Ein die Anspruchsberechtigung nsch § 74 SGB XII ausschließender Verweis auf vorrangig Verpflichtete kommt zumindest dann nicht in Betracht, wenn im Zeitpunkt, in dem der Bedarf eintritt, feststeht, dass die vorrangig Verpflichteten minderjährig und mittellos sind.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin als Mutter der Verstorbenen auf Übernahme der Bestattungskosten gemäß § 74 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und dabei insbesondere um die Bedeutung der Rangfolge der Bestattungspflichtigen gemäß § 8 Abs. 3 des Niedersächsischen Gesetzes über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswesen (NBestattG).
Die J. geborene Klägerin wohnt in Wilhelmshaven und bezog mindestens seit Juni 2015 bis Januar 2021 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Beklagte und Berufungsklägerin ist örtlicher Sozialhilfeträger. Am K. verstarb in einem Krankenhaus in Wilhelmshaven die im L. geborene Tochter der Klägerin. Diese bezog bis dahin ebenfalls existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II und war zum Zeitpunkt ihres Todes unverheiratete Mutter von vier minderjährigen Kindern, geboren in den Jahren M., die seinerzeit in Pflegefamilien lebten. Die Verstorbene hatte eine Schwester und einen Bruder. Der Vater war bereits verstorben. Die Klägerin schlug die Erbschaft am 16. August 2016 durch Erklärung gegenüber dem Nachlassgericht aus. Zuvor hatte bereits das Jugendamt Erbausschlagungserklärungen für die drei jüngeren Kinder abgegeben. Das Nachlassgericht teilte im November 2016 mit, dass auch das älteste der vier Kinder eine Erbausschlagungserklärung abgegeben habe. Die Klägerin veranlasste für Anfang N. die Trauerfeier für ihre Tochter, die Einäscherung und anschließende Seebestattung. Die Kosten beliefen sich ausweislich der vorliegenden Rechnungen auf 2.233,41 € für des Bestattungsunternehmen Novis. Darin enthalten waren 720 € für die Kremierung, 80 € für ein Sarggesteck sowie 25 € für die Nutzung der Leichenhalle der Klinik. Die übrigen Kosten von 1.408,41 € umfassten den Aufwand für einen Kiefernsarg, Träger zur Überführung, Kühlraumbenutzung bis zur Einäscherung und die Nutzung der Andachtshalle inkl. Deko und Musikanlage.
Am 12. August 2016 stellte die Klägerin unter Hinweis auf ihre Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Bestattungskosten gemäß § 74 SGB XII. Die Ermittlungen der Beklagten ergaben, dass kein Nachlass vorhanden war und alle bekannt gewordenen und in Frage kommenden Erben Erbausschlagungserklärungen abgegeben hatten. Mit Bescheid vom 22. Februar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Bestattungskosten ab, weil sie keine Verpflichtete sei. Sie habe zwar die Bestattung in Auftrag gegeben. Anspruchsberechtigt im Sinne des § 74 SGB XII sei aber nur die Person, die auch zur Kostentragung verpflichtet sei. Eine solche Pflicht ergebe sich im vorliegenden Fall nicht aus erbrechtlichen und unterhaltsrechtlichen Bestimmungen, könne sich aber auch aus ordnungsbehördlichen Vorschriften, z. B. aus Bestattungsgesetz, ergeben. In Niedersachsen sei die Bestattungspflicht in § 8 Abs. 3 NBestattG geregelt. Nach dortiger Reihenfolge seien die Kinder des Verstorbenen vorrangig verpflichtet. Mit am 16. März 2017 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben vom 14. März 2017 legte die Klägerin Widerspruch ein und wies darauf hin, dass die Kinder der Verstorbenen alle nicht leistungsfähig seien und sie sich doch um die Bestattung habe kümmern müssen. Aus § 8 Abs. 4 Satz 4 NBestattG ergebe sich, dass die Verpflichtung auf den nächsten in der Reihenfolge übergehe, wenn ein Verpflichteter nicht leistungsfähig sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2017 als unbegründet zurück und vertrat darin die Auffassung, dass eine finanzielle Überforderung die primäre Verpflichtung gemäß § 8 Abs. 3 NBestattG nicht entfallen lasse. Eine Ersatzvornahme durch das Ordnungsamt