L 10 VE 70/17

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
1. Instanz
SG Bremen (NSB)
Aktenzeichen
S 50 VE 8/14
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 10 VE 70/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zur Zulässigkeit von Feststellungsanträgen nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG im Opferentschädigungsrecht. Zur Verwertung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Opferaussagen.

Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. September 2017 wie folgt geändert:

Der Bescheid des Versorgungsamtes Cottbus vom 30. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Soziales und Versorgung Cottbus vom 25. März 2014 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge festzustellen und diese seit März 2012 mit einem Grad der Schädigungsfolgen von zumindest 50 zu bewerten.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. September 2017 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen zu tragen.

 

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um die Gewährung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).

Die E. geborene Klägerin beantragte im März 2012, ihr Leistungen nach dem OEG zu gewähren, da sie in ihrer Jugend von ihrem Vater sexuell missbraucht und gewalttätig behandelt worden sei. Das damals zuständige Land Brandenburg leitete Ermittlungen ein und zog insbesondere medizinische Unterlagen über die Behandlungsgeschichte der Klägerin bei.

Hieraus ergibt sich unter anderem folgendes: Die Klägerin, die ausgebildete Wirtschaftsassistentin und Physiotherapeutin ist, ist auf dem Gebiet des heutigen Landes Brandenburg in der damaligen DDR geboren worden. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr lebte sie mit ihrer Mutter, ihrer später geborenen Schwester und ihrem leiblichen Vater zusammen. Dann trennte sich die Mutter von dem leiblichen Vater. Die Klägerin lebte zunächst mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammen. Später zog sie mit Mutter und Schwester zu ihrem Stiefvater. Die Klägerin hat das Elternhaus im 16. Lebensjahr verlassen und vor ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin absolviert. Die Klägerin bezieht seit Februar 2012 Erwerbsminderungsrente.

Bei der Klägerin ist schwerbehindertenrechtlich ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt (Bescheid vom 31. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2021). Dem liegen folgende Funktionsstörungen zu Grunde:

 

  • Hydrozephalus (Einzel-GdB 40)
  • Psychische Störung (Einzel-GdB 50)
  • Schlaf-Apnoe-Syndrom (Einzel-GdB 20)
  • Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20)
  • Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (Einzel-GdB 20)

 

Die Klägerin war erstmals in den Jahren 2001 und 2002 in psychotherapeutischer Behandlung bei der Psychotherapeutin H., die in ihrem Befundbericht vom 1. Mai 2012 davon spricht, sie habe bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung gesehen. Die Klägerin habe ihr von Gewalttaten ihres Vaters berichtet.

Spätestens seit dem Jahr 2006 steht die Klägerin in psychiatrischer Behandlung. Bei einem ersten teilstationären psychiatrischen Aufenthalt im Krankenhaus Angermünde vom 22. November 2006 bis zum 19. März 2007 standen Konflikte im Arbeitsverhältnis im Mittelpunkt der Behandlung. Anlässlich des Aufenthalts gab die Klägerin aber auch an, ihr Vater sei gewalttätig und alkoholabhängig gewesen. Ihre Mutter habe sich wegen dessen Gewaltausübung gegen die ganze Familie von ihm getrennt. Ihr Stiefvater habe dann später psychische Gewalt gegen sie ausgeübt. Das Krankenhaus berichtet in seinem Entlassungsbericht vom 21. Mai 2007 über den Verlauf der Therapie, zunächst hätten die Arbeitsplatzkonflikte im Vordergrund gestanden; dann seien aber die Missbrauchserfahrungen der Klägerin zum Gegenstand geworden.

In Anschluss an diese teilstationäre Maßnahme war die Klägerin vom 27. März 2007 bis zum 15. Mai 2007 stationär in der F.. Die dortigen Behandler berichten in ihrem Entlassungsbericht, sie hätten bei der Klägerin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Neben dem Arbeitsplatzkonflikt waren auch dort die familiären Erfahrungen der Klägerin mit dem alkoholkranken und gewalttätigen Vater Gegenstand der therapeutischen Arbeit. Die Klägerin hat auch dort angegeben, der Vater habe sowohl gegen die Mutter als auch gegen die Kinder Gewalt ausgeübt.

