S 17 KA 642/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 642/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der Tätigkeitsort einer ärztlichen Leitung eines MVZ kann auch eine Nebenbetriebsstätte des MVZ sein, sofern der Gesamtverantwortung im Einzelfall dadurch hinreichend Rechnung getragen werden.

2. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn zwischen Nebenbetriebs- und Hauptbetriebsstätte eine Distanz liegt, die in weniger als 30 min zu überbrücken ist. 
 


Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000€ festgesetzt.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtsfrage, ob die ärztliche Leitung eines MVZ an der Hauptbetriebsstätte tätig sein muss. 

Die Beigeladene zu 7) nimmt in Form eines MVZ an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie unterhält außer der Hauptbetriebsstätte A-Stadt, A-Straße noch zwei Nebenbetriebsstätten in A-Stadt, C-Straße und in D-Stadt, D-Straße. 

Das MVZ verfügt über folgende ärztliche Besetzung:
• E., 20 Std./Woche, Frauenärztin (bis 31. März 2023)
• Dr. med. F., 9 Std./Woche, Frauenärztin
• G., 15 Std./Woche, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Zweigpraxis in A-Stadt, C-Straße
• S., 32 Std./Woche, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Zweigpraxis in D-Stadt, D-Straße
• Dr. med. J., 20 Std./Woche, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Zweigpraxis in D-Stadt, D-Straße
• Dr. med. univ. K., 18 Std./Woche, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Zweigpraxis in D-Stadt, D-Straße

Mit Beschluss vom 21. Juni 2022 stellte der Zulassungsausschuss fest, dass das MVZ der Beigeladene zu 7) einerseits mit Wirkung zum 1. Juli 2022 nicht mehr unter der ärztlichen Leitung des Frauenarztes H. steht; andererseits wurde jedoch der weitere Antrag der Beigeladene zu 7) abgelehnt, die lediglich an einer Nebenbetriebsstätte der Beigeladene zu 7) in D-Stadt angestellte Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin S. als ärztliche Leiterin des MVZ anzuerkennen. Der Zugang der an der Nebenbetriebsstätte des MVZ angestellten Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin S. als ärztliche Leiterin des MVZ sei abzulehnen. Der/Die Leiter*in eines MVZ müsse an der Hauptbetriebsstätte angestellt sein, um seine/ihre gesetzlich vorgeschriebene Funktion ausüben zu können. Zudem ergebe sich bereits aus der Gesetzessystematik, dass nur eine Anstellung an der Hauptbetriebsstätte möglich sei. Aus dem Wortlaut des § 95 Abs. 1 S. 2 und S. 3 SGB V sei zu schließen, dass die Funktion der ärztlichen Leitung durch im MVZ selbst angestellte oder als Vertragsarzt/Vertragsärztin tägie Ärzte ausgeübt werden solle. Nur so könne der mit der ärztlichen Leitung verfolgte Zweck erreicht werden, dass dieser die Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe und eine Gesamtverantwortung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung obliegen solle. Insoweit verlange die Ausübung dieser Leitungsfunktion die Präsenz des entsprechenden Arztes am Hauptstandort des MVZ, weil nur so die Erfüllung dieser besonderen Pflichtenstellung gewährleistet werden könne. Dies ergebe sich auch daraus, dass die überwiegende ärztliche Tätigkeit eines MVZ an dessen Hauptbetriebsstätte stattfinden müsse. Denn § 17 Abs. 1a Satz 5 BMV-Ä i.V.m. 24 Abs. 3 Satz 5 Ärzte-ZV schreibe vor, dass in Fällen der Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit an mehreren Orten die Tätigkeit am Vertragsarztsitz zeitlich insgesamt überwiegen müsse. Damit der/die Leiter*in eines MVZ seine/ihre Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe übernehmen könne, müsse diese*r auch an dem Ort beschäftigt sein, an dem die überwiegenden ärztlichen Leistungen erbracht werden müssten. Denn nur eine Leitung, die in die überwiegende Organisations- und Versorgungsstrukturen des MVZ eingebunden sei, habe tatsächlich Einwirkungsmöglichkeiten auf die gesamten Abläufe und könne sicherstellen, dass ärztliche Entscheidungen unabhängig von sachfremden Erwägungen getroffen würden. Mit einer Anstellung an einer untergeordneten Nebenbetriebsstätte könne somit die gesetzlich vorgeschriebene Funktion eines ärztlichen Leiters/einer ärztlichen Leiterin nicht in einem ausreichenden Maß erfüllt werden. § 95 Abs. 1 S. 3 SGB V sei mithin so zu lesen, dass der ärztliche Leiter als konstitutives Merkmal eines MVZ an der Hauptbetriebsstätte tätig sein müsse.

