S 12 AS 2046/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 2046/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Es entspricht nicht dem Zweck der Norm und ist als sachfremd anzusehen, wenn Jobcenter oder Sozialgerichte eine vollständige Entziehung oder Versagung nach § 66 Abs. 1 SGB I im Bereich existenzsichernder Leistungen mit Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit zu begründen versuchen (entgegen: Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21. Juni 2016, Az.: L 6 AS 121/13, juris Rn. 47; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2018 – L 4 AS 554/15 –, Rn. 66, juris).

Bei einer Versagung bzw. Entziehung von mehr als 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs der Leistungen der Grundsicherung muss eine Behörde in ihren Ermessenserwägungen erkennen lassen, anlässlich welcher atypischen Fallgestaltung sowie zwecks welcher außerordentlicher Ziele eine so weitreichende Unterdeckung des Existenzminimums im konkreten Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein soll, um die bislang unterbliebene Mitwirkung zu veranlassen und wesentlich zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalt beizutragen.

Zur Sicherstellung, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls aufgeklärt werden, die der geforderten Mitwirkung oder der Entziehung bzw. Versagung entgegenstehen, aber vom Betroffenen möglicherweise schriftlich nur nicht dargelegt werden (können), muss die Behörde vor dem Erlass einer Versagung bzw. der Entziehung von Leistungen der Grundsicherung bei entsprechenden Anhaltspunkten dem betroffenen Menschen die Gelegenheit geben, seine persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vorzutragen.

Jedem steuerfinanzierten „Kundenberater“ jedes steuerfinanzierten „Jobcenters“ ist es zuzumuten, seinen königlichen „Kunden“ bei Bedarf „Kundengespräche“ in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben.

Das Sozialgericht Karlsruhe bereut zutiefst seinen im Fall der Klägerinnen einstweilen verfassungswidrigen Irrweg, sein unverzeihliches Versagen.

 

Tenor:

 

  1. Der Bescheid vom 03. Mai 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07. Juli 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2022 wird aufgehoben, soweit er die Klägerin zu Ziff. 1. betrifft.

 

  1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu Ziff. 1. Arbeitslosengeld II für den Zeitraum 07. Mai 2022 bis 31. Oktober 2022 in der ihr mit Bescheid vom 29. November 2022 bewilligten Höhe auszuzahlen.

 

  1. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu Ziff. 1. zu erstatten.

 

Tatbestand und Entscheidungsgründe:

Tatbestand

 

 

Die Klägerinnen wenden sich gegen die Totalentziehung existenzsichernder Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

 

Die 1989 geborene, erwerbsfähige Klägerin zu Ziff. 1. und ihre 2019 geborene Tochter – die Klägerin zu Ziff. 2. – leben vom Kindsvater getrennt in einer 62 qm großen Wohnung mit Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) in Höhe von insgesamt 460,- €.

 

Der Beklagte bewilligte den Klägerinnen Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zuletzt mit Bescheid vom 29.11.2021 für den Zeitraum November 2021 bis Oktober 2022. Bei der Leistungsberechnung erkannte er ihre KdU vollständig an und berücksichtigte als anspruchsminderndes Einkommen Kindergeld (monatlich 219,- €) und Kindesunterhalt (monatlich 200,- €). Hiernach setzte der Beklagte die Leistungsansprüche fest auf:

  • für die Klägerin zu Ziff. 1.: monatlich 840,64 € (davon für KdU: 230,- €; für Regelbedarf und für den Mehrbedarf als Alleinerziehende zusammen: 610,64 €);
  • für die Klägerin zu Ziff. 2: 96,- € (nur für KdU).

 

Die Klägerin gab im Januar 2022 gegenüber dem Beklagten an, sie erhalte für ihr Kind „Unterhalt in bar“. Sodann legte sie ihm zum Nachweis ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse Kontoauszüge nur für einen Monat und zudem nur mit Schwärzungen vor, welche u. a. den Kontostand am Beginn und Ende des Zeitraums verdeckten. Anlässlich dessen forderte der Beklagte von der Klägerin (u. a. mit Schreiben vom 08.02.2022, 15.03.2022 und 07.04.2022) nebst aussagekräftigerer Kontoauszüge die Vorlage des ausgefüllten Formularvordrucks für Leistungsfälle mit Unterhaltsbezug (sog. Anlage „UH“) an.

 

Als die diesbezüglichen Erinnerungen und Belehrungen des Beklagten erfolglos blieben, entzog der Beklagte die mit Bescheid vom 29.11.2021 bewilligten Grundsicherungsleistungen mit Entziehungsbescheid vom 03.05.2022 für den Zeitraum 01.04.2022 bis 31.10.2022 (d.h.  teilweise rückwirkend) sowohl der Klägerin zu Ziff. 1. (in einer Gesamthöhe von 5.884,48 €) als auch der Klägerin zu Ziff. 2. (in einer Gesamthöhe von 672,- €) vollständig. Der Beklagte stützte diese Entscheidung auf die Nichtvorlage der angeforderten Unterlagen und wies auf § 66 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hin. Wegen der hiernach gebotenen Ermessensausübung führte der Beklagte im Entziehungsbescheid vom 03.05.2022 aus:

 

„(…) Sie und Sie in Ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin Ihres Kindes XXXXXXXX XXXXXXXX, geb. XXXXXXXX XXXXXXXX haben keine Gründe mitgeteilt, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu Ihren Gunsten und zu Gunsten Ihres Kindes berücksichtigt werden konnten.

Sie sind der Aufforderung, oben genannte Unterlagen einzureichen, und damit Ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Daher kann der Anspruch nicht geprüft werden.