In der Zeit vom 13. Juli bis zum 10. August 2011 befand sich die Klägerin in einer Reha-Maßnahme in Bad Saulgau. Im Entlassungsbericht vom 1. September 2011 wird als Einweisungsdiagnose eine nicht näher bezeichnete depressive Episode mitgeteilt. Erstmals im Jahre 2002 sei eine ängstlich depressive Symptomatik aufgetreten. Sie habe sich 2009 von ihrem Ehemann getrennt. Dies habe zu einer psychotherapeutischen Behandlung ihres Sohns geführt. In ihrer Jugend sei das Elternhaus ängstigend, aggressiv, autoritär, kontrollierend, launisch, leistungsorientiert und streng gewesen. Es sei auch zu Gewalttätigkeiten gekommen. Der Stiefvater habe dann später gegenüber der Klägerin psychische Gewalt ausgeübt. Die Klägerin gab an, sie sei im Elternhaus gewalttätig behandelt worden. Anlässlich dieses Aufenthalts hat die Klägerin an einer Gruppe für traumatisierte Frauen teilgenommen. Im Behandlungsverlauf – so wird weiter berichtet – hätten sich zunehmend Intrusionen ergeben. Die Klinik sah die Notwendigkeit, die Klägerin - direkt im Anschluss an den Aufenthalt - in tagesklinische Behandlung zu überweisen. Im Hinblick auf das Reha – Ergebnis wird von einer Traumafolgestörung gesprochen. In der sozialmedizinischen Epikrise geht die Klinik vom Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus. Hinweise auf sexuellen Missbrauch finden sich in diesem Entlassungsbericht nicht.

Im Oktober 2011 erstattete die Klägerin Strafanzeige gegen ihren Vater. Das Strafverfahren stellte die Staatsanwaltschaft in Cottbus mit Bescheid vom 14. Dezember 2011 wegen Verjährung ein. Der Vater der Klägerin ist im März 2012 verstorben.

Das Land Brandenburg zog ergänzend einen Befundbericht der Psychotherapeutin G. und einen Entlassungsbericht des H. Klinikums Dr. I. über einen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 13. Juli bis zum 30.8.2012 bei. In diesem Entlassungsbericht wird vom Vorliegen einer komplexen PTBS ausgegangen. Die Klägerin habe im Verlauf des Aufenthaltes immer wieder von überflutenden flashback – Erinnerungen berichtet. Sie habe auch über sexualisierte, familiäre Gewalterfahrungen berichtet. Weiter wird mitgeteilt, die Klägerin habe zur Verbesserung ihres Krankheitsverständnisses und der Selbstakzeptanz ausführliche psychoedukative Informationen über Traumastörungen erhalten. Das verstehen des im Rahmen der Gruppentherapie erarbeiteten Modells der PTBS habe die Vertiefung der Einsichten über das Herstellen lebensgeschichtlicher Zusammenhänge in der Einzeltherapie ermöglicht. Sie sei indessen im Verlauf der Behandlung nicht traumaexponiert worden.

Das Land Brandenburg zog ergänzend einen Befundbericht der Diplom-Psychologin J. vom 23. Juli 2013 bei, die ebenfalls vom Vorliegen einer komplexen PTBS ausging. Derzeit befinde sich die Klägerin in einer zweijährigen Wartephase, da das Höchstkontingent für Psychotherapie ausgeschöpft sei. Auch die die Klägerin behandelnde Neurologin K. ging in ihrem Befundbericht vom 5. August 2013 vom Vorliegen einer komplexen PTBS bei der Klägerin aus.

Das Land Brandenburg zog eine schriftliche Zeugenaussage der Mutter der Klägerin von Januar 2013 bei. Diese berichtete, sie habe erst 2008 von ihrer Tochter erfahren, dass diese auch sexuell missbraucht worden sei. Ihre eigene Schwester habe ihr aber bereits 1986 berichtet, diese sei vom Vater der Klägerin sexuell missbraucht worden. Die eheliche Beziehung zum Vater der Klägerin sei zunehmend von Gewalt geprägt gewesen. Die psychische Belastung sei für sie und ihre Töchter irgendwann unerträglich geworden. Sie hat in ihrer schriftlichen Zeugenaussage auch eine Szene im Badezimmer geschildert, in der sich die badenden Töchter von Blicken des Vaters bedrängt gefühlt hätten. Der Vater habe seinen Verbleib im Badezimmer mit Gewalt gegen sie durchsetzen wollen. Zwar habe sie damals nicht an sexuellen Missbrauch gedacht, bewerte dies aber aus heutiger Sicht anders.

Die schriftlich ebenfalls befragte Schwester der Klägerin gab in ihrer Aussage vom 5. August 2013 ebenfalls an, sie habe erstmals 2008 von ihrer Schwester von dem Missbrauch erfahren. Für die Familie sei es aber insgesamt kennzeichnend, dass man sehr schlecht über derartige Dinge reden könne. Sie wisse aber sowohl von ihrer Tante als auch von ihrer Mutter, dass diese vom Vater vergewaltigt worden seien.

Das Land Brandenburg lehnte mit hier angefochtenem Bescheid vom 30. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2014 die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente ab. Zur Begründung stellte es im Wesentlichen darauf ab, es hätten sich trotz intensiver Ermittlungen auch zur medizinischen Vorgeschichte der Klägerin keine objektiven Hinweise auf sexuellen Missbrauch der Klägerin in ihrer Jugend finden lassen.