Gegen diesen Beschluss legte die Beigeladene zu 7) Widerspruch ein. Die Begründung des Zulassungsausschusses für Ärzte entbehre einer normativen Grundlage. Aus der Formulierung des § 95 Abs. 1 Satz 3SGB V ergebe sich, dass der/die Leiter*in im MVZ selbst als angestellter Arzt/angestellte Ärztin oder Vertragsarzt/Vertragsärztin tätig sein müsse. In der gesetzlichen Regelung sei kein Hinweis vorhanden, dass der/die Leiter*in des MVZ an der Hauptbetriebsstätte tätig sein müsse. Für die Übernahme der Position und die damit verbundene Ausübung der Leitungsfunktion sei es erforderlich, dass diese Einblick habe und Einfluss auf die medizinischen Abläufe des MVZ ausüben könne. Dies sei nicht davon abhängig, ob die ärztliche Tätigkeit an der Hauptbetriebsstätte oder an der Nebenbetriebsstätte ausgeübt werde. In der Zweigpraxis des MVZ in D-Stadt, in welcher Frau S. tätig sei, seien drei Fachärztinnen für Kinder - und Jugendmedizin mit zwei vollen Versorgungsaufträgen tätig. Frau S. sei auf einem der Sitze angestellt und mit 32 Stunden pro Woche tätig. Es finde ein enger Austausch mit der Geschäftsführung am nur wenige Kilometer entfernten Hauptstandort in A-Stadt statt, Frau S. erfülle sämtliche Voraussetzungen für die Übernahme der Funktion der ärztlichen Leiterin für das gesamte MVZ und sei auch in der Lage, die Betriebsabläufe zu steuern und die Gesamtverantwortung zu tragen. Abschließend wurde von der Beigeladenen zu 7) darauf hingewiesen, dass ohne die Feststellung des Zugangs der genannten Ärztin als ärztliche Leiterin die Existenz des Gesamt-MVZ gefährdet sei, da ohne ärztliche Leitung die Zulassung nach § 85 Abs. 6 Satz Ziffer eins SGB V unverzüglich zu entziehen sei, da die sechs Monatsfrist nach § 95 Abs. 6 Satz 3 SGB V für die Wiederherstellung der Zulassungsvoraussetzungen nicht gelte.

Der Beklagte gab dem Widerspruch mit Beschluss vom 7. September 2022 statt. Die Ansiedlung der ärztlichen Leitung eines MVZ auch in einer Nebenbetriebsstätte desselben könne zulässig sein, da keine entgegenstehende ausdrückliche gesetzliche Regelung existiere. Ob und inwieweit dies generell Gültigkeit besitze, könne im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, da die Besonderheiten des Falles zu berücksichtigen seien und diese jedenfalls hier dazu führe, dass von einer Zulässigkeit einer solchen Regelung ausgegangen werden müsse. Im vorliegenden Fall spreche für die Zulässigkeit der Ansiedlung der ärztlichen Leitung in einer Nebenbetriebsstätte die Tatsache, dass sämtliche Betriebsstätten des MVZ räumlich nahe beieinanderlägen, teilweise fast dieselbe Größe hätten und eine gute verkehrliche Infrastruktur existiere. Zudem sei zu beachten, dass aufgrund der heute vorhandenen Möglichkeiten der Telekommunikation die persönliche Anwesenheit des Leiters/der Leiterin in einer Betriebsstätte nicht unbedingt erforderlich sei, um die Leitungsfunktion auszuüben. Demgemäß sei davon auszugehen, dass jedenfalls im vorliegenden Fall die ärztliche Leitung des MVZ auch in einer Nebenbetriebsstätte angesiedelt sein könne.

Der Zulassungsausschuss teilte der Beigeladene zu 7) mit E-Mail vom 29. November 2022 mit, dass das MVZ aufgrund der von der Beigeladenen zu 1) mit aufschiebender Wirkung erhobenen Klage „erneut keinen Ärztlichen Leiter mehr“ habe und zur Abwendung der Zulassungsentziehung unverzüglich, spätestens bis 13. Dezember 2022 ein neuer Ärztlicher Leiter benannt werden müsse. Die Frist wurde im Nachgang bis zum 14. Februar 2023 verlängert. 