sei auch nicht erfolgt. Am 24. Mai 2017 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Mit Gerichtsbescheid vom 25. August 2021 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Mai 2017 aufgehoben und die Beklagte zur Übernahme der Kosten für die Bestattung in Höhe von 2.233,41 € „aus Mitteln der Sozialhilfe“ verurteilt. Die Klägerin sei entgegen der Auffassung der Beklagten Verpflichtete im Sinne des § 74 SGB XII, da der Rangfolge der Verpflichteten in § 8 Abs. 3 NBestattG keine Sperrwirkung vorheriger Ränge gegenüber späteren Rängen innewohne. Die genannte Regelung könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass allein das Vorhandensein vorrangig bestattungspflichtiger Personen eine Bestattungspflichtigkeit der Klägerin zwangsläufig ausschließe. Die Kosten seien auch angemessen und erforderlich und eine Kostentragung der Klägerin nicht zuzumuten.
Am 28. September 2021 hat die Beklagte gegen den ihr am 31. August 2021 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, die Klägerin sei nicht Verpflichtete i.S. von § 74 SGB XII. Verpflichtete in diesem Sinne könnten allenfalls die Kinder der Verstorbenen sein. Eine Verpflichtung der Klägerin ergebe sich entgegen der Lesart des SG nicht aus § 8 Abs. 3 NBestattG; aus dieser nach ihrem Wortlaut eindeutigen Regelung folge, dass es für die Stellung als Verpflichteter auf die dort genannte Rangfolge der Bestattungskostentragungspflicht ankomme. § 8 Abs. 4 Satz 4 NBestattG stehe dem nicht entgegen. Diese Regelung gelte nur für Fälle, in denen die Bestattung behördlicherseits veranlasst worden sei; in diesen Fällen soll die Behörde nicht das Kostenrisiko tragen müssen, sondern sich an die nachrangig Verpflichteten halten dürfen, wenn von dem vorrangig Verpflichteten die Kosten nicht erlangt werden könnten. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung, die ähnliche Sachverhalte und teilweise Landesrecht anderer Bundeländer betreffen würde, stütze die Sichtweise der Beklagten. Auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung aus Niedersachsen lasse den Schluss zu, dass entscheidend sei, wenn es vorrangig Verpflichtete gebe, z.B. auch dann, wenn diese minderjährig und mittellos seien. Es sei mithin davon auszugehen, dass eine vorrangige Rangfolge die nachfolgenden Rangfolgen ausschließe. Den vorrangig Verpflichteten solle kein Argument an die Hand gegeben werden, um die Erfüllung der Bestattungspflicht zunächst aufzuschieben und abzuwarten, ob eine andere Person für eine Bestattung sorge. Ohne Sperrwirkung könnte unter mehreren Personen unterschiedlicher Ränge ansonsten jeweils die am wenigsten zahlungsfähige Person eines späteren Ranges die Bestattung in Auftrag geben und einen Anspruch gemäß § 74 SGB XII erlangen, während solvente vorrangige Personen einer Kostentragungspflicht bewusst entgehen könnten. Einer derartigen Auslegung stehe der Nachranggrundsatz des § 2 SGB XII entgegen. Die geltend gemachten Kosten seien im Übrigen auch der Höhe nach nicht angemessen, sondern allenfalls ein Betrag von 2.072,21 €, weil weder die Deko der Andachtshalle noch die Nutzung der Musikanlage erforderlich gewesen sein dürften, ebenso wenig ein Sarggesteck für 80 €.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. August 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie geht mit dem SG davon aus, dass der Gesetzgeber mit der Reihenfolge im NBestattG keine Ausschlusswirkung habe dokumentieren wollen. Auch spreche § 74 SGB XII nur von „hierzu Verpflichteten“; dazu gehöre aber auch die Klägerin. Außerdem sei fraglich und hätte von der Beklagten geprüft werden müssen, ob die Kinder aufgrund der Entziehung der elterlichen Sorge und Fremdunterbringung als Zeichen für eine vorangegangene Kindeswohlgefährdung wirklich zwingend bestattungspflichtig wären. Hinsichtlich der Angemessenheit der Kosten mache sich die Klägerin die Ausführungen des SG im Gerichtsbescheid zu eigen.