Am 17. April 2014 ist Klage erhoben worden.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte von Dr. L., der Neurologin und Psychiaterin K., Dr. M. und der Diplom-Psychologin J. beigezogen. Während des laufenden Klageverfahrens ist bei der Klägerin mit Bescheid vom 10. November 2016 schwerbehindertenrechtlich ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt worden. Das Versorgungsamt Bremen ging bei dieser Entscheidung vom Vorliegen einer Funktionsstörung auf psychiatrischem Gebiet aus, die mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten sei.

Die Großmutter der Klägerin verweigerte auf Fragen des SG eine Aussage in dem Verfahren. Anlässlich der mündlichen Verhandlung am 14. September 2017 hat das SG sowohl die Klägerin als auch ihre Mutter und ihre Schwester als Zeuginnen gehört. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen. Das SG hat die Klägerin veranlasst, einen Feststellungsantrag zu stellen. Mit Urteil vom selben Tage hat das SG festgestellt, die Klägerin sei Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs in Form von sexuellem Missbrauch in der Zeit von 1979-1986 durch ihren Vater Manfred Schubert geworden.

Gegen das am 26. September 2017 zugestellte Urteil hat das Land Brandenburg am 23. Oktober 2017 Berufung eingelegt. Im Verlauf des Berufungsverfahrens ist aufgrund einer Gesetzesänderung die Freie Hansestadt Bremen als Berufungsführerin (Beklagte) in das Verfahren eingetreten.

Die Klägerin hat im Verlauf des Berufungsverfahrens Anschlussberufung eingelegt.

Die Beklagte ist der Auffassung, die von der Klägerin zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Handlungen ihres leiblichen Vaters seien nach wie vor nicht glaubhaft. Das SG habe den Umstand, dass die Klägerin sich über lange Jahre nicht an die nunmehr streitgegenständlichen Ereignisse erinnert habe, nicht genügend berücksichtigt. Bei der Würdigung der erstinstanzlich erhobenen Zeugenaussagen sei deren Entwicklung im Verlauf des Verfahrens nicht gewürdigt worden. Medizinische Belege für eine Verletzung oder Vernachlässigung der Klägerin seien nicht aufgefunden worden; obwohl deren medizinische Behandlung bis 1987 gut dokumentiert sei. Zudem sei der erstinstanzlich gestellte Feststellungsantrag unzulässig gewesen.

 

Die nunmehr Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 

1.   das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. September 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

2.   die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt im Wege der Anschlussberufung,

 

  1. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,

 

  1. die Beklagte im Wege der Anschlussberufung zu verurteilen, die bei der Klägerin vorliegende posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge festzustellen und diese mit einem Grad der Schädigungsfolgen von zumindest 50 zu bewerten.

 

Zur Begründung nimmt sie Bezug auf ihren gesamten Vortrag sowie auf das Ergebnis der ergänzenden zweitinstanzlichen Sachverhaltsaufklärung. Im Hinblick auf den von ihr erstinstanzlich gestellten Antrag hat sie darauf hingewiesen, dieser sei ihr so vom SG nahegelegt worden. Es könne jedenfalls auch festgestellt werden, dass bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung vorliege. Diese sei wesentlich auf die Gewalttaten und den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater zurückzuführen.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst Befundberichte des Diplom-Psychologen N. und der Neurologin und Psychiaterin K. beigezogen. Sodann hat er die Klägerin durch den Neurologen und Psychiater Dr. O. untersuchen und begutachten lassen (Sachverständigengutachten vom 6. Mai 2022). Dieser ist aufgrund seiner Untersuchung der Klägerin am 22. November 2021 zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege eine posttraumatische Belastungsstörung vor, die durch die von ihr angeschuldigten Taten ihres Vaters ausgelöst worden sei. Aus seiner Sicht spreche in Übereinstimmung mit den behandelnden Kollegen und Therapeuten nichts gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Es handele sich um eine schwere Störung mit schweren sozialen Anpassungsstörungen, die mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 zu bewerten sei. Weiter hat das erkennende Gericht die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 9. Februar 2023 persönlich angehört.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Landes Brandenburg (zwei Bände) Bezug genommen. Ergänzend hat der Senat die schwerbehindertenrechtlichen Vorgänge des beklagten Landes bezüglich der Klägerin beigezogen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Vorsitzenden als Einzelrichter einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat entscheidet in Anwendung von § 155 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden als Einzelrichter.