Nach Abwägung des Sinns und Zwecks der Mitwirkungsvorschriften mit Ihrem Interesse an den Leistungen, sowie dem öffentlichen Interesse an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, werden die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für Sie und Ihr Kind XXXXXXXX XXXXXXXX, geb. XXXXXXXX XXXXXXXX ganz ab dem 1. April 2022 entzogen (§ 66 SGB I). (…)“

 

Dem hiergegen am 04.06.2022 eingelegten (und auf den 02.06.2022 datierten) Widerspruch beider Klägerinnen half der Beklagte durch Änderungsbescheid vom 07.07.2022 teilweise ab, indem er beiden Klägerinnen gegenüber den bereits zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Entziehungsbescheides rückwirkenden Teil seiner Entziehung (vom 01.04.2022 bis 06.05.2022) aufhob. Zugleich beließ es der Beklagte im Übrigen bei der vollständigen Entziehung für die Zeit vom 07.05.2022 bis zum 31.10.2022 und begründete seine Ermessensausübung wie folgt:

 

„(…) Sie und Sie in Ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin Ihres Kindes XXXXXXXX XXXXXXXX, XXXXXXXX XXXXXXXX haben keine Gründe mitgeteilt, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu Ihren Gunsten und zu Gunsten Ihres Kindes berücksichtigt werden konnten. (…) Nach Abwägung des Sinns und Zwecks der Mitwirkungsvorschriften mit Ihrem Interesse an den Leistungen, sowie dem öffentlichen Interesse an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, werden die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für Sie und Ihr Kind XXXXXXXX XXXXXXXX, geb. XXXXXXXX XXXXXXXX ganz ab dem 7. Mai 2022 entzogen (§ 66 SGB I). (…)“

 

Soweit der Beklagte dem Widerspruch der Klägerinnen vom 04.06.2022 mit dem Änderungsbescheid vom 07.07.2022 nicht abgeholfen hatte, wies er (nur) den Widerspruch der Klägerin zu Ziff. 1. (und nicht auch den Widerspruch der Klägerin zu Ziff. 2.) mit Widerspruchsbescheid vom 11.07.2022 als unbegründet zurück. Hierbei führte der Beklagte bezüglich seines Ermessens aus:

 

„(…) Die erforderliche Ermessensentscheidung liegt vor, § 66 Absatz 1 SGB I. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Die Interessen der Widerspruchsführerin wurden angemessen berücksichtigt.

Anhaltspunkte, die ein Überwiegen der Interessen der Widerspruchsführerin an der Zahlung des Arbeitslosengeldes II gegenüber den Interessen der Allgemeinheit rechtfertigen, liegen nicht vor.

Unterhaltsleistungen sind dem SGB II vorrangige Leistungen. Nach § 2 Absatz 1 SGB II müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Dazu geeignet ist die Mitwirkung hinsichtlich Unterhaltsforderungen.

Kontoauszüge sind geeignet, den Bedarf des Leistungsempfängers zu bestätigen und ggf. nachzuweisen. Soweit diese bei entsprechenden Anhaltspunkten nicht wie gefordert eingereicht werden, überwiegt das Interesse des Steuerzahlers an der anspruchsgerechten Auszahlung der Leistungen dem Interesse des Leistungsempfängers, diese ohne Begründung nicht einzureichen.“

 

Gegen den nur ihr gegenüber erlassenen Widerspruchsbescheid hat zunächst (nur) die Klägerin zu Ziff. 1. (nicht auch im Namen ihrer Tochter) am 11.08.2022 das Sozialgericht Karlsruhe angerufen und es um Rechtsschutz sowohl in der Hauptsache als auch im Wege einer einstweiligen Anordnung ersucht. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 5 AS 2062/22 ER hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 19.08.2022 den Eilantrag abgelehnt und die Ermessensausübung des Beklagten summarisch wie folgt beurteilt:

 

„(…) Die Entziehung nach § 66 SGB I steht im Ermessen der Behörde. Dessen war sich der Antragsgegner bewusst – wie sich aus der Begründung des Bescheids vom 7.7.2022 und des Widerspruchsbescheids vom 11.7.2022 ergibt. Zwar fallen die dortigen Ermessenserwägungen recht schematisch aus. Das ist aber nicht zu beanstanden. Denn die Antragstellerin hatte keine konkreten Umstände mitgeteilt, die eine umfassendere Abwägung erfordert hätten; derartige Umstände waren auch nicht ersichtlich. (…)

 

Im Hauptsacheverfahren S 12 AS 2046/22 ist zunächst das Mandatsverhältnis mit jener Rechtsanwältin beendet worden, welche erfolglos den Eilantrag angebracht und die Klage erhoben hatte. Die anschließend bevollmächtigte Rechtsanwältin hat ihre Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Eben diese hat das Gericht am 24.02.2023 beschlossen und hierbei ausführlich begründet, warum es die Erfolgsaussichten in der Hauptsache wegen der unterlassenen Betätigung des Auswahlermessens zum Entziehungsumfang inzwischen anders beurteile als noch im Eilverfahren (SG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Februar 2023 – S 12 AS 2046/22 –, juris). Sodann hat die neue Prozessbevollmächtigte die Klage in subjektiver Hinsicht erweitert um die Klägerin zu Ziff. 2, und insoweit wieder zurückgenommen und davon abgesehen, in deren Namen die Bescheidung des Widerspruchs vom 04.06.2022 klageweise geltend zu machen. Die Klägerin zu Ziff. 1. beantragt:

 

  1. Der Bescheid vom 03. Mai 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07. Juli 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2022 wird aufgehoben, soweit er die Klägerin zu Ziff. 1. betrifft.

 

  1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu Ziff. 1. Arbeitslosengeld II für den Zeitraum 07. Mai 2022 bis 31. Oktober 2022 in der ihr mit Bescheid vom 29. November 2022 bewilligten Höhe auszuzahlen.