Auf Aufforderung des Senats hat die Beklagte nach Rücksprache mit dem dortigen Jugendamt mitgeteilt, dass die O. geborenen Kinder der Verstorbenen bei Pflegeeltern leben würden und mittellos seien. Das P. geborene Kind der Verstorbenen ist danach 2017 adoptiert worden.
Mit Schriftsätzen vom 30. November und 1. Dezember 2022 haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den vorliegenden Verwaltungsvorgang der Beklagten, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis im Sinne des § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt haben.
Die im Sinne des § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Die angefochtene Entscheidung des SG ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand des Berufungsverfahrens sind der Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 25. August 2021 sowie der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 22. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Mai 2017 und damit in der Sache der geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten der Bestattung ihrer Tochter gemäß § 74 SGB XII. Das SG hat die Beklagte zur Übernahme der geltend gemachten Kosten verurteilt.
Der Gerichtsbescheid des SG erweist sich als rechtmäßig. Die Beklagte ist zur Übernahme der geltend gemachten Bestattungskosten verpflichtet. Gemäß § 74 SGB XII werden die erforderlichen Kosten einer Bestattung vom zuständigen Sozialhilfeträger übernommen, soweit den hierzu Verpflichteten nicht zugemutet werden kann, die Kosten zu tragen. Die Berufungsklägerin war für die konkrete Leistung gemäß § 98 Abs. 3 SGB XII örtlich und gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nds. AG SGB XII 2004 (heute § 3 Abs. 2 Nds. AG SGB IX/XII) auch sachlich zuständig. Die Klägerin erfüllte zum maßgeblichen Zeitpunkt in ihrer Person die Anspruchsvoraussetzungen des § 74 SGB XII. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zumutbarkeit ist dabei der Zeitpunkt der Fälligkeit der Kosten (vgl. BSG, Urteil vom 29. September 2009 – B 8 SO 23/08 R – juris Rn. 17; vgl. Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand: 20. Februar 2023, § 74 Rn. 50). Der Zahlungsanspruch des Bestattungsunternehmens Novis aus der Rechnung vom 16. August 2016 war mit Erhalt der Rechnung fällig. Die Klägerin ist Verpflichtete im Sinne von § 74 SGB XII. Die Verpflichtung, die Kosten einer Bestattung zu tragen, wird in § 74 SGB XII nicht näher umschrieben oder definiert. Sie kann insbesondere erbrechtlich (vgl. § 1968 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) oder unterhaltsrechtlich (vgl. § 1615 Abs. 2 BGB) begründet sein, aber auch aus landesrechtlichen Bestattungspflichten hergeleitet werden (vgl. BSG, Urteil vom 29. September 2009 – B 8 SO 23/08 R – juris Rn. 13; siehe auch Schellhorn in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl. 2023, § 74 Rn. 5; Kaiser in: Rolfs/Giesen/Maßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand 12/2022, § 74 SGB XII Rn 4). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verpflichtung der Klägerin nicht aus einer vertraglichen Vereinbarung, aufgrund der Erbausschlagung auch nicht aus Erbrecht und wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit der Klägerin auch nicht aus unterhaltsrechtlichen Bestimmungen (§ 1615 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 1601, 1603 Abs. 1 BGB). Eine Verpflichtung der Klägerin ergibt sich jedoch aus § 8 Abs. 3 NBestattG in der Fassung vom 8. Dezember 2005. Gemäß § 8 Abs. 1 und 2 NBestattG sind Leichen zu bestatten oder zu verbrennen. Gemäß § 8 Abs. 3 NBestattG haben für die Bestattung der verstorbenen Person in folgender Rangfolge zu sorgen:
1. die Ehegattin oder der Ehegatte oder die eingetragene Lebenspartnerin oder der eingetragene Lebenspartner,
2. die Kinder,
3. die Enkelkinder,
4. die Eltern,
5. die Großeltern und
6. die Geschwister.