Die Beklagte ist passivlegitimiert. Durch die Neuregelung des § 4 Abs. 1 OEG seit dem 20. Dezember 2019 und den damit verbundenen Wechsel vom Tatort- zum Wohnortprinzip ist ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel auf Beklagtenseite eingetreten.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Die Anschlussberufung der Klägerin ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Bescheid des Versorgungsamtes Cottbus vom 30. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Soziales und Versorgung 25. März 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Zwar ist das in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 16. Oktober 2018 gestellte und vom Gericht so empfohlene  Feststellungsbegehren der Klägerin, sie sei von 1979 -1986 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger, tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Form von sexuellem Missbrauch durch ihren Vater P. geworden, unzulässig gewesen.

Nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG kann die Feststellung begehrt werden, ob eine Gesundheitsstörung die Folge einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ist, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Die Vorschrift ist ein Sonderfall der grundsätzlich unzulässigen Elementenfeststellungsklage. Sie dient der Klärung der haftungsbegründenden Kausalität, d.h. ob zwischen einer Schädigung im Sinne des sozialen Entschädigungsrechts und dem Eintritt eines Primär- oder Erstschadens ein hinreichender Kausal- bzw. Zurechnungszusammenhang besteht (vgl. BSG Urteile vom 9. Dezember 1998, B 9 V 46/97 R, zitiert nach Juris Rn. 11; B 9 V 45/97 R, zitiert nach Juris, Rn. 11).

Soweit das SG also in seinem Tenor – entsprechend dem von ihm vorgeschlagenen Antrag - nur festgestellt hat, die Klägerin sei Opfer von Missbrauch geworden, hat es nicht in Einklang mit § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die Kausalität zwischen der Schädigung und der Gesundheitsstörung geklärt.

Das erkennende Gericht als volle Tatsacheninstanz war indessen nicht gehindert, der Klägerin einen insoweit zulässigen Feststellungsantrag nahezulegen, der auch die festzustellende Gesundheitsstörung in den Blick nimmt. Es geht in ständiger Praxis davon aus, dass es als volle Tatsacheninstanz an einen etwaigen Antrag der Klägerin, bei ihr Schädigungsfolgen festzustellen, gebunden ist und das Verfahren insoweit spruchreif zu machen hat – etwa indem es zu der Frage, inwieweit vorliegende psychische Funktionsbeeinträchtigungen auf die angeschuldigten Ereignisse zurückzuführen sind und wie hoch eventuell ein Grad der Schädigungsfolgen zu beziffern ist, ermittelt. Hat das SG nämlich rechtsfehlerhaft bewusst (d.h. rechtsirrtümlich) über einen Anspruchsteil nicht entschieden, weil es eine Entscheidung darüber nicht für geboten hielt, so kann und muss das LSG auch den noch in der ersten Instanz anhängigen Rest zum Gegenstand seiner Nachprüfung machen (Breitkreuz/Fichte – Arndt, SGG 2. Aufl., § 157 Rn 8 mit Nachweisen aus der Rspr.; Sommer in BeckOK SGG § 157 Rn 7; differenzierend aber nicht eindeutig Keller in Meyer-Ladewig u.a. SGG, 13. Aufl. § 140 Rn 2a der aber darauf hinweist, dass er der ständigen Rspr. des BSG widerspricht).

Daran ändert der Einwand der Beklagten nichts, der Anspruch der Klägerin hänge nach § 10 a Abs. 1 OEG von den weiteren Voraussetzungen einer Schwerbeschädigung (GdS 50) und der Bedürftigkeit der Klägerin ab, so dass die vom SG tenorierte Feststellung letztlich die (unzulässige) Feststellung einzelner Elemente des § 10 a Abs. 1 OEG gewesen sei. Diese Ansicht teilt der Senat unter Hinweis auf die in § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG geregelte Ausnahme vom Verbot der Elementenfeststellung nicht – jedenfalls so wie der Antrag nunmehr in zweiter Instanz gestellt worden ist (vgl. dazu schon Senatsentscheidung vom 30. Juni 2022 – L 10 VE 58/18).