 

Der Beklagte hat seine Verwaltungsvorgänge vorgelegt und die Abweisung der Klage beantragt. In Auseinandersetzung mit den gerichtlichen Ausführungen bei der Bewilligung der Prozesskostenhilfe hat der Beklagte ausgeführt, warum seine Ermessensausübung ermessensfehlerfrei sei. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit solcher Sanktionsverwaltungsakte, welche Regelbedarfsleistungen um mehr als 30 Prozent minderten, sei nicht übertragbar auf solche Verwaltungsakte, mit denen mehr als 30 Prozent der bewilligten Regelbedarfsleistungen entzogen würden. Die vollständige Entziehung sei hier geeignet gewesen, das angestrebte Ziel (Vorlage der benötigten Kontoauszüge und der Anlage Unterhalt) zumindest zu fördern, weil es der Leistungsberechtigte selbst in der Hand habe, ob die Entziehung als „sanfte Druckausübung“ ihre Wirkung entfaltete. Die Entziehung sei erforderlich, da es zur Sachverhaltsaufklärung kein milderes Mittel mit gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit und vergleichbar niedrigem Aufwand gebe, da die Kontoauszüge nicht im Wege der Amtsermittlung eingeholt werden und der unterhaltspflichtige Vater nicht auf andere Weise ermittelt werden könnte, sodass für eine teilweise Entziehung „keine Anhaltspunkte bestehen“. Die vollständige Entziehung sei auch angemessen, da das verfolgte Ziel der Vorlage der benötigten Nachweise gegenüber der Intensität des Eingriffs nicht unverhältnismäßig sei. Es bedürfte keiner weiteren Ermessenserwägungen, wenn die Auswahl einer teilweisen Entziehung deswegen „nicht in Betracht komme“, weil nicht nur die Höhe des Leistungsanspruchs in Frage stehe, sondern die Bewilligung dem Grunde nach. Ebenso wenig komme eine teilweise Entziehung nur gegenüber dem Vorstand einer Bedarfsgemeinschaft aus volljährigen und minderjährigen Mitgliedern „in Betracht“. Schließlich käme keine Ermessensbetätigung in Bezug auf die Dauer der Entziehung „in Betracht“, da der Gesetzgeber in § 66 SGB I die Dauer der Entziehung vorgeben habe und von Seiten des Beklagten keine nachvollziehbare zeitliche Begrenzung konstruiert werden könne.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens wird auf die Inhalte der Prozess- und Verwaltungsakten Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Über die Klage der Klägerin zu Ziff. 2. hat das Gericht nicht mehr zu entscheiden, weil der Rechtsstreit insofern bereits gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist aufgrund der Klagerücknahme vom 09.05.2023.

 

Der Anfechtungs- und Leistungsklage der Klägerin zu Ziff. 1. ist stattzugeben. Sie ist zulässig und begründet. Der Beklagte ist zu verurteilen, an die Klägerin zu Ziff. 1 das ihr mit dem Bescheid vom 29. November 2022 bewilligte Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 07.05.2022 bis 31.10.2022 auszuzahlen. Der entgegenstehende Entziehungsbescheid vom 03.05.2022 verletzt nämlich in seiner Fassung durch den Änderungsbescheid vom 07.07.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 11.07.2022 Rechte der Klägerin zu Ziff. 1. aus § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I, sodass er – soweit er sie selbst betrifft – durch das angerufene Sozialgericht antragsgemäß aufzuheben ist.

 

§ 66 Abs. 1 S. 1 SGB I zufolge kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind und derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und dadurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert wird. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen (Nr. 1), Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen (Nr. 2) und Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen (Nr. 3). Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und er seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

 

Hier kann dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bei Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes vorlagen. Dieser ist jedenfalls rechtswidrig und aufzuheben, weil der Beklagte die Rechtsfolge von § 66 Abs. 1 SGB I fehlerhaft angewandt hat.

 

Dem Wortlaut dieser Norm („… kann …“) zufolge muss die Behörde (sowohl bei der Versagung als auch) bei der Entziehung der Leistung Ermessenentscheidungen treffen [Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 66 SGB I (Stand: 02.12.2022), Rn. 66]. Die behördliche Ermessensausübung erfordert, dass der Leistungsträger die Grenzen des Ermessenspielraumes einhält (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) und seine Entscheidung auch hinreichend begründet (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X), weshalb die Ermessensentscheidung nur rechtmäßig ist, soweit sie im Bescheid selbst begründet worden ist (BSG v. 27.08.2019 - B 1 KR 1/19 - juris Rn. 29). Da sich das behördliche Ermessen nach § 66 Abs. 1 SGB I auch auf den Umfang der Entziehung erstreckt, muss der Bescheid neben Ausführungen zur behördlichen Entschließung auch solche zum Umfang der Entziehung bzw. Versagung enthalten (LSG Berlin-Brandenburg v. 10.02.2021 - L 5 AS 1582/20 B PKH - Rn. 20). Insbesondere bedarf die Ermessensentscheidung über einen vollständigen Wegfall der Regelleistung einer besonderen Begründung (Bayerisches LSG v. 06.05.2021 - L 16 AS 652/20 - Rn. 28). Eine Entziehung von Leistungen auf Dauer ist von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht gedeckt und im Rahmen der gerichtlichen Rechtskontrolle als Ermessensüberschreitung zu beanstanden (Bayerisches LSG v. 19.05.2022 - L 7 AS 460/21 - juris Rn. 26). Auf die hiernach gebotene Darlegung der Ermessenserwägungen kann bei Leistungsentziehungen und -versagungen gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I auch nach den Grundsätzen über das gelenkte oder intendierte Ermessen nicht verzichtet werden (BayVGH, B.v. 5.4.2001 – 12 CE 01.428 – juris Rn. 11).