Die hieraus resultierende Bestattungspflicht der Klägerin regelt zwar nicht die Verpflichtung, die Kosten der Beerdigung zu tragen, wie dies z.B. § 1968 oder § 1615 Abs. 2 BGB tun; aus der Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Erstattungspflicht resultieren aber Kosten wie Entgeltansprüche des Bestattungsunternehmers, die Gegenstand der übernahmefähigen Kostenverpflichtung i.S. des § 74 SGB XII sind (BSG, a.a.O.). Die Klägerin als Mutter der Verstorbenen war nach den dargelegten Maßgaben des § 8 Abs. 3 NBestattG an viertem Rang verpflichtet, die vier minderjährigen Kinder an zweitem Rang. Die Kinder waren demnach grundsätzlich vorrangig verpflichtet. Weder die Minderjährigkeit noch die Mittellosigkeit standen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung der Kinder entgegen (vgl. Verwaltungsgericht [VG] Lüneburg, Urteil vom 14. Juli 2022 – 2 A 59/21 – juris Rn. 31; VG Hannover, Urteil vom 25. Juli 2019 – 1 A 2188/17 – juris Rn. 17). Gleichwohl gehörte die Klägerin aber zum Kreis der nach öffentlichem Recht grundsätzlich in Betracht kommenden Bestattungsverpflichteten, so dass nach Überzeugung des Senats im vorliegenden Einzelfall eine Verpflichtung im Sinne des § 74 SGB XII anzunehmen ist. Die Tatsache, dass nach Landesrecht vorrangig verpflichtete Personen existieren, schließt nicht von vornherein und generell aus, dass ein nachrangig Verpflichteter Verpflichteter i.S. von § 74 SGB XII sein kann (so auch Schellhorn in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl. 2023, § 74 Rn. 6). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang – im Hinblick auf das vorliegend zur Anwendung kommende niedersächsische Landesrecht – zunächst auf § 8 Abs. 4 Satz 4 NBestattG, wonach nachrangig Verpflichtete an die Stelle der vorrangig Verpflichteten treten, wenn eine Gemeinde eine Bestattung ordnungsbehördlich veranlasst hat, wegen der Kosten auf die Bestattungspflichtigen gemäß Absatz 3 zugreift und sich die Kosten von den vorrangig Verpflichteten nicht erlangen lassen. Zwar betrifft diese Regelung
Konstellationen, in denen die Bestattung behördlicherseits veranlasst worden ist und in der Folge die Behörde die Kosten gegenüber verpflichteten Personen geltend machen möchte. Dennoch kommt durch die Regelung durchaus zum Ausdruck, dass der Rangfolge in § 8 Abs. 3 NBestattG nach dem Willen des Landesgesetzgebers ordnungsrechtlich keine absolute Sperrwirkung zukommen soll (vgl. Siefert in: jurisPK-SGB XII, Stand: 20. Februar 2023, § 74 Rn. 36 [Fn. 63]). Gleichwohl ist im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 74 SGB XII der in § 2 Abs. 1 SGB XII normierte Nachranggrundsatz der Sozialhilfe, auf den die Beklagte zutreffend hingewiesen hat, zu beachten. Auch aus Sicht des erkennenden Senats muss gewährleistet sein, dass im Falle mehrerer