Zum einen enthält § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG keine Einschränkungen im Hinblick auf § 10 a Abs. 1 OEG: Auch bei Anwendung dieser Vorschrift ist die Feststellung der Kausalität zwischen Schädigung und Gesundheitsschaden damit zulässig; zum anderen sind die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 10 a Abs. 1 OEG (Schwerbeschädigung und Bedürftigkeit) nicht von „feststehenden“ bzw. „endgültigen“ Sachverhalten abhängig. Stattdessen sind sie Veränderungen zugänglich, die in der Person und den persönlichen Umständen der Klägerin begründet sind (z.B. Verbesserung bzw. Verschlechterung des Gesundheitszustandes und/oder der wirtschaftlichen Lage). Durch Eintritt dieser Veränderungen könnte in Zukunft und im Verlauf eines – wie hier – überaus langen Gerichtsverfahrens durchaus ein Anspruch der Klägerin nach § 10 a Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 1 OEG zeitweise entstehen oder entfallen. Damit hat die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der grundsätzlichen Feststellung des Kausalzusammenhanges zwischen Schädigung und der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gesundheitszustand der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vom Februar 2012 (Antragstellung) bis zum Februar 2023 (Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung) sicher geschwankt hat. Die Beklagte geht indessen selbst in ihren schwerbehindertenrechtlichen Bescheiden sowie in den diesbezüglichen versorgungsärztlichen Stellungnahmen unter Auswertung aktueller Befunde auch auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet durchgängig davon aus, die bei der Klägerin vorliegende psychische Funktionsstörung sei mit einem schwerbehindertenrechtlichen GdB von zumindest 50 zu bewerten (Stellungnahme Q. vom 14. August 2013 Bd. I Bl. 54; Abhilfebescheid vom 15. August 2013 Bd. I Bl. 56; Stellungnahme Dr. R. vom 9. November 2016 Bd. I Bl. 101; Stellungnahme Dr. R. vom 9. November 2017 Bd. I Bl. 180 f; Stellungnahme Q. vom 19. April 2018 Bd. I Bl. 216; Stellungnahme Dr. S. vom 30. Juli 2020 Bd. II Bl. 299; Stellungnahme T. vom 23. November 2020 Bd. II Bl. 317; Stellungnahme Wilkens-Mawn vom 27. Januar 2021 Bd. II Bl. 327 der schwerbehindertenrechtlichen Vorgänge).

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Dezember 2014 (B 9 V 1/13 R; zitiert nach Juris) steht dieser Sichtweise nicht entgegen. Darin hat das BSG zwar entschieden, die isolierte Feststellung, ob eine Person Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist – wie dies das SG zu Grunde gelegt hat - sei unzulässig.

Dieser Entscheidung lag allerdings ein Sachverhalt zu Grunde, der in einem wesentlichen Element von dem vorliegenden Fall abweicht: In seinem Fall hatte das BSG über eine Konstellation zu entscheiden, in der das SG im Tenor seines Gerichtsbescheids noch festgestellt hatte, das bei der Klägerin vorliegende posttraumatische Belastungssyndrom sei Folge eines tätlichen Angriffs. Im dortigen Berufungsverfahren hatte das Landessozialgericht (LSG) dann aber festgestellt, es fehle insoweit an ausreichenden Tatsachenfeststellungen. Das LSG veranlasste die Beteiligten daraufhin, sich darüber zu einigen, dass streitgegenständlich lediglich die Feststellung des schädigenden Ereignisses sein solle. Auf entsprechende Frage des Gerichts verzichtete die anwaltlich vertretene Klägerin insoweit auf die Rechte aus dem Gerichtsbescheid, als darin ein posttraumatisches Belastungssyndrom als Folge des schädigenden Ereignisses festgestellt worden war (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R, zitiert nach Juris Rn. 11). In dem vom BSG zu entscheidenden Fall ging es also (nur noch) um die isolierte und einzig begehrte Feststellung, ob ein bestimmtes Ereignis ein vorsätzlicher, rechtswidriger Angriff sei, wobei die dortige Klägerin die Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen nicht (mehr) geltend gemacht hatte. Nur in diesem Kontext ist die Entscheidung des BSG zu verstehen, die isolierte Feststellungsklage könne unter diesen Umständen nur der Beantwortung einer abstrakten Rechtsfrage dienen und dies könne – selbst wenn diese im Sinne der Klägerin zu beantworten wäre – als bloßes Teilelement der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ohne Schädigungsfolgen keinerlei Ansprüche auslösen. Ein Vorgang, der keinen Schaden ausgelöst habe, führe nicht zur "Haftung" des Staates (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R, zitiert nach Juris Rn. 14). Diese Konstellation war nicht vom Text von § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG erfasst.

Der hier zu entscheidende Fall liegt aber anders: Vorliegend hat die Klägerin in der Berufungsinstanz gerade nicht auf die Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen verzichtet, sondern die Feststellung beantragt, einerseits Opfer i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden und andererseits durch die Schädigung eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten zu haben.  Die Feststellung, ob ein bestimmtes Ereignis ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i.S. von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist, kommt aber im Zusammenhang mit der Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen sehr wohl in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R, Rn. 14).

Die Klägerin hat aus der Anwendung von §§ 1,10a Abs. 1 Satz 2 OEG einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung der bei ihr vorliegenden Schädigungsfolgen. Nach diesen Vorschriften hat Anspruch auf Versorgung nach dem BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Für Taten, die sich - wie hier die Ereignisse in der Herkunftsfamilie der Klägerin - in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebietes ereignet haben, gilt dies für Personen, die allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind. Schwerbeschädigt sind nach § 31 Abs. 2 BVG Personen, bei denen ein GdS von 50 festgestellt wird.