 

Namentlich verengt sich die nach § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB I zu treffende Ermessensentscheidung selbst im Falle der Verletzung von Obliegenheiten zur Mitwirkung nicht auf die Frage, ob die Leistungen vollständig entzogen werden sollen, oder es ausnahmsweise geboten oder zweckmäßig ist, die Leistungsvoraussetzungen auf anderem Weg weiter zu ermitteln (so aber: Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21. Juni 2016, Az.: L 6 AS 121/13, juris Rn. 47; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2018 – L 4 AS 554/15 –, Rn. 66, juris). Umgekehrt hat die Behörde neben einer vollständigen Entziehung bzw. Versagung der Leistung immer auch eine teilweise Entziehung bzw. Versagung der Leistung ernstlich in Betracht zu ziehen, ohne, dass es hierfür konkreter Anhaltspunkte bedürfte. Dies gilt namentlich selbst in allen Fällen, in denen durch die fehlende Mitwirkung des möglicherweise Leistungsberechtigten die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs bereits dem Grunde nach nicht nachgewiesen sind. Andernfalls würden die historische Absicht des Gesetzgebers bei seiner Abfassung von § 66 Abs. 1 SGB I sowie dessen verfassungslegitimer Zweck unterlaufen, unter den normierten Tatbestandsvoraussetzungen gerade keine felsenfeste Rechtsfolge in Stein zu meißeln, sondern eine einzelfallbezogene Ausübung des Auswahlermessens abzuverlangen. Dabei ist es auch rechtsmethodisch ausnahmslos ausgeschlossen, dass auf der Rechtsfolgenseite einer Norm das Ermessen gelenkt, intendiert oder sogar auf Null reduziert werden könnte allein durch solche Umstände, die zugleich als Tatbestandsvoraussetzung derselben Norm denknotwendig immer gegeben sind. Anlass, ihr Ermessen nach § 66 Abs. 1 SGB I auszuüben, hat eine Behörde indessen überhaupt nur in eben derartigen Fällen, in denen die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs noch nicht nachgewiesen sind. Dass durch die fehlende Mitwirkung des möglicherweise Leistungsberechtigten die Voraussetzungen des streitbefangenen Leistungsanspruchs bereits dem Grunde nach nicht nachgewiesen sind, ist nämlich dem Wortlaut von § 66 Abs. 1 SGB II zufolge eine Tatbestandsvoraussetzung für die behördliche Rechtsfolgenanwendung. Es entspricht daher nicht dem Zweck der Norm und ist als sachfremd anzusehen, wenn Jobcenter oder Sozialgerichte eine vollständige Entziehung oder Versagung nach § 66 Abs. 1 SGB I im Bereich existenzsichernder Leistungen mit Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit zu begründen versuchen [vgl. Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 39 SGB I (Stand: 15.03.2021), Rn. 46]. Über ihre juristisch unhaltbare Argumentation täuscht die Gegenansicht mit sprachlicher Ungenauigkeit hinweg. Sie schwurbelt von einer „sich grundsätzlich verengenden Ermessensentscheidung“ anstelle die einschlägigen Fachtermini („gelenktes“ / „intendiertes“ / „auf Null reduziertes“ „Entschließungs-„ / Auswahlermessen“, s.o.) zu nutzen. Deren unverhohlener Gebrauch offenbarte indessen das bewusstes Abweichen der Gegenansicht von allgemein anerkannten rechtswissenschaftlichen Kategorien und Erkenntnissen. Mithilfe dieses juristischen Etikettenschwindels legitimieren das  Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht und das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt nur zum Schein seit Jahren bundesweit eine Vielzahl von Sozialgerichten und Jobcentern, § 66 Abs. 1 SGB I massenhaft so anzuwenden, als erstreckte sich das behördliche Ermessen im Grundsicherungsrecht nicht auch auf den Umfang von Entziehungen und Versagungen (so aber: Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21. Juni 2016, Az.: L 6 AS 121/13, juris Rn. 47; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2018 – L 4 AS 554/15 –, Rn. 66, juris).

 

Anders als Halle und Schleswig (sowie die auf sie rekurrierenden Behörden und Gerichte mit der für sie prozessökonomisch wünschenswerten Folge eines extrem reduzierten eigenen Prüfungs-, Ermittlungs- und Begründungs- bzw. Personalaufwands) glauben machen wollen, ist (wegen des verfassungskräftigen Vorrangs der Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Recht und Gesetz vor den ihnen haushaltspolitisch oktroyierten Sparzwänge) das behördliche Auswahlermessen in § 66 Abs. 1 SGB I im Grundsicherungsrecht sogar aus verfassungskräftigen Erwägungen in umgekehrter Richtung regelmäßig zugunsten der Menschen im Bezug existenzsichernder Leistungen eingeschränkt.

 

§ 66 Abs. 1 SGB I ist dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass eine Entziehung bzw. Versagung der Grundsicherung (nach dem SGB II, dem SGB XII, dem AsylbLG und dem BVG) ohne vorheriges Angebot zu einer mündlichen Anhörung nicht regelmäßig mehr als 30 Prozent der Regelbedarfsleistungen umfassen darf. Dies folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Es ist mit dem Grundgesetz nur vereinbar, dass staatliche Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unter dem Vorbehalt gewährt werden, dass Leistungsempfänger Mitwirkungspflichten erfüllen, soweit die Durchsetzung diesbezüglicher Mitwirkungspflichten besonders strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügt. Das ist regelmäßig nicht der Fall, wenn Behörden Grundsicherungsleistungen ohne die Gelegenheit zur mündlichen Anhörung entziehen oder versagen oder derartige Verwaltungsentscheidungen mehr als 30 Prozent der Regelbedarfsleistungen betreffen, aber nicht erkennen lassen, anlässlich welcher atypischen Fallgestaltung sowie zwecks welcher außerordentlicher Ziele eine so weitreichende Unterdeckung des Existenzminimums im konkreten Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein sollte.