in Betracht kommender Verpflichteter die Bestattung nicht absichtlich dem wirtschaftlich Schwächsten überlassen wird, damit dieser einen Antrag nach § 74 SGB XII beim zuständigen Sozialleistungsträger stellen kann und die Kosten auf diese Weise der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Allein ein Verweis auf den Nachranggrundsatz kann eine Ablehnung eines Anspruchs aus § 74 SGB XII bei Vorhandensein vorrangig Verpflichteter dabei nicht rechtfertigen, denn dem Nachranggrundsatz als einem Gebot der Sozialhilfe im Sinne eines Programmsatzes allein kommt keine Ausschlusswirkung zu (siehe dazu BSG, Urteil vom 23. März 2021 – B 8 SO 2/20 R – juris Rn. 13; zum Nachranggrundsatz im Rahmen des § 74 SGB XII siehe auch Gotzen in: ZfF 2021, 253, 255). In der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Lösungsansätze diskutiert, ob und inwieweit ein Anspruch nach § 74 SGB XII auch einem nur nachrangig Verpflichteten zustehen kann und wie zugleich dem Nachranggrundsatz im Zusammenhang mit § 74 SGB XII Genüge getan werden kann (vgl. zur Problematik Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 5. EL 2022, § 74 Rn. 5b; Schellhorn in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl. 2023, § 74 Rn. 6; Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 74 Rn. 36; Strnischa in: Oestreicher/Decker, SGB II-SGB XII, Stand: März 2022, § 74 SGB XII Rn. 8). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg geht vor dem Hintergrund spezifischer Regelungen im dortigen Landesrecht davon aus, dass eine Bestattungspflicht nachrangiger Verpflichteter nicht besteht, wenn ein greifbarer und nicht verhinderter vorrangig Verpflichteter vorhanden ist. Nur bei Verhinderung oder Nichtgreifbarkeit des vorrangig Verpflichteten könne demnach auch eine nachrangige Person als Verpflichtete im Sinne des § 74 SGB XII in Betracht kommen (Urteil vom 25. April 2013 – L 7 SO 5656/11 – juris Rn. 27). Andere LSG kehren das Regel-Ausnahme-Verhältnis um und lassen auch eine nachrangige Verpflichtung für den anspruchsbegründenden Tatbestand des § 74 SGB XII grundsätzlich ausreichen. Nach Auffassung beispielsweise des LSG Schleswig-Holstein sei der Verweis auf vorrangig Verpflichtete als Grund für eine Ablehnung eines Anspruchs aus § 74 SGB XII allenfalls dann möglich, wenn deren Existenz und Identität endgültig und unwiderruflich feststehe (Urteil vom 25. September 2019 – L 9 SO 8/16 – juris Rn. 34 - 39). Das LSG Mecklenburg-Vorpommern bejaht für nachrangig Verpflichtete eine Verpflichtung im Sinne des § 74 SGB XII sogar auch dann, wenn eine vorrangige Bestattungspflicht aus Erbrecht besteht, und diskutiert die Frage des Rückgriffs auf den vorrangig verpflichteten Erben im Rahmen der Zumutbarkeit der Kostentragung (Urteil vom 10. März 2022 – L 9 SO 12/19 – juris Rn. 29 und 33).