Das erkennende Gericht hat nach ergänzenden Ermittlungen festgestellt, dass die von der Klägerin angeschuldigten Taten ihres Vaters in ihrer Jugend (Gewalttaten und sexueller Missbrauch) bei der Klägerin zur Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge geführt haben, die für den gesamten hier streitigen Zeitraum mit einem GdS von zumindest 50 zu bewerten ist.

Zur Darstellung des hier heranzuziehenden Beweismaßstabes wird zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung von § 153 Abs. 2 SGG zunächst auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des SG in seinem Urteil vom 14. September 2017 zu § 15 KOVVfG Bezug genommen.

Glaubhaftmachung i.S. des § 15 Satz 1 KOVVfG bedeutet die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 128 RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht dagegen nicht aus, um die Beweisanforderung zu erfüllen.

Das erkennende Gericht hat sich aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens ebenso wie das SG die Überzeugung gebildet, dass die Klägerin die von ihr angeschuldigten Taten ihres Vaters in ihrem frühen Jugendalter in diesem Sinne glaubhaft geschildert hat. Dabei teilt das Gericht auch die Überzeugung des SG, wonach es in der Erinnerung der Klägerin möglicherweise zu Verzerrungen etwa im Hinblick auf die Häufigkeit der Vorfälle gekommen ist.

Dabei weist das erkennende Gericht zunächst einleitend darauf hin, dass die Beklagte die vom Senat in ständiger Rechtsprechung herangezogenen Grundsätze zunächst grundsätzlich richtig und zutreffend zitiert hat. Danach gilt etwa, dass aus gestellten Diagnosen (wie hier etwa der posttraumatischen Belastungsstörung) nicht ohne weiteres auf bestimmte Ereignisse zurück geschlossen werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 15. November 2021 L 10 VE 67/18; Senatsurteil vom 26. November 2020, L 10 VE 60/17 jeweils veröffentlicht in juris m.w.N.; vgl. auch LSG NRW Urteil vom 23. Februar 1018, L 13 VG 26/14). Der Senat hat dies in mehreren veröffentlichten Entscheidungen näher erläutert und das erkennende Gericht nimmt hierauf Bezug. Der Senat geht auch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Umstand der Nichterinnerbarkeit traumatischer Ereignisse über viele Jahre eher gegen die Erlebnisbasiertheit der nunmehr geschilderten Ereignisse sprechen kann; auch dies wird von der nunmehr Beklagten grundsätzlich zutreffend berücksichtigt.

Hier treten indessen einerseits durch die glaubhafte Aussage der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, andererseits durch die letztlich insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. O. und nicht zuletzt durch die Aussagen der Zeuginnen in erster Instanz und im Verwaltungsverfahren ganz erhebliche Indizien hinzu, die dem erkennenden Gericht die Überzeugung vermittelt haben, wesentliche Teile der Erinnerung der Klägerin seien erlebnisbasiert.

Dabei wendet die Beklagte gegen das Gutachten des Sachverständigen Neurologen und Psychiaters Dr. O. zwar zunächst durchaus zutreffend ein, es handele sich hier nicht um ein Glaubhaftigkeitsgutachten im Sinne der aussagepsychologischen Wissenschaft. Damit verlieren die Aussagen des Sachverständigen, er halte die Angaben der Klägerin im Hinblick auf die Geschehnisse in ihrer Herkunftsfamilie weder für aggraviert noch für simuliert, indessen keineswegs an Gewicht. Dr. O. ist dem erkennenden Gericht aus vielen Verfahren als erfahrener Neurologe und Psychiater und Gerichtssachverständiger mit langjähriger Praxiserfahrung bekannt. Wenn ein solch erfahrener Arzt auf der Grundlage seiner Exploration der unbestritten psychisch erkrankten Klägerin zu der Auffassung gelangt, er halte die Angaben der Klägerin weder für aggraviert noch für simuliert, so ist dies vom erkennenden Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung durchaus als gewichtiges Indiz zu berücksichtigen.

Daneben berücksichtigt das erkennende Gericht bei seiner Beweiswürdigung die Zeugenaussagen der Mutter und der Schwester der Klägerin anlässlich der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung und im Verwaltungsverfahren. Es hält deren Aussagen auch – im Gegensatz zur Beklagten – nicht für gesteigert. Diese haben in wesentlichen Teilen den Bericht der Klägerin bestätigt. Dies gilt zunächst allgemein hinsichtlich der Wesenszüge des hier angeschuldigten Vaters, seines zunehmenden Alkoholkonsums und der grundsätzlichen Bereitschaft zur Gewaltausübung.