 

Die Verhältnismäßigkeit weitreichender oder sogar totaler Entziehungen bzw. Versagungen zum Zwecke der Durchsetzung der Mitwirkung in der existenzsichernden Leistungsverwaltung kann nicht losgelöst vom Einzelfall für eine Vielzahl von Betroffenen angenommen werden. Das gegenläufige Vorverständnis ist zwar in der Öffentlichkeit wie in der Behörden- und Gerichtspraxis weit verbreitet, aber nicht wissenschaftlich fundiert. Zu den Effekten der Anwendung von § 66 Abs. 1 SGB I i.V.m. §§ 7 ff. SGB II fehlen hinreichende empirische Untersuchungen und wissenschaftliche Auswertungen mit insofern eindeutigen Erkenntnissen. Solange diese entgegen § 55 SGB II weiterhin unterlassen worden sein werden, dürfen sich behördliche und gerichtliche Entscheider nicht auf individuelle gepflegte und kollektiv kolportierte Vorurteile verlassen. Sie müssen stattdessen hilfsweise verfügbare Erkenntnisse zugrunde legen, soweit sie wesensverwandte Fragestellungen betreffen. Als zu der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Entziehung oder Versagung existenzsichernder Leistungen wesensverwandte Erkenntnisse drängen sich insofern diejenigen auf, welche durch das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Minderung existenzsichernder Leistungen akkumuliert worden sind, denn auch sie betreffen die Frage der Verhältnismäßigkeit der Vorenthaltung der Grundsicherungsleistung für Arbeitsuchende zum Zwecke der Durchsetzung der Obliegenheiten der Betroffenen zur Mitwirkung (vgl. BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, juris).

 

Indessen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung betreffend die Verfassungswidrigkeit von Sanktionen in Höhe von mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs ausgeführt, warum unter der Geltung des Grundgesetzes nach aktuellem Stand der Forschung selbst im Falle wiederholter Pflichtverletzungen die Minderung der Grundsicherungsleistungen auf 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs zu begrenzen und sogar bei beharrlichen Pflichtverletzungen in aller Regel ein vollständiger Wegfall aller existenzsichernden Leistungen (d. h. nicht nur der Leistungen für den Regelbedarf, sondern auch der Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung) nicht angezeigt sei. In Bezug auf – hier nicht streitbefangene – Sanktionen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. hat das Bundesverfassungsgericht eingehend erläutert, warum sich Minderungen um mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs hinsichtlich ihrer Höhe nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen können, dass die erwünschten Wirkungen tatsächlich erzielt und negative Effekte vermieden werden: Das Bundesverfassungsgericht hat hierbei konstatiert, dass die Wirksamkeit von Leistungsminderungen weder mit Blick auf das unmittelbare Ziel, die Mitwirkung zu erreichen, noch mit Blick auf spezial- oder generalpräventive Wirkungen hinreichend erforscht sei. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass eine Leistungsminderung in dieser Höhe in Einzelfällen geeignet sei, die betroffene Person zur Mitwirkung zu veranlassen. Wenn sich dies tragfähig belegen lasse, möge zur Durchsetzung wiederholter Pflichtverletzungen im Ausnahmefall auch besonders hart reagiert werden. Hingegen genüge die allgemeine Annahme, eine Leistungsminderung um mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs erreiche ihre Zwecke, angesichts der gravierenden Belastung der Betroffenen aber nicht, um die generelle Eignung derartiger Härte zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht zu begründen. Die vorliegenden Erkenntnisse zeigten dem Bundesverfassungsgericht nämlich, dass mit der Vorenthaltung existenzsichernder Leistungen in vielen Fällen auch negative Wirkungen verbunden sein könnten, welche mitunter die Ziele konterkarierten, weil sie gerade nicht zur Mitwirkung motivieren. Als negative Folgen der Leistungsvorenthaltung zählte das Bundesverfassungsgericht exemplarisch Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auf. Es verweist insoweit auf die vielfältigen Gründe, auf die in der Fachliteratur zurückgeführt werde, warum Mitwirkungsanforderungen nicht erfüllt werden: Sie reichten von Unwillen über Unvermögen bis zur subjektiv empfundenen oder objektiv vorliegenden Unmöglichkeit, die Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Oft stünden die Lebensumstände entgegen; es lägen Kompetenzdefizite vor, nicht aber mangelnde Eigenverantwortung oder mangelnde Arbeitsbereitschaft; dazu kämen Kommunikationsstörungen zwischen den Hilfebedürftigen und Behörden. Auch überzogene Anspruchshaltungen spielten ebenso wie der Eindruck behördlicher Willkür eine Rolle; zudem seien gerade psychisch stark belastete Menschen betroffen. Bei jeder dritten nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch Leistungen beziehenden Person gebe es innerhalb eines Jahres eine ärztlich festgestellte psychiatrische Diagnose. Es sei bislang empirisch nicht belegt und aufgrund der ubiquitären Wirkung auch kaum verifizierbar, wie hoch die sogenannte ex ante-Wirkung von Sanktionen, also der Effekt schon aufgrund ihrer Existenz oder Androhung, auf die Mitwirkungsbereitschaft einzuschätzen sei. Es gebe indes mehrere Studien, die positive Wirkungen einer Leistungsminderung benennen. Daneben finde sich der gemischte Befund, dass bei unter 25-Jährigen ein positiver Zusammenhang zwischen Sanktionserfahrung und Arbeitssuche sichtbar werde, bei älteren Leistungsbeziehern von Sanktionen aber keine substantiell positiven Auswirkungen auf die Mitwirkungsbereitschaft in Gestalt einer Intensivierung der Arbeitssuche ausgingen. Mehrere Studien legten negative Wirkungen der Sanktionen auf Betroffene dar. Dazu gehörten der soziale Rückzug und Isolation, Obdachlosigkeit, schwerwiegende psychosomatische Erkrankungen oder Kriminalität zur Erschließung alternativer Einkommensquellen. Besonders problematisch seien die Gefahr von Kleinkriminalität, Schwarzarbeit oder Verschuldung, der Kontaktabbruch von Leistungsberechtigten zum SGB-II-Träger, Fehlentscheidungen bei psychisch Beeinträchtigten und die Betroffenheit der Bedarfsgemeinschaft. Auch die Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen gelange zu dem Ergebnis, dass Sanktionen seelische Probleme verstärkten, zum sozialen Rückzug führten und Verschuldungsrisiken auftreten könnten, weil unter anderem Miete und Strom nicht mehr regelmäßig bezahlt würden. Bei über 25-Jährigen stehe die aktuelle Arbeitssuche in keinem positiven, sondern in einem eher negativen Zusammenhang mit der Sanktionserfahrung. Negative Nebenwirkungen seien jedenfalls nicht auszuschließen. Besonders kritisch bewerteten Fachkräfte die Totalsanktion bei wiederholter größerer Pflichtverletzung, bei der nicht nur die Regelleistung, sondern auch die Leistung für Miete und Heizung gestrichen wird. Nach einer Leistungsminderung erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, das Sozialsystem nicht in Erwerbsarbeit zu verlassen, sondern den Kontakt zum Jobcenter abzubrechen und dann ohne dessen Unterstützung zu leben. Starre Sanktionen würden dann ihren Zweck konterkarieren. In Interviews zeige sich, dass wiederholte Sanktion nur in wenigen Fällen zur Mitwirkung führten. Zudem seien negative Effekte auf Dauer und Lohnhöhe der zur Vermeidung von Sanktionen wahrgenommenen Beschäftigung erkennbar (vgl. BVerfG, 05.11.2019, 1 BvL 7/16).