Der Senat kann unter Berücksichtigung der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles offenlassen, ob grundsätzlich auch öffentlich-rechtlich nachrangig zur Bestattung verpflichtete Personen als Verpflichtete i.S. von § 74 SGB XII in Betracht kommen, so dass der Nachranggrundsatz sowie die Frage, ob der Verpflichtete als nachrangig Verpflichteter auf vorrangige Ansprüche (gegen vorrangig Verpflichtete) verwiesen werden kann, im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „Zumutbarkeit“ zu prüfen ist (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O.; Schlette a.a.O.), oder ob es Fallkonstellationen gibt – etwa die feststehende Existenz und Nichtverhinderung bzw. Leistungsfähigkeit eines vorrangig Verpflichteten –, die es ausschließen, dass eine nachrangig verpflichtete Person als Verpflichteter i.S. von § 74 SGB XII angesehen werden kann (vgl. LSG Schleswig-Holstein, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Denn es war vorliegend – insbesondere für die Klägerin – von Anfang an offenkundig und unzweifelhaft, dass die Kinder der Verstorbenen aufgrund ihres damaligen Alters – das älteste Kind war bei Tod der Mutter noch keine sieben Jahre alt – und ihrer Mittellosigkeit die Bestattung ihrer Mutter weder veranlassen noch bezahlen konnten. Hinzu kommt die damalige Unterbringung der Kinder in verschiedenen Pflegefamilien unter Obhut des Jugendamts. Insoweit bestehen zudem Zweifel, inwieweit die Klägerin überhaupt den genauen Aufenthaltsort der Kinder der Verstorbenen kannte und in der Lage gewesen wäre, innerhalb der bis zur Durchführung der Bestattung kurzen Zeitspanne Kontakt zu diesen herzustellen. Es liegt damit ein Fall eines offenkundigen und nicht willentlichen Ausfalls der vorrangig Verpflichteten vor. Die Klägerin durfte unter diesen besonderen Umständen von vornherein davon ausgehen, dass die Kinder sich weder aktiv noch finanziell um die Bestattung kümmern würden. Der Senat geht nach alledem davon aus, dass insbesondere auch nach der zitierten Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg bzw. des LSG Schleswig-Holstein eine Verpflichtung sowie eine Leistungsberechtigung der Klägerin im Sinne des § 74 SGB XII in Betracht kommt. Im Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg, wonach eine Bestattungspflicht der Klägerin aufgrund der vorhandenen vorrangig verpflichteten Kinder dem Grunde nach wohl verneint würde, ist zu berücksichtigen, dass – vor dem Hintergrund der spezifischen landesrechtlichen Regelung – der dort gesehene Ausnahmefall zum Tragen käme, weil die vorrangig Verpflichteten zwar bekannt und vielleicht greifbar sind, jedoch aber als „verhindert“ gelten können. Die zitierte Rechtsprechung des LSG Schleswig-Holstein versteht der Senat dahingehend, dass die Formulierung, dass danach ein die Anspruchsberechtigung nach § 74 SGB XII ausschließender Verweis auf vorrangig Verpflichte „allenfalls“ dann in Betracht kommen kann, wenn im Zeitpunkt, in dem der Bedarf eintritt, die Existenz und Identität des vorrangig Verpflichteten bereits endgültig und unwiderruflich feststeht, darauf hinweist, dass auch die Existenz vorrangig Verpflichteter gerade nicht stets zum Ausschluss der Anspruchsberechtigung von nachrangig Verpflichteten führt. Eine abweichende Beurteilung dürfte in Fallkonstellationen wie der vorliegenden in Betracht kommen, wobei offenbleiben kann, ob aus der damaligen Sicht der Klägerin Aufenthalt und Identität der Kinder der Verstorbenen tatsächlich vollständig festgestanden haben. Die Klägerin kann auch unter Beachtung des Nachranggrundsatzes nicht auf die vorrangig verpflichteten minderjährigen Kinder verwiesen werden, da diese weder handlungsfähig noch leistungsfähig waren. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch der Sinn und Zweck des § 74 SGB XII, eine würdige Bestattung zu gewährleisten und finanziell schwache Hinterbliebene darin zu bestärken, sich gleichwohl um die Bestattung eines Angehörigen zu kümmern und die damit verbundenen Kosten (vorerst) auf sich zu nehmen, um so im Interesse der Würde des Verstorbenen und seiner Angehörigen, aber auch im Interesse der Entlastung der Ordnungsverwaltung ein sonst erforderliches ordnungsbehördliches Eingreifen zu verhindern, auch wenn sie wissen, dass sie die Kosten selbst nicht endgültig werden tragen können (vgl. nur Schlette in: Hauck/Noftz, Stand: 5. EL 2022, § 74 Rn. 1a; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O. unter Hinweis auf BT-Drucks. 3/2673, 4). Dieser Zweck wäre verfehlt, wenn Hinterbliebene bei Beauftragung des Bestattungsunternehmens – selbst in dem Wissen, dass vorrangig Verpflichtete verhindert sind - nicht sicher abschätzen könnten, ob sie letztlich den sozialhilferechtlichen Anspruch geltend machen können oder auf den entstandenen Kosten am Ende sitzen bleiben.