Den Vorfall im Badezimmer, den die Klägerin anlässlich der mündlichen Verhandlung des erkennenden Gerichts erneut und widerspruchsfrei zu ihren bisherigen Aussagen geschildert hat, hat auch die Mutter der Klägerin (auch schon im Verwaltungsverfahren) geschildert. Angesichts dessen, dass die Klägerin und ihre Mutter vor der erstinstanzlichen, mündlichen Verhandlung sehr lange keinen Kontakt hatten, spricht wenig dafür, dass dies abgesprochen war, wie die Beklagte zu vermuten scheint. Aus diesem Vorfall ergibt sich, dass die Klägerin und ihre Schwester sich in der Tat bei ihrer Mutter beschwert haben, der Vater starre sie in ungewöhnlicher und sie belastender Weise an. Weiter ergibt sich hieraus – trotz der Intervention der Mutter - die Weigerung des Vaters, hierauf zu verzichten; ja sogar die Bereitschaft des Vaters dieses Interesse notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Die Mutter der Klägerin hat darüber hinaus schon in ihrer schriftlichen Aussage von Januar 2013 darauf hingewiesen, ihre jüngere Schwester – die Tante der Klägerin – habe ihr bereits 1986 erzählt, sie sei ebenfalls vom Vater der Klägerin missbraucht worden. Auch dies ist aus der Sicht des erkennenden Gerichts ein starkes Indiz in die Richtung, dass der Vater der Klägerin zu Straftaten in dieser Richtung neigte. Die Mutter der Klägerin hat darüber hinaus bestätigt, sie sei einmal darüber zu gekommen wie die Klägerin beim Baden unter Aufsicht ihres Vaters sehr geschrieen habe. Ihr damaliger Mann, habe das in der Situation so erklärt, die Klägerin habe versucht zu tauchen, das dann aber nicht hingekriegt. Auch dieser Umstand ist aus der Sicht des Gerichts ein Indiz für die Richtigkeit der Erinnerungen der Klägerin an das Vorgehen des Vaters und seine Bereitschaft, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Sodann hat die Mutter der Klägerin sich auch daran erinnert, ihr damaliger Mann habe immer wieder einmal darauf bestanden, die Kinder sollten bei ihm übernachten und damit weitere Angaben der Klägerin bestätigt.

Auch die Schwester der Klägerin hat die Angaben der Klägerin zur familiären Atmosphäre – insbesondere zur Gewalttätigkeit des Vaters – bestätigt und sich auch an den Vorfall im Badezimmer erinnert. Sie hat sich zudem daran erinnert, wie ihr Vater mit ihr „Hoppe Hoppe Reiter“ gespielt hat und dabei selbst nackt war. Hierbei handelt es sich zumindest um ein – jedenfalls für die damalige Zeit – ungewöhnliches Geschehen, welches – jedenfalls im Zusammenhang mit den Schilderungen über das familiäre Klima – dazu geeignet ist, dazu beizutragen, die Berichte der Klägerin für erlebnisbasiert zu halten.

Zuletzt hat das Gericht auch anlässlich der mündlichen Verhandlung die Konsistenz, Nachvollziehbarkeit und Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin festgestellt. Der Klägerin ist es ersichtlich sehr, sehr schwergefallen, die Ereignisse erneut zu schildern. Das Gericht hat sich dabei auf die Erinnerungen der Klägerin zu der Zeit konzentriert als diese schon Schulkind und damit in einem Alter war, in dem auch die Aussagepsychologie davon ausgeht, Kinder könnten sich ab diesem Alter vergleichsweise zuverlässig erinnern, was für ein Lebensalter zwischen drei und sechs Jahren nach den Erkenntnissen der Aussagepsychologie nicht so zuverlässig der Fall ist.

Das Gericht hat sich daher die Überzeugung gebildet, dass der Vater der Klägerin diese mehrfach in einem Maß geschlagen hat, wie es – auch nach damaligem Verständnis - nicht mehr vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt war, weil nicht von Erziehungswillen getragen und das Maß des als erlaubt anzusehenden bei weitem überschreitend. Darüber hinaus hat sich das Gericht die Überzeugung gebildet, dass der Vater der Kläger diese sexuell missbraucht hat. Dies gilt zunächst für die Schilderung der Klägerin, wonach der Vater sie in der Badewanne untergetaucht hat bis sie keine Luft mehr bekommen hat; schon hierin liegt nach der Auffassung des Gerichts eine weitere Gewalttat. Der Vater hat die Klägerin im Anschluss an ihr wieder auftauchen sodann genötigt, seinen Penis in den Mund zu nehmen und damit den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs erfüllt. Das Gericht hat sich darüber hinaus vom wiederholten Vorkommen solcher Ereignisse überzeugt.

