1. Es ist verfahrensfehlerhaft, wenn das Sozialgericht eine offenkundig irrtümlich falsche Beklagtenbezeichnung in der Klageschrift nach Antrag des Klägers auf Rubrumsberichtigung nicht entsprechend korrigiert, sondern die Klage gegen den in der Klageschrift bezeichneten (falschen) Beklagten mangels Passivlegitimation (auch noch „als unzulässig“) abweist (hier: Klage auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung gegen den Freistaat Thüringen anstatt gegen den zuständigen Landkreis).
2. Für die Frage, wer nach dem Willen des Klägers Beklagter sein soll, ist entscheidend, wie das Rechtsschutzbegehren bei Berücksichtigung aller bekannten Umstände verstanden werden musste.
3. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Klageänderung i. S. v. § 99 Sozialgerichtsgesetz.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 16. Februar 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Bei der 1957 geborenen Klägerin wurde durch Bescheid vom 16. Juni 2008 wegen Diabetes mellitus und Morbus Basedow ein GdB von 30 ab dem 29. Februar 2008 festgestellt. Auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 27. Mai 2014 wurde mit Bescheid vom 13. Oktober 2014 der GdB aufgrund der Diabetes mellitus-Erkrankung auf 40 angehoben.
Am 15. April 2019 stellte die Klägerin mit Hinweis auf die Belastungen, die sie aufgrund ihrer Diabeteserkrankung durchmache, einen Neufeststellungsantrag. Sie schilderte ihren Therapieaufwand und die psychischen Auswirkungen der Krankheit. Außerdem fügte sie ihr Diabetestagebuch für die Zeit vom 26. Oktober 2018 - 3. März 2019 bei. Der Beklagte holte einen Befundbericht von W1 und dem Augenarzt E ein. Der Beklagte sah einen weiteren Einzel-GdB von 10 für den Bluthochdruck als gegeben an, lehnte aber eine Änderung des Bescheids vom 13. Oktober 2014 hinsichtlich des Gesamt-GdB von 40 ab.
Dagegen hat sich die Klägerin mit Widerspruch vom 19. August 2019 gewandt. Sie ist der Ansicht, dass allein ihre Diabetes mellitus-Erkrankung schon einen GdB von 50 rechtfertige. Sie schildert nochmal ihre Einschränkungen und übermittelt das Diabetestagebuch vom 24. August - 8. November 2019. Der Beklagte holte einen erneuten Befundbericht von W1 ein und zog den Entlassungsbericht der Reha-Knappschaftsklinik N, wo die Klägerin vom 20. August - 10. September 2019 an einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation teilgenommen hat, bei. Die Klägerin hat am 11. Februar 2020 erklärt, dass es bei ihr häufig zu Hypoglykämien komme, die in der Regel allerdings selbst behandelt werden könnten. Im September und Dezember 2018 sowie Februar 2019 seien Hypoglykämien mit Bewusstlosigkeit aufgetreten. Sie habe im März 2019 einen Sensor und im September 2020 eine Insulinpumpe erhalten. Dem Beklagten lag ein weiterer Befund von W1 vom 20. Februar 2020 vor. Der Beklagte gab den Widerspruch zur Entscheidung an das Thüringer Landesverwaltungsamt ab. Dieses wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2020 für den Freistaat Thüringen zurück.
Am 27. November 2020 erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegen den „Freistaat Thüringen, vertreten durch das Thüringer Landesverwaltungsamt“ Klage vor dem Sozialgericht Gotha. Nachdem der damalige Beklagte beantragt hatte, die Klage als unzulässig abzuweisen, weil sie sich nicht gegen den passiv legitimierten Landkreis richte, teilte das Sozialgericht mit, dass die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Passivrubrums nicht vorlägen und eine Klageänderung nicht sachdienlich sei. Der Prozessbevollmächtigte bat um Änderung des Passivrubrums auf den Landkreis Weimarer Land, was das Sozialgericht ablehnte. Mit Gerichtsbescheid vom 16. Februar 2021 wies das Sozialgericht Gotha die Klage als unzulässig ab, weil sie sich gegen den falschen Beklagten richte. Eine Klageänderung auf den Landkreis sei nicht sachdienlich, denn dafür sei die Klagefrist abgelaufen.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 16. März 2021 zugestellt. Mit der gegen den Landkreis gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 16. Februar 2021 aufzuheben und den Bescheid vom 13. August 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2020 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr ab 15. April 2019 einen Gesamt-GdB von mindestens 50 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angegriffenen Entscheidungen für rechtmäßig.