 

Übertragen auf § 66 Abs. 1 SGB I i.V.m. §§ 7ff. SGB II ist alldem im Wege der verfassungskonformen Gesetzesauslegung und -anwendung wie folgt Rechnung zu tragen:

 

1.: Zur Sicherstellung, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls aufgeklärt werden, die der geforderten Mitwirkung oder der Entziehung bzw. Versagung entgegenstehen, aber vom Betroffenen möglicherweise schriftlich nur nicht dargelegt werden (können), muss die Behörde vor dem Erlass einer Versagung bzw. der Entziehung von Leistungen der Grundsicherung bei entsprechenden Anhaltspunkten dem betroffenen Menschen die Gelegenheit geben, seine persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vorzutragen.

 

2.: Bei einer Versagung bzw. Entziehung von mehr als 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs der Leistungen der Grundsicherung muss eine Behörde in ihren Ermessenserwägungen erkennen lassen, anlässlich welcher atypischen Fallgestaltung sowie zwecks welcher außerordentlicher Ziele eine so weitreichende Unterdeckung des Existenzminimums im konkreten Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein soll, um die bislang unterbliebene Mitwirkung zu veranlassen und wesentlich zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalt beizutragen.

 

Diesen Beurteilungsmaßstäben hält die im Klageverfahren S 12 AS 2046/22 angefochtene Leistungsentziehung nicht stand. In seinen Bescheiden wandte der Beklagte sein Auswahlermessen nicht ermessensfehlerfrei an. Dies folgt schon daraus, dass der Beklagte die Maßstäbe seiner Ermessensausübung (weiterhin) verkennt, wenn er zur Rechtsverteidigung vorträgt, es hätten „keine Anhaltspunkte“ für eine teilweise Entziehung vorgelegen, bzw., eine solche wäre „nicht in Betracht“ gekommen. Das Gegenteil ist der Fall. Auch im vorliegenden Einzelfall war das Auswahlermessen des Beklagten wegen des Umfangs der Entziehung nicht auf Null reduziert. Der Beklagte hätte hier rechtlich mehr gedurft, als eine Totalentziehung zu erlassen. Umgekehrt war sogar ein besonders maßvoller Umgang mit dem Auswahlermessen nach § 66 Abs. 1 SGB I grundrechtlich geboten, da sich der Beklagte zu einer relativ schwerwiegenden Leistungsentziehung entschlossen hatte. Diese Entschließung wog schwer, weil sie nicht nur eine vom Sozialgesetzgeber im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums als opportun angesehene bzw. optionale Sozialleistung betraf. Die streitbefangene Entziehungsentschließung hatte vielmehr die bereits am 29.11.2022 bestandskräftig bewilligte Grundsicherung nach dem SGB II und damit das durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verfassungskräftig unerlässliche Existenzminimum der Klägerinnen zum Gegenstand.

 

Gleichwohl hat der Beklagte im vorliegenden Fall kumulativ zur relativen Schwere seiner derartigen Verwaltungsentschließung auch noch eine Entziehung mit dem maximal möglichen Umfang („Totalentziehung“) ausgewählt, ohne diese Auswahl in den angefochtenen Bescheiden mit hinreichenden Ermessenserwägungen zu begründen.

 

Um eine Totalentziehung handelt es sich vorliegend, weil mit ihr die Grundsicherungsleistungen nicht nur teilweise (sondern vollständig) und nicht nur für einen Teil des Bewilligungszeitraums (sondern für dessen gesamte Restdauer von hier knapp sechs Monaten) entzogen wurden und sich ihr persönlicher Anwendungsbereich nicht nur auf die persönlich mitwirkungsfähige volljährige Klägerin zu Ziff. 1. selbst beschränkte (sondern sich auch auf die Leistungen ihrer damals persönlich mitwirkungsunfähigen, dreijährigen Tochter erstreckte).

 

Trotz der Auswahl dieses größtmöglichen Entziehungsumfangs lässt sich den Ermessenserwägungen in den angefochtenen Bescheiden nicht entnehmen, aufgrund welcher atypischen Fallkonstellation und zwecks welcher außerordentlicher Ziele der Beklagte eine derartige Auswahl gegenüber anderen ggfs. geeigneteren bzw. weniger belastenden Entziehungsverfügungen als vorzugswürdig erachtete. Vielmehr lassen die floskelhaften Ausführungen im Entziehungsbescheid vom 03.05.2022, im Änderungsbescheid vom 07.07.2022 und im Widerspruchsbescheid vom 11.07.2022 ausnahmslos keine hinreichende Auseinandersetzung damit erkennen, ob hier eine teilweise Entziehung ausreichend gewesen wäre, ob eine kürzere Entziehung genügt hätte und/oder deren persönliche Beschränkung auf den Vorstand der Bedarfsgemeinschaft geboten gewesen wäre, um Leib, Leben und Würde der Klägerinnen sowie deren familiäre Gemeinschaft nachhaltig grundrechtskonform (insbesondere vor ihrer beider Obdachlosigkeit und der Inobhutnahme der Klägerin zu Ziff. 2.) zu schützen.

 

Der Beklagte kann seine Ermessensbetätigung (erst im Laufe des Klageverfahrens bzw. außerhalb der angefochtenen Bescheide und damit ohnehin zu spät) auch nicht mit Erfolg damit begründen, die vollständige Entziehung sei hier geeignet gewesen, das angestrebte Regelungsziel (Vorlage der benötigten Kontoauszüge und der Anlage Unterhalt) zumindest zu fördern, weil es „die Klägerin selbst in der Hand habe“, ob die Entziehung „ihre Wirkung als sanfte Druckausübung entfalte“. Für die stattgehabte Totalentziehung existenzsichernder Leistungen ist die Bezeichnung als „sanfte Druckausübung“ so evident unrichtig, dass bereits diese Formulierung als ironisch-beschönigende Häme wirkt, deren unverhohlen paternalistischer (und damit dem Grundgesetz völlig fremder) Unterton gegenüber der (dem Behördenwohlwollen ausgesetzten) Klägerin zu Ziff. 1. herabsetzend gemeint sein kann und die Besorgnis der Befangenheit der derart sprachlich ausfälligen Behördenvertreterin begründet. Zudem vermag in tatsächlicher Hinsicht der Beklagte mitnichten davon auszugehen, die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu Ziff. 1 hätten es selbst in der Hand gehabt, den Mitwirkungsaufforderungen nachzukommen: Für die 2019 geborene Klägerin zu Ziff. 2. war die persönliche Erfüllung der abverlangten Vorlage der Kontoauszüge im Jahr 2022 schon aufgrund ihres Lebensalters subjektiv ebenso unmöglich wie das Ausfüllen des Formularvordrucks für Fallkonstellationen mit Unterhaltsbezug. Auch an der ins Blaue hinein unterstellten Selbsthilfemöglichkeit der Klägerin zu Ziff. 1. im konkreten Fall bestehen begründete Zweifel. Insofern ist der Beklagte trotz entgegenstehender Anhaltspunkte seiner Pflicht nicht nachgekommen, von Amts wegen die zur sachgemäßen Ermessensausübung erforderlichen und möglicherweise für die Klägerin zu Ziff. 1. günstigen Einzelfallumstände zu ermitteln, welche der geforderten Mitwirkung bzw. der beabsichtigten Entziehung entgegenstehen könnten. Ihre mündliche Anhörung gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. §§ 2021 Abs. 1 Ziff. 1 Var. 1 SGB X war hier zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich, weil es sich bei der Klägerin zu 1. um eine alleinerziehende Mutter eines dreijährigen Kindes in prekären Lebensverhältnissen handelte, die den Namen des unterhaltspflichtigen Kindesvaters aus unbekannten Gründen im schriftlichen Verfahren nicht preisgeben konnte oder wollte. In Anbetracht der Umstände dieses Einzelfalls sind hier – neben der sich aufdrängenden Inanspruchnahme des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung – vielfältige Sachverhaltsvarianten bzw. objektiv-grundrechtlich geschützte Motive denkbar, die nachvollziehbar und schlüssig gegen eine sofortige und vorbehaltslose Mitwirkung bzw. Entziehung sprechen könnten. Selbst falls im Ergebnis einer persönlichen Anhörung keine weiteren Umstände zutage getreten wären, welche bei vernünftiger Abwägung eines unvoreingenommenen und besonnenen Betrachters eine Geheimhaltung bzw. Zurückhaltung der eigenen bzw. drittbezogenen Daten zwingend erfordern, könnte die Klägerin zu Ziff. 1 aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände sowie in Anbetracht ihrer ggfs. reduzierten individuellen Einsichts- und Steuerungskapazitäten in der sehr fordernden sozialen Rolle als arbeits- und mittellose Mutter einer dreijährigen Tochter aus ihrer subjektiven Sicht ggfs. sehr wohl nur eingeschränkt in der geforderten Weise mitwirken können, weshalb ggfs. hier jedwede Entziehung oder Versagung zur Zweckerreichung ungeeignet, unverhältnismäßig bzw. ermessensfehlerhaft und vor dem Erlass eines Verwaltungsaktes nach § 66 Abs. 1 SGB II eine Einladung des Beklagten auch zur mündlichen Auskunft und Beratung unerlässlich gewesen wäre, um der Verfestigung prekärer Lebensverhältnisse sowie der damit einhergehenden verfassungswidrigen Härten entgegenzuwirken.