Soweit die Beklagte hiergegen einwendet (Stellungnahme T. v. 30. Mai 2022), in der gesamtem medizinischen Vorgeschichte der Klägerin – soweit sie aus alten medizinischen Befunden rekonstruiert werden könne – hätten sich keinerlei Anhaltspunkte für die angeschuldigten Ereignisse gefunden und dies spreche gegen die Erlebnisbasiertheit der klägerischen Angaben und die Richtigkeit der Einschätzung von Dr. O., vermag dies nicht zu überzeugen. Allein aus dem Nichtvorliegen medizinischer Erkenntnisse über Missbrauch und Gewalt kann nicht geschlossen werden, diese hätten nicht stattgefunden. Das Gericht hat vielmehr aus vielerlei Berichterstattungen der letzten Jahre zur Kenntnis genommen, in welch erschreckendem Ausmaß derartige Vorkommnisse in der sozialen Umgebung nicht zur Kenntnis genommen werden oder sogar bewusst ignoriert werden. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinkundigen Tatsachen, kann der von der Versorgungsmedizinerin nahe gelegte Schluss gerade nicht gezogen werden.

Bei der Klägerin liegt nach den Feststellungen des Gerichts eine schwere Störung im Sinne von Abschnitt B 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen) in der Gestalt einer posttraumatischen Belastungsstörung vor. Dies ergibt sich für das erkennende Gericht einerseits aus den Ausführungen des Sachverständigen Dr. O. sowie aus der ständigen Berichterstattung der die Klägerin behandelnden Ärzte und Therapeuten wie sie im Tatbestand dieser Entscheidung ausführlich zitiert wird. Dies ergibt sich andererseits aber auch schon aus den Feststellungen und versorgungsmedizinischen Stellungnahmen der Beklagten in ihrem schwerbehindertenrechtlichen Vorgang, wie sie im Tatbestand und weiter oben zitiert worden sind.

Dr. O. hat für das erkennende Gericht auch überzeugend ausgeführt, die psychische Funktionsbeeinträchtigung sei im Sinne der wesentlichen Verursachung auf das von der Klägerin angeschuldigte gewalttätige und missbrauchende Verhalten des Vaters zurückzuführen. Dabei ist sich das Gericht durchaus über weitere verursachende Faktoren bewusst – etwa das in der Ursprungsfamilie der Klägerin herrschende Klima der Angst, wie sie es in der mündlichen Verhandlung noch einmal eindrucksvoll geschildert hat. Derartige Faktoren werden zwar von § 1 OEG nicht erfasst. Dr. O. hat aber für das erkennende Gericht überzeugend ausgeführt, die von der Klägerin angeschuldigten Taten hätten jedenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der jetzt vorliegenden psychischen Funktionsstörungen geleistet.

Daraus folgt zunächst, dass die Klägerin die tatbestandliche Voraussetzung Schwerbeschädigung nach § 10a OER iVm § 31 Abs. 2 BVG für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum erfüllt.

Angesichts des von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung letztlich gestellten Feststellungsantrages musste das Gericht im Ergebnis nicht darüber befinden, wie hoch der bei der Klägerin wann festzustellende GdS war.

Das Gericht sieht sich indessen angesichts des langen Verfahrenslaufs gedrängt auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen:

Streitig ist zwischen den Beteiligten geblieben, ob bei der Klägerin mittelgradige oder schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten im Sinne von Abschnitt B 3.7 der VMG festzustellen sind. Hierzu hat der Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in seiner Sitzung vom 18./19. März 1998 folgende Kriterien entwickelt (hier zitiert nach Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 7. Aufl., S. 143): Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen vor, wenn in den meisten Berufen sich auswirkende psychische Veränderungen vorliegen, die zwar weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt. Es müssen erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung vorliegen, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der zum Beispiel eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Für die Annahme schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten ist Voraussetzung, dass weitere berufliche Tätigkeiten sehr stark gefährdet oder gar ausgeschlossen ist. In der Familie oder im Freundes- bzw. Bekanntenkreis müssen schwerwiegende Probleme vorliegen, die bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder vom Bekanntenkreis führen. Das erkennende Gericht legt diese Kriterien des ärztlichen Sachverständigenbeirats in ständiger Spruchpraxis zugrunde, um zu klären, ob und inwieweit Beschädigte beeinträchtigt sind. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Klägerin bereits seit 2011 Erwerbsminderungsrentnerin ist; zu einem Zeitpunkt also als nunmehr weiter vorliegende Funktionsbeeinträchtigungen auf körperlichem Gebiet bei der Klägerin noch nicht vorgelegen haben. Dies ist aus der Sicht des Gerichts ein Indiz für die Unfähigkeit der Klägerin aufgrund ihrer psychischen Funktionsbeeinträchtigung noch am Erwerbsleben teilzunehmen. Dr. O. hat in seinem Gutachten vom 6. Mai 2022 von schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten gesprochen. Die Klägerin hat anlässlich ihrer Explorierung durch Dr. O. ein sehr zurückgezogenes Leben mit wenigen sozialen Kontakten und wenigen Aktivitäten geschildert.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.

Anlass die Revision in Anwendung von § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen besteht nicht.

Rechtskraft
Aus
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