der Bevollmächtigte der Aufforderung dahingehend nach, dass er die von der Klägerin am 01. August 2022 für das vorangegangene Verfahren wegen der Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts signierte Vollmachturkunde mithilfe des elektronischen Anwaltspostfachs in Richtung des Beklagten absandte.
Eben diese Vollmachturkunde ging auch am selben Tag beim Beklagten im elektronischen Postfach ein, enthielt aber infolge eines technischen Übermittlungsfehlers aus gerichtlich nicht feststellbaren Gründen nicht die vor dem Absenden darauf noch vorhandene Signatur der Klägerin.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. November 2022 verwarf der Beklagte den Widerspruch des Klägerbevollmächtigten vom 22. November 2022 gegen den Versagungsbescheid vom 10. Oktober 2022 mit der Begründung als unzulässig, der Rechtsanwalt sei von der Klägerin für das konkrete Widerspruchsverfahren nicht bevollmächtigt worden.
Hiergegen hat der Rechtsanwalt im Namen der Klägerin am 29. Dezember 2022 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, welche diese Klageerhebung in der mündlichen Verhandlung genehmigt und zur Rechtverfolgung vortragen lassen hat, die Vollmacht vom 01. August 2022 sei auch für das Folgeverfahren anlässlich des Versagungsbescheides vom 10. Oktober 2022 ausreichend. Fachkundig vertreten beantragt die Klägerin:
Den Widerspruchsbescheid vom 30. November 2022 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er meint, wegen der Versagung vom 10. Oktober 2022 hätte es im Widerspruchsverfahren der Vorlage einer neuen, diesbezüglich konkreten Vollmachtsurkunde bedurft.
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung auf die übereinstimmende Anregung beider Prozessbeteiligten die Bildschirmoberflächen der elektronisch geführten Akten bzw. Postfächer sowohl des Rechtsanwalts als auch des Beklagten auf ihren jeweiligen Laptops in Augenschein genommen.
Die Inaugenscheinnahme des elektronischen Anwaltspostfachs hat ergeben, dass ausweislich der darin gespeicherten Dokumente eine durch die Klägerin selbst elektronisch signierte Datei am 23. November um 12.18 Uhr an den Beklagten unter der Angabe der Kundennummer der Klägerin erfolgreich übersandt worden war, wobei es sich augenscheinlich um eine auf den 01. August 2022 datierte Bevollmächtigung des Rechtsanwaltes handelte.
Die anschließende Inaugenscheinnahme der elektronischen Verwaltungsakte des Beklagten hat ergeben, dass am 23. November 2022 um 12.18 Uhr ein Schriftsatz des Rechtsanwalts bei dem Beklagten eingegangen war, dem als Anlage eine auf den 01. August 2022 datierte Vollmachtsurkunde beigefügt worden war. Auf der in der elektronischen Akte des Beklagten digital hinterlegten Vollmachtsurkunde selbst ist – anders als auf der im Anwaltspostfach ersichtlichen Vollmachtsurkunde vom selben Tag – aber die Unterschrift der Klägerin für die Richter und die Verfahrensbeteiligten nicht zu sehen durch das Gericht und die Verfahrensbeteiligten.
Ein weiterer Abgleich der elektronischen Datenträger hat nicht erkennen lassen, woran die Übermittlung der Signatur des auf den 01. August datierten Vordrucks für eine Vollmachtsurkunde in das Postfach des Beklagten gescheitert sein könnte. Soweit es für das Gericht ersichtlich ist, hat der Rechtsanwalt seinerseits am 23. November 2022 alles technisch Erforderliche getan, um dem Beklagten die am 01. August 2022 signierte Vollmachturkunde zu überlassen, was für den Beklagten jedoch infolge einer unvollständigen Datenübertragung im elektronischen Rechtsverkehr im elektronischen Behördenpostfach unmöglich ersichtlich war.
Wegen des weiteren Sachverhalts und Vorbringens wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht gibt der zulässigen und begründeten Klage vollumfänglich statt.
Die Anfechtungsklage ist zunächst zulässig.