Der Senat hat Befundberichte des Facharztes für Augenheilkunde E und von W1, dem weitere medizinische Unterlagen beigefügt waren, eingeholt. Die Klägerin hat nochmals ihre aufgrund der Diabeteserkrankung bestehenden Einschränkungen geschildert und einen Ausdruck über die Blutzuckermessung Oktober 2021 - Januar 2022 sowie einen Arztbrief des HNO-Arztes W2 mit Audiometrie vom 17. Januar 2022 vorgelegt. Aus letzterem ergibt sich eine Verschlechterung des Hörvermögens der Klägerin.
Außerdem beauftragte das Gericht auf Antrag der Klägerin V, Fachärztin für Innere Medizin und Diabetologie, mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens in ihrem Fachgebiet. V untersuchte die Klägerin am 16. September 2022. Sie bestätigt die Diabeteserkrankung der Klägerin und schätzt die Stoffwechseleinstellung als mäßig bis gut ein. Seit der Nutzung der Insulinpumpe hätten die Zuckerwerte einen gleichmäßigeren Verlauf. Die Sachverständige empfiehlt für die Diabeteserkrankung einen Einzel-GdB von 40. Für den Bluthockdruck und die Schwerhörigkeit sei ein Einzel-GdB von jeweils 10 und für die Polyneuropathie ein Einzel-GdB von 20 anzunehmen. Insgesamt sieht V einen GdB von 50 als gegeben an.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schrift-sätze Bezug genommen. Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.
Entscheidungsgründe
Der Senat übt sein nach § 159 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eröffnetes Ermessen dergestalt aus, dass er selbst in der Sache entscheidet. Nach dieser Vorschrift kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache nach näherer Maßgabe an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn 1. dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, 2. das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Hier sind beide Alternativen gegeben (zum Verfahrensmangel, wenn das Gericht eine offenbar falsche Beklagtenbezeichnung nicht mittels Rubrumsberichtigung korrigiert: BSG, Urteil vom 20. Februar 2020 – B 14 AS 9/19 B – juris Rdnr. 2). Unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat vorliegend nicht für sachgerecht, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen, zumal der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der Berufungsschrift ausdrücklich ausgeführt hat, dass es keiner Zurückverweisung bedarf.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als 40.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 13. August 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2020, mit dem der Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 15. April 2019 abgelehnt wurde.
Die Berufung ist zulässig. Die Berufung richtet sich zutreffend gegen den beklagten Landkreis. Dieser ist die nach § 152 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zuständige Behörde. Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und die Auswirkungen einer länger als sechs Monate dauernden Funktionsstörung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen nach § 152 Abs. 4 SGB IX die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Absatz 1 der Vorschrift. Zudem stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (§ 2 Abs. 2 SGB IX), den Grad der Behinderung sowie im Falle des Absatzes 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind (§ 152 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB IX).
Der Freistaat hatte von der Möglichkeit des bis zum 31. Dezember 2017 geltenden § 69 Abs. 1 Satz 7 SGB IX (nunmehr § 152 Abs. 1 Satz 7 SGB IX), wonach die Zuständigkeit durch Landesrecht abweichend von Satz 1 geregelt werden kann, Gebrauch gemacht und mit Gesetz vom 20. Dezember 2007 (GVBl. 2007, S. 267 ff., S. 272) ab 01. Mai 2008 die Landkreise und kreisfreien Städte zu den nach § 152 SGB IX zuständigen Behörden bestimmt, die die Aufgaben im übertragenen Wirkungskreis ausführen. Die ursprüngliche Befristung der Aufgabenübertragung bis 31. Dezember 2012 wurde aufgehoben (Änderungsgesetz vom 14. Dezember 2012, GVBl. 2012, S. 442).
Der angefochtene Widerspruchsbescheid wurde vom Freistaat Thüringen, vertreten durch das Landesverwaltungsamt, als Fachaufsichtsbehörde (§ 118 Abs. 5 Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung, Thüringer Kommunalordnung - ThürKO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Januar 2003 (GVBl. 2003, S. 41) und zuständige Widerspruchsbehörde erlassen (vgl. § 10 des Thüringer Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung [ThürAGVwGO] i.V.m. § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Eine abweichende Bestimmung nach § 219 SGG wurde nicht getroffen.
Die Berufung der Klägerin ist unbegründet.
Die Klage ist zwar unzutreffend (schon gar als unzulässig) abgewiesen worden, denn das erstinstanzliche Gericht hätte das Passivrubrum im vorliegenden Fall auch noch nach Ablauf der Klagefrist berichtigen können (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011, Az.: B 3 P 1/10 R) - und jedenfalls nach der entsprechenden Äußerung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin - auch müssen. Denn ist der Beklagte falsch bezeichnet, aber erkennbar, gegen wen sich die Klage in der Sache richten soll, ist das Passivrubrum von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 18. August 2022 – B 1 KR 50/22 B – juris Rdnr. 10). Für die Frage, wer nach dem Willen des Klägers Beklagter sein soll, ist der objektive Erklärungswert entscheidend, d. h. wie das Gericht und die übrigen Prozessbeteiligten bei Berücksichtigung aller ihnen erkennbaren Umstände das Rechtsschutzbegehren verstehen müssen. Für die Ermittlung der Beteiligten durch Auslegung ihrer Bezeichnung sind nicht nur die im Rubrum der Klageschrift enthaltenen Angaben, sondern auch der gesamte Inhalt der Klageschrift einschließlich etwaiger beigefügter Anlagen zu berücksichtigen. Dabei gilt der Grundsatz, dass die Klageerhebung gegen den in Wahrheit gemeinten Beteiligten nicht an dessen fehlerhafter Bezeichnung scheitern darf, wenn dieser Mangel in Anbetracht der jeweiligen Umstände letztlich keine vernünftigen Zweifel an dem wirklich Gewollten aufkommen lässt. Dieser Grundsatz greift auch dann, wenn statt der richtigen Bezeichnung irrtümlich die Bezeichnung einer tatsächlich existierenden (juristischen oder natürlichen) Person gewählt wird, solange nur aus dem Inhalt der Klageschrift und etwaigen Anlagen unzweifelhaft deutlich wird, welcher Beteiligte tatsächlich gemeint ist (vgl. BSG, Beschluss vom 18. August 2022 – B 1 KR 50/22 B – juris Rdnr. 10).
Nach diesen Grundsätzen lag auf der Hand, dass als Beklagter in Abweichung von der Klageschrift der Landkreis Weimarer Land in das Rubrum aufzunehmen war. Die Klage richtete sich ausdrücklich gegen „den Bescheid des Landratsamtes Weimarer Land“ (in Gestalt des Widerspruchsbescheides). Der Widerspruchsbescheid, mit dem der Widerspruch zurückgewiesen wurde, war der Klageschrift beigefügt. Daraus geht hervor, dass es um einen Antrag auf Neufeststellung des GdB ging, der von der Ausgangsbehörde abgelehnt worden war. Dass die Klägerin mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war, ergibt sich eindeutig aus dem Schriftsatz vom 27. Januar 2021. Wie der Senat bereits im Urteil vom 18. Juni 2020 (L 5 SB 538/18) entschieden hat, kann eine Berichtigung der Beteiligtenbezeichnung auf den richtigen passivlegitimierten Rechtsträger auf Behördenseite (hier vom Freistaat Thüringen auf den zuständigen Landkreis) auch noch nach Ablauf der Klagefrist für eine Klage gegen diesen Träger erfolgen. Ein sachlicher Grund, die Rubrumsberichtigung zu versagen, bestand nicht. Es handelte sich auch nicht um einen gewillkürten Parteiwechsel auf Beklagtenseite im Sinne einer Klageänderung nach § 99 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011, B 3 P 1/10 R).
Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 152 Abs. 1 SGB IX. Danach stellen die zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Als Grad der Behinderung werden dabei sowohl bei der erstmaligen Feststellung, als auch bei einer Neufeststellung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB nach § 152 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilnahme an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Für die Bemessung des GdB sind die Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 nebst deren Anlagen zu § 2 „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) maßgeblich.
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. Beschluss vom 20. November 2012, B 9 SB 36/12 B) in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB (zweiter Schritt) und des Gesamt-GdB (dritter Schritt) kommt es nach § 152 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an.