 

Viel zu leicht macht es sich der Beklagte deshalb auch, wenn er pauschal behauptet, die Totalentziehung sei hier als mildestes Mittel zur Sachverhaltsaufklärung erforderlich gewesen, da mit gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit und vergleichbar niedrigem Aufwand weder die Beibringung der Kontoauszüge zu veranlassen noch der unterhaltspflichtige Kindsvater zu ermitteln gewesen seien. Dass ein aufklärendes und beratendes Gespräch mit der hilfebedürftigen alleinerziehenden Mutter im vorliegenden Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zumindest nicht weniger geeignet, erforderlich und angemessen gewesen wäre, um sie zur geforderten Mitwirkung zu veranlassen, als die vom Beklagten ausgewählte Totalentziehung, war anfänglich ebenso zu prognostizieren wie es nachträglich zu konstatieren ist. Denn prognostisch ist auch im Hinblick auf die allseits wünschenswerte Qualität einer oft jahrelangen Kundenbindung der Jobcenter zu Menschen mit gewichtigen sozialen Teilhabeeinschränkungen ein empathisch zugewandter Dialog auf Augenhöhe regelmäßig vielversprechender als ein nicht selten von vorneherein zweckloser Versand förmlicher Mitwirkungsaufforderungen mit endlosen Rechtsfolgenbelehrungen in einem Jargon, der für Angehörige marginalisierter Gesellschaftsgruppen mitunter missverständlich ist, wenn er nicht – wie hier – sogar ausstoßend wirkt. Und nachträglich ist aufgrund der Angaben der rechtsanwaltlichen Bevollmächtigten der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung zu konstatieren, dass die unbefristete, vollständige, und gegen alle Mitglieder der BG gerichtete Leistungsvorenthaltung gerade nicht dazu geführt hat, dass die Klägerin zu Ziff. 1. mehr Vertrauen zum Beklagten fassen und sich zu einer umfassenden Offenlegung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihm gegenüber durchringen konnte. Vielmehr leben die beiden Klägerinnen inzwischen den rechtsanwaltlichen Angaben zufolge wohl im Wesentlichen von Spenden und zahlen schon länger keine Miete mehr.

 

Der mit diesem Ergebnis rückblickend fatalen behördlichen Ermessensausübung haftet der Nachgeschmack eines von Klassismus triefenden, autoritär-gönnerhaften Selbstverständnisses ebenso an wie deren gerichtlicher Prüfung im erfolglosen Eilrechtsschutzverfahren. Derart dürfen sich die Sozialleistungsverwaltung und Sozialgerichtsbarkeit in unserer freiheitlich-demokratischen Republik im Verhältnis zu ihren wirtschaftlich schwächsten Bürgern jedoch nicht begreifen. „Jobcenter“ (vgl. §§ 6d, 12 Abs. 4 Satz 5 Hs. 2, 43 Abs. 1 SGB II) sind gesetzgeberisch konzipiert als Dienstleister verfassungskräftig unantastbar würdevoller (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG) Bürger bzw. sprichwörtlich königlicher „Kunden“ (vgl. § 51a Satz 1 bis 5 und § 51b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2 SGB II). Jedem steuerfinanzierten „Kundenberater“ jedes steuerfinanzierten „Jobcenters“ ist es zuzumuten, seinen königlichen „Kunden“ bei Bedarf „Kundengespräche“ in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben.

 

Aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Ermessensausübung des Beklagten kann die Klägerin zu Ziff. 1. den Rechtsangriff durch die hiernach rechtswidrige Entziehung der Leistungen gemäß § 66 SGB I im Wege einer erfolgreichen Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 03. Mai 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07. Juli 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2022 abwehren, soweit er sie selbst betrifft.

 

Im Hinblick auf die bereits mit Bescheid vom 29. November 2022 an sie bewilligten, aber noch nicht an sie ausgezahlten Geldleistungen für den Zeitraum 07. Mai 2022 bis 31. Oktober 2022 kann die Klägerin zu Ziff. 1 zugleich im Wege der Leistungsklage einen vollstreckbaren Leistungstitel erlangen [vgl. Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, § 66 SGB I (Stand: 02.12.2022), Rn. 74] und gemäß § 193 SGG die für ihre erfolgreiche Rechtsverfolgung angefallenen außergerichtlichen Kosten erstattet verlangen, welche die unterlegene Klägerin zu Ziff. 2. nach ihrer Klagerücknahme jedoch alleine trägt.

 

Bei alldem ist das angerufene Gericht in der Hauptsache nicht gebunden an seine gegensätzliche Beurteilung der Ermessensausübung im einstweiligen Rechtsschutz-verfahren S 5 AS 2062/22 ER. Ersichtlich hatte es bei seiner allenfalls summarischen Prüfung entweder die für das Grundsicherungsrecht verfassungskräftigen Beurteilungsmaßstäbe ebenso verkannt wie der Beklagte oder – viel verwerflicher – der schnellstmöglichen Herbeiführung einer richterstatistikträchtigen Fallerledigung mehr Gewicht beigemessen als dem Wohl und der Würde zweier leibhaftiger Menschen in Not. Wie dem auch sei: Das Sozialgericht Karlsruhe bereut zutiefst seinen im Fall der Klägerinnen einstweilen verfassungswidrigen Irrweg, sein unverzeihliches Versagen.

 

 

Rechtskraft
Aus
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