Die Kostentragung war der Klägerin im Übrigen auch nicht zumutbar. Der Beurteilungsmaßstab dafür, was dem Verpflichteten zugemutet werden kann, bestimmt sich zunächst nach den allgemeinen Grundsätzen des Sozialhilferechts, wobei stets die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind (BSG, Urteil vom 4. April 2019 – B 8 SO 10/18 R – juris Rn. 14; BSG, Urteil vom 29. September 2009 - B 8 SO 23/08 R – juris Rn. 16 ff.). Neben den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verpflichteten können im Rahmen der Zumutbarkeit aber auch Umstände eine Rolle spielen, die im Allgemeinen sozialhilferechtlich unbeachtlich sind, denen jedoch vor dem Hintergrund des Zwecks des § 74 SGB XII Rechnung getragen werden muss (BSG, Urteil vom 4. April 2019 – B 8 SO 10/18 R – juris Rn. 15). Der gerichtlich voll überprüfbare Begriff der Zumutbarkeit ist damit nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls auszulegen (BSG, a. a. O., m. w. N.). Dabei macht das Wort "soweit" in § 74 SGB XII deutlich, dass in Fällen, in denen dem Verpflichteten die Kostentragung nur teilweise zuzumuten ist, die Sozialhilfe die Restkosten zu übernehmen hat. Eine besondere Bedeutung kommt gleichwohl im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit zunächst den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verpflichteten zu; liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII oder SGB II vor, ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG regelmäßig von Unzumutbarkeit auszugehen (BSG, a. a. O.). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der finanziellen Unzumutbarkeit und damit der Bedürftigkeit ist dabei nach Sinn und Zweck der Regelung des § 74 SGB XII sowie nach allgemeinen sozialhilferechtlichen Grundsätzen die Fälligkeit im Sinne von § 271 BGB der jeweiligen Forderungen, die den Bestattungskosten zugrunde liegen; denn der "Leistungsfall" ist die Verbindlichkeit, nicht die erforderliche Bestattung selbst (BSG, Urteil vom 4. April 2019 – B 8 SO 10/18 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 25. August 2011 - B 8 SO 20/10 R – juris Rn. 25; BSG, Urteil vom 29. September 2009 – B 8 SO 23/08 R – juris Rn. 17). Nach diesen Maßgaben war der Klägerin eine Kostentragung aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar, da sie zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung des Bestattungsunternehmens Novis im August 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezog. Zugleich war es ihr nicht zuzumuten, sich an die minderjährigen und mittellosen Kinder der verstorbenen Tochter zu halten, da offenkundig war, dass von dort die entstandenen Kosten nicht übernommen bzw. erstattet werden konnten.
Die eingeklagten Kosten der Bestattung waren auch erforderlich und angemessen. Erforderlich sind dabei nur solche Kosten, die unmittelbar der Bestattung dienen und untrennbar und notwendigerweise mit der Durchführung der Bestattung verbunden sind (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2019 – B 8 SO 10/18 R – juris Rn. 13). Entgegen der Auffassung der Beklagten bewertet der Senat unter vergleichender Beachtung der zu diesem Punkt bestehenden umfangreichen Kasuistik die Kosten für die Dekoration des Andachtsraums (56 €), die Nutzung der Musikanlage (26 €) und das Sarggesteck (80 €) dem Grunde und der Höhe nach als angemessen (zur Kasuistik siehe z. B. Darstellung von Schlette in: Hauck/Noftz, Stand: 5. EL 2022, § 74 Rn. 17/18 m. w. N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG lagen nicht vor.