Bei diesen Prüfungsschritten sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sogenannte antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten. Für die seit 01. Januar 2009 geltende Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV vom 10. Dezember 2008, BGBl. I 2008, S. 2412 f. nebst Anlage zu deren § 2 - Versorgungsmedizinische Grundsätze - VG) gilt das Gleiche.
Die VersMedV wird auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellt und fortentwickelt. Wie in der Gesetzesbegründung vorgesehen (vgl. BR-Drucksache 541/07 S. 1 ff., 66 f.), ergeben sich hieraus jedoch nur die im Rahmen der Fortentwicklung zu erwartenden vereinzelten Abweichungen gegenüber dem bislang nach den AHP anzuwendenden Maßstab. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP sowie der Versorgungsmedizinischen Grundsätze identisch ist.
Gemessen daran besteht bei der Klägerin kein Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50.
Der GdB ergibt sich nach Bewertung der Haupterkrankung der Klägerin, dem Diabetes mellitus. Für diesen ist ein Einzel-GdB von 40 festzusetzen.
Teil B Nr. 15.1 VersMedV regelt die Festlegung des GdB bei Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) wie folgt:
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0. |
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20. |
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40. |
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50. |
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen. |
Für die hier streitige Feststellung eines GdB von (mindestens) 50 enthält Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 AnlVersMedV drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbstständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Diese Kriterien sind nach Auffassung des Bundessozialgerichts, dem sich der Senat anschließt, nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden; vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 SB 2/13 R).
Die Klägerin ist seit September 2020 mit einer Insulinpumpe versorgt. Die beiden auf den Therapieaufwand bezogenen Voraussetzungen für einen GdB von 50 (täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbstständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung) sind bei ihr unstreitig erfüllt. Darüber hinaus fehlt es aber an einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensführung bei der hier anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 SB 2/13 R). Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung lässt sich nur unter strengen Voraussetzungen durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung bejahen. Im streitigen Zeitraum gab es keine Stoffwechselentgleisungen, die eine Fremdhilfe erforderlich gemacht hätten. Seit die Klägerin mit der Insulinpumpe versorgt ist, besteht eine ausgeglichene Stoffwechsellage. Auch weitere besondere Beeinträchtigungen schildert die Klägerin nicht. Die auf Antrag der Klägerin beauftragte Sachverständige V hält ebenfalls bei der Diabeteserkrankung einen Einzel-GdB von 40 für angemessen.
Die bei der Klägerin vorliegende Polyneuropathie hat sich im Laufe des Verfahrens verschlechtert. Während diese im Verwaltungsverfahren noch keinen GdB bedingte und auch im Gerichtsverfahren zunächst sehr schwach ausgeprägt war (vgl. Befund W1 vom 6. Januar 2021), zeige sich bei der Untersuchung durch V am 16. September 2022 eine leichte bis mittlere Polyneuropathie mit neuropathischen Defiziten und von der Klägerin angegebenen Schmerzen. V schätzte den Einzel-GdB hierfür auf 20. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Einschätzung gefolgt oder nur von einem Einzel-GdB von 10 ausgegangen wird, weil die Polyneuropathie bei der Klägerin bisher noch nicht zu Gangunsicherheiten geführt hat, denn der für die Polyneuropathie festgestellte GdB wirkt sich nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus.
Die weiteren Behinderungen der Klägerin (Bluthochdruck, Schwerhörigkeit) bedingen jeweils einen Einzel-GdB von 10.
Bei den festgestellten Einzel-GdB ist ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht gerechtfertigt.
Nach Teil A Nr. 3a VG gilt für die Bildung des Gesamt-GdB folgendes: Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Teil B Nr. 3b VG). Nach Teil A Nr. 3 d ee) führen, von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdS von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Unter Beachtung dieser Grundsätze kommen ein höherer GdB oder die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft nicht in Betracht. Die Diabeteserkrankung bedingt den höchsten Einzel-GdB von 40. Das gesamte Ausmaß der Behinderung wird nicht durch die weiteren festgestellten Behinderungen vergrößert. Insbesondere ist die für die Polyneuropathie festgestellte Einschränkung noch so gering, dass sie nicht geeignet ist, den GdB zu erhöhen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.