Im von der Beigeladenen zu 7) initiierten Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes (Aktenzeichen S 17 KA 806/22 ER) hat die Kammer mit Beschluss vom 29. Dezember 2022 die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Beklagten – befristet bis zum 31. Juli 2023 – angeordnet. Ihrer Entscheidung hat die Kammer folgende Erwägungen zugrunde gelegt:
„Zur Überzeugung der Kammer ergibt die allgemeine Interessenabwägung jedoch ein deutliches Überwiegen des Vollzugsinteresses der Antragstellerin. Die Antragstellerin steht unter erheblichem Zeitdruck, da sie die ärztliche Leitung bis zum 14. Februar 2023 besetzen muss, will sie nicht ihre Zulassung verlieren. Die Antragstellerin hat zudem dargelegt – und diese Einschätzung teilt wohl auch der Antragsgegner nach Bekanntwerden der Kündigung von Frau E. -, dass im MVZ aktuell niemand angestellt ist, der sowohl die räumlichen und fachlichen, als auch die quantitativen Anforderungen an die ärztliche Leitung erfüllt. Insofern ist die Entscheidung der Antragstellerin, Frau S. mit der ärztlichen Leitung zu befassen – auch wenn diese nicht an der Hauptbetriebsstätte arbeitet – im Moment alternativlos. Alle übrigen Angestellten verfügen nicht über einen entsprechenden Tätigkeitsumfang. 
Die Kammer folgt zudem den Ausführungen der Antragstellerin im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung im Bereich der Kinderheilkunde und Jugendmedizin, die ein gewichtiges öffentliches Interesse darstellt. Die Antragstellerin hat unwidersprochen dargelegt, dass zwei Sitze dieser Fachrichtung in D-Stadt mangels Nachfolgebewerbungen weggefallen wären, wenn sie diese nicht übernommen hätte. Dass der Wegfall der Zulassung der Antragstellerin insoweit erhebliche Auswirkungen auf die Sicherstellung der Versorgung in diesem Bereich hätte, liegt auf der Hand. 
In Abwägung mit diesen Gesichtspunkten erscheint es der Kammer hinnehmbar, dass zumindest vorübergehend die ärztliche Leitung nicht an der Hauptbetriebsstätte erfolgt. Dies gilt umso mehr, als der Schwerpunkt der ärztlichen Tätigkeit quantitativ nach der aktuellen Zusammensetzung des MVZ in D-Stadt liegt, wo drei Ärztinnen arbeiten, während in A-Stadt nur eine und in der Hauptbetriebsstätte 2 Ärztinnen (nach dem Weggang von Frau E. möglicherweise auch nur noch 1) tätig sind. 
Darüber hinaus liegen die Betriebsstätten so nah beieinander, dass – sofern die Leitungsfunktion ein Tätigwerden in A-Stadt erfordert – dies ohne Weiteres möglich erscheint.“ 

Gegen den Beschluss des Beklagten vom 7. September 2022 richtet sich die am 1. November 2022 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage. 

Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Funktion eines(r) ärztlichen Leiters/Leiterin nicht Rechnung getragen werden könne, wenn diese Person ausschließlich an einer Nebenbetriebsstätte tätig sei. Er/Sie trage die Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe des gesamten MVZ und sei verantwortlich für den ordnungsgemäßen Ablauf der vertragsärztlichen Versorgung im MVZ sowie die Einhaltung vertragsärztlicher Vorgaben durch die Mitarbeitenden. Er/Sie sei in medizinischen Fragen weisungsfrei und habe die Aufgabe, die im MVZ tätigen Ärzte vor einer Einflussnahme von Nichtärzten im Zusammenhang mit deren medizinischen Behandlungen zu schützen.

Es seien folgende Aufgabenbereiche zu definieren:
-    Die Steuerung des MVZ selbst in erheblichem Umfang (Personaleinsatz, medizinische Ausrichtung, Abrechnung) 
-    die sachlich und rechnerisch korrekte Abrechnung dokumentiert durch seine/ihre die Unterschrift 
-    die Einhaltung der Teilnahme des MVZ am Notdienst und Einteilung der Ärzte hierfür
-    die Prüfung, ob die im MVZ angestellten Ärzten ihren vertragsärztlichen Verpflichtungen nachkommen und ob die Abrechnungsgenehmigungen für die von den angestellten Ärzten erbrachten Leistungen vorliegen
-    die Vertretung von abwesenden Ärzten gemäß den rechtlichen Bedingungen
-    die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der ärztlichen Behandlung einschließlich der Verordnung von Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln sowie Sprechstundenbedarf
-    die Einhaltung von Qualitätssicherungs-, Hygiene- und weiteren Vorschriften
-    die Sicherstellung der Nichteinflussnahme Dritter in die ärztliche Behandlung

Aus diesen Aufgaben folge eine besondere Pflichtenstellung hinsichtlich des ordnungsgemäßen Ablaufs der vertragsärztlichen Versorgung im MVZ. 