Die Klage ist zulässiger Weise im Namen des hierzu von Seiten der Klägerin bevollmächtigten Rechtsanwalts erhoben worden. Indes kann hier dahinstehen, ob zur Bevollmächtigung für das Klageverfahren S 12 AS 3350/22 bereits allein die von der Klägerin am 01.08.2022 elektronisch signierte Vollmachturkunde ausreichend gewesen wäre. Hierfür spricht zumindest, dass sich die Vollmacht dem Wortlaut der Urkunde zufolge auch auf Folgeverfahren erstrecken sollte, und, dass es sich bei dem Verfahren S 12 AS 3350/22 um ein Folgeverfahren desjenigen Verfahrens handelte, für das die am 01.08.2022 elektronisch signierte Vollmachturkunde ursprünglich erteilt worden war, denn auch im vorangegangenen Verfahren hatte die Klägerin ihre Rechte verfolgt wegen eines Versagungsbescheides betreffend die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dessen ungeachtet hat die Klägerin jedenfalls in der mündlichen Verhandlung das Auftreten des Rechtsanwalts bzw. die in ihrem Namen erfolgte Klageerhebung im Verfahren S 12 AS 3350/22 genehmigt.
Die Klägerin hat im Verfahren S 12 AS 3350/22 auch einen statthaften Klageantrag stellen lassen. In Fällen der vorliegenden Art ist im sozialgerichtlichen Verfahren die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides mit dem Ziel seiner Aufhebung und der Nachholung der Zweckmäßigkeitsprüfung durch die Widerspruchsbehörde sachgerecht, weil infolge der Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig die Zweckmäßigkeitsprüfung des angefochtenen Bescheides durch die Widerspruchsbehörde unterlassen worden ist und das Gericht, wenn es selbst in die Sachentscheidung einträte, den Prüfungsumfang auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit beschränkte, sodass dem Kläger die Möglichkeit genommen würde, dass die Widerspruchsbehörde bei ihrer Ermessensausübung gemäß § 66 Abs .1 SGB I zu einem anderen Ergebnis gelangt als die Ausgangsbehörde (vgl. Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 78 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 22).
Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Das Gericht hat den angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 30. November 2022 antragsgemäß aufzuheben. Dieser ist rechtswidrig und verletzt eigene Rechte der Klägerin. Der Beklagte war nicht berechtigt, den Widerspruch vom 10. November 2022 gegen den Versagungsbescheid vom 10. Oktober 2022 als unzulässig zu verwerfen. Dies folgt aus § 13 SGB X.
Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB X können Beteiligte eines Verwaltungsverfahrens sich durch Bevollmächtigte vertreten lassen. Nach § 13 Abs. 1 S. 3 SGB X hat der Bevollmächtigte auf Verlangen seine Vollmacht schriftlich nachzuweisen. Wird die Vollmacht nicht innerhalb einer dafür gesetzten Frist beigebracht, so sind die bisherigen Verfahrenshandlungen unwirksam (von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 13 Rn. 4). Dies zieht zwingend die Verwerfung des Widerspruchs als unzulässig nach sich. Die Anforderung des Nachweises der Vollmacht muss nach ständiger Rechtsprechung regelmäßig mit einer angemessenen Frist und dem Hinweis verbunden sein, dass andernfalls der Widerspruch als unzulässig verworfen wird (für den Fall des Fehlens einer Prozessvollmacht im gerichtlichen Verfahren, BSG, Urteil vom 13.12.2000, B 6 KA 29/00 R, Rn. 16; für das Verwaltungsverfahren LSG Schleswig Holstein, Urteil vom 04.11.2008, L 4 KA 3/07 Rn. 27; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30.04.2013, L 3 AS 98/13 Rn. 19). Der Hinweis hat im Verhältnis zu dem vollmachtlos vertretenen Vertreter Anhörungs- und Warnfunktion. Daraus, dass im Verwaltungsverfahren eine Vollmacht nur "auf Verlangen" schriftlich nachzuweisen ist, folgt, dass die Behörde einen vollmachtlosen Vertreter einstweilen zulassen kann (von Wulffen a. a. O., Rn. 3). Die Gebote der Klarheit und der Fairness des Verfahrens erfordern eine eindeutige Aussage der Verwaltung, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, wie lange die Zulassung gelten soll und dass sie bei Nichtvorlage beabsichtigt ist, den Widerspruch als unzulässig zu verwerfen. Bei der Auslegung der von der Behörde erteilten Hinweise ist allerdings ein konkret- individueller Maßstab anzulegen (LSG Schleswig Holstein a. a. O. Rn. 28). Abzustellen ist darauf, ob der Bevollmächtigte die Folgen des Fehlens des Nachweises einer Vollmacht kannte und ob er in der konkreten Situation die behördlichen Hinweise dahin verstehen musste, dass keine Sachentscheidung ergehe, sondern sein Widerspruch als unzulässig verworfen werde.
Hier hat der Beklagte im Schreiben vom 22.11.2022 zwar eine Vollmachtsurkunde von dem Klägerbevollmächtigten verlangt. In diesem Schreiben hat er auch angekündigt, welche Rechtsfolgen die Nichtvorlage der Vollmacht haben würde. Allerdings hat der Beklagte dem Klägerbevollmächtigten erstens nur eine unangemessen kurze Frist bis zum Folgetag eingeräumt und ihn überdies nicht darauf hingewiesen, dass es seiner Rechtsauffassung zufolge im Widerspruchsverfahren wegen der Versagung vom 10. Oktober 2022 der Vorlage einer neuen, diesbezüglich konkreten Vollmachtsurkunde bedürfe, weil der Beklagte diejenige vom 01.08.2022 als unzureichende erachte.
Anlass zu einer diesbezüglichen Klarstellung bestand bereits, weil dem Beklagten die auf den 01. August datierte Vollmachturkunde betreffend den Klägerbevollmächtigten aus dem vorangegangenen Versagungsverfahren vorlag und deren Wortlaut ihre Erstreckung auf „Folgeverfahren“ ausdrücklich vorsah, sodass es in der konkreten Situation einer eindeutigen Aussage der Verwaltung bedurft hätte, dass sie das laufende Verfahren nicht als Folgeverfahren im Sinne der Vollmacht vom 01. August 2022 erachte.
Nach den Geboten der Klarheit und der Fairness des Verfahrens war im vorliegenden Einzelfall zudem spätestens eine diesbezüglich eindeutige Aussage der Verwaltung erforderlich, als der Klägerbevollmächtigte ihr im konkreten Widerspruchsverfahren gegen den Versagungsbescheid vom 10. Oktober 2022 die auf den 01. August 2022 datierte Vollmacht nochmal vorgelegt hatte, denn spätestens dann musste der Beklagte erkennen, dass sie deren Reichweite anders auslegte als der Klägerbevollmächtigte, und hierauf dementsprechend fair reagieren.
Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte aus seinem Behördenpostfach bzw. der darin elektronisch hinterlegten Vollmachturkunde vom 01. August 2022 nicht ersehen konnte, dass die Klägerin die beigebrachte Vollmachturkunde elektronisch signiert hatte. Wenn ein Rechtsanwalt einer Behörde auf die Anforderung einer Vollmachturkunde augenscheinlich nur einen nicht unterschriebenen Vordruck übersendet, ist die Behörde gehalten, von Amts wegen zu ermitteln, ob es sich hierbei um ein Versehen des Organs der Rechtspflege handelt, da ein nicht unterschriebener Formularverdruck ersichtlich zur Bevollmächtigung ungenügend wäre und dessen Überlassung einen menschlichen oder technischen Fehler im Übermittlungsvorgang vermuten lässt.
Nicht entscheidungserheblich ist daher im vorliegenden Fall, zu wessen Lasten es normativ geht, wenn der elektronische Rechtsverkehr dahingehend technisch versagt, dass kein Verfahrensbeteiligter erkennen kann, dass die zur Übermittlung abgesandten Daten entgegen der Sendebestätigung im Postfach des Absenders mit einem anderen Inhalt beim Empfänger elektronisch eingegangen sind.
Die jeweils am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmende Behörde der Sozialleistungsverwaltung trifft für Unzulänglichkeiten des elektronischen Rechtsverkehrs regelmäßig kein Organisationsverschulden (vgl. hingegen zur Sachverhaltsvariante einer unvollständigen elektronischen Behördenakte: SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 10. März 2023 – S 12 AS 2454/22 –, juris). Die Funktionsfähigkeit des elektronischen Rechtsverkehrs hat das Justizministerium zu gewährleisten, welches in Baden-Württemberg mit dieser Aufgabe gerichtsbekanntermaßen zuweilen überfordert scheint (vgl. SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 10. März 2023 – S 12 AS 2454/22 –, juris).
Dessen ungeachtet wird der Beklagte im Widerspruchsverfahren gegen seinen Versagungsbescheid vom 10. Oktober 2022 von Amts wegen prüfen dürfen, ob er sein Auswahlermessen hinsichtlich des Umfangs der Versagung in verfassungskonformer Weise ausgeübt hat (vgl. SG Karlsruhe, 09.05.2022, S 12 AS 2046/22, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen).
Die Entscheidung zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten folgt aus § 193 SGG und dem Obsiegen der Klägerin.
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