Bei Verstößen gegen seine/ihre o.g. Pflichten sei der/die ärztliche Leiter/in gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung disziplinarrechtlich verantwortlich. Dieser direkte disziplinarrechtliche Durchgriff auf den Leiter/die Leiterin des MVZ sei auch deshalb notwendig, weil sich das MVZ zwar die Pflichtverletzungen der bei ihr tätigen und in die Behandlung der Versicherten einbezogenen Ärzte zurechnen lassen müsse, das MVZ aber als solches mangels Mitgliedschaft bei der KVB nicht der Disziplinargewalt der KV unterliege. 

Die Ausübung dieser gesetzlich vorgeschriebenen Leitungsfunktion erfordere die Präsenz des ärztlichen Leiters/der ärztlichen Leiterin am Hauptstandort des MVZ. Der Leiter/die Leiterin müsse tatsächlich in der Lage sein, einen Gesamtüberblick über und Einwirkungsmöglichkeiten auf den strukturellen, organisatorischen und täglichen Ablauf zu haben.

Das Erfordernis einer Tätigkeit an der Hauptbetriebsstätte ergebe sich auch daraus, dass die überwiegende ärztliche Tätigkeit eines MVZ an dessen Hauptbetriebsstätte stattfinden müsse. Andererseits habe aber nur ein(e) ärztlicher Leiter/Leiterin, der/die in die überwiegende Organisations- und Versorgungsstrukturen des MVZ eingebunden sei, tatsächlich und rein faktisch eine wirkliche Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten auf die gesamten Abläufe und könne ebenfalls sicherstellen, dass ärztliche Entscheidungen unabhängig von sachfremdem Erwägungen getroffen würden. Mit einer Anstellung an einer in der Leistungserbringung nur untergeordneten Nebenbetriebsstätte könne die gesetzlich vorgeschriebene Funktion eines(r) ärztlichen Leiters/in (Kontrolle/Steuerung etc.) schlicht nicht erfüllt werden und auch disziplinarrechtlich müsse seine/ihre persönliche Verantwortung für Vorgänge an der Hauptbetriebsstätte in Frage gestellt werden.

Das BSG habe bereits entschieden, dass der ärztliche Leiter/die ärztliche Leiterin mit mindestens einem hälftigen Versorgungsauftrag ärztlich tätig sein müsse und sich nicht auf Aufgaben in der Geschäftsführung des MVZ beschränken dürfe. Die Erwägungen dieser Entscheidung seien auf den vorliegenden Fall übertragbar. 

Die Klägerin beantragt, 
den Beschluss des Beklagten vom 7. September 2022 aufzuheben. 

Der Beklagte und die Beigeladene zu 7) beantragen, 
die Klage abzuweisen.

Sie sind übereinstimmend der Ansicht, dass im vorliegenden Einzelfall die ärztliche Leitung ohne Schwierigkeiten auch aus der Nebenbetriebsstätte heraus von Frau S. übernommen werden könne. Sie tragen zudem vor, dass es keine gesetzliche Vorgabe gebe, die erfordere, dass der/die Leiter*in eines MVZ in der Hauptbetriebsstätte desselben angesiedelt sein müsse. Im vorliegenden Fall spreche für die Zulässigkeit der Ansiedlung der ärztlichen Leiterin in einer Nebenbetriebsstätte die Tatsache, dass sämtliche Betriebsstätten des MVZ räumlich nahe beieinanderlägen, teilweise fast dieselbe Größe hätten und eine gute verkehrliche Infrastruktur existiere. Zudem sei zu beachten, dass aufgrund der heute vorhandenen Möglichkeiten der Telekommunikation die persönliche Anwesenheit des Leiters/der Leiterin in einer Betriebsstätte nicht unbedingt erforderlich sei, um die Leitungsfunktion auszuüben. Demgemäß sei davon auszugehen, dass jedenfalls im vorliegenden Fall die ärztliche Leitung des MVZ auch in einer Nebenbetriebsstätte angesiedelt sein könne. 

Mit Frau S. stehe eine für die Funktion hervorragend geeignete Ärztin mit großer Erfahrung in der vertragsärztlichen Versorgung zur Verfügung, die auch mit 32 Stunden/Woche mit mehr als einem halben Versorgungsauftrag als Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin tätig sei. Eine ebenso geeignete angestellte Ärztin/einen angestellten Arzt könne nicht in kurzer Zeit benannt werden. Frau E., die einzige an der Hauptbetriebsstätte tätige Ärztin, die unstreitig die Voraussetzungen für die Übernahme der Funktion erfülle, sei mit der ärztlichen Leitung vor geraumer Zeit betraut gewesen, habe aber aus persönlichen Gründen um Entbindung von dieser Funktion gebeten. Zudem habe Frau E. mit Schreiben vom 20. Dezember 2022 ihren Anstellungsvertrag zum 31. März 2023 gekündigt. Für den Fall, dass dem MVZ die Zulassung entzogen würde, wäre die Versorgung der Bevölkerung, insbesondere die der Kinder in D-Stadt und auch in A-Stadt nicht mehr gewährleistet. Es bestehe ein ganz erheblicher Bedarf an Fachärzten für Kinderheilkunde und Jugendmedizin zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten, die Prozessakte sowie die beigezogene Akte zum Aktenzeichen S 17 KA 806/22 ER verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. 

Der Beschluss des Beklagten vom 7. September 2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zur Überzeugung der Kammer bestehen im vorliegenden Einzelfall keine Bedenken dagegen, die ärztliche Leitung der Beigeladenen zu 7) an der Nebenbetriebsstätte in D-Stadt anzusiedeln. 

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 22.12.2011 (BGBl I S. 2983), in Kraft getreten zum 1. Januar 2012, muss der ärztliche Leiter/die ärztliche Leiterin in dem MVZ selbst ärztlich tätig und angestellt sein oder selber den Status als Vertragsarzt/Vertragsärztin besitzen. 

Aus dieser Vorschrift lassen sich – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – keine Anhaltspunkte für die streitgegenständliche Rechtsfrage ableiten. Es existiert weder eine gesetzliche Regelung zum Ort der Tätigkeit einer ärztlichen Leitung eines MVZ, noch hat diese Frage bisher in der Rechtsprechung eine Rolle gespielt. Hieraus ergibt sich zwingend, dass kein generelles gesetzliches Verbot besteht, die ärztliche Leitung eines MVZ, welches über mehrere Betriebsstätten verfügt, auch am Standort einer Nebenbetriebsstätte anzusiedeln. Daher kann der Klägerin nicht in ihrer Argumentation gefolgt werden, dass sich bereits aus dem Gesetz bzw. der Funktion der ärztlichen Leitung zwingend deren Ansiedlung am Ort der Hauptbetriebsstätte ergibt. Allerdings ist der Klägerin insoweit zuzustimmen, als sie vorträgt, dass eine ärztliche Leitung eines MVZ stets faktisch in der Lage sein muss, von ihrem jeweiligen Standort aus die vollständige und umfassende Kontrolle und Steuerung des MVZ wahrzunehmen.

Zu diesen Funktionen gehören die vielfältigen Aufgaben wie die Steuerung des MVZs hinsichtlich des Personaleinsatzes, der medizinischen Ausrichtung der Abrechnung, der sachlich und rechnerischen Abrechnung in der Form der Dokumentation durch Unterschrift des Ärztlichen Leiters, die Einhaltung der Teilnahme des MVZ am Notdienst und die Einteilung der Ärzte hierfür, die Prüfung, ob die im MVZ angestellten Ärzte ihren vertragsärztlichen Verpflichtungen nachkommen und ob die Abrechnungsgenehmigungen für die von den angestellten Ärzten erbrachten Leistungen vorliegen, die Vertretung von abwesenden Ärzten gemäß den rechtlichen Bedingungen, die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei den ärztlichen Behandlungen einschließlich der Verordnung von Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln sowie Sprechstundenbedarf, die Einhaltung von Qualitätssicherungs-, Hygiene- und weiteren Vorschriften sowie die Sicherstellung der Nicht-Einflussnahme Dritter in die ärztliche Behandlung. Diesen umfangreichen Aufgabenkatalog können ärztliche Leiterinnen und Leiter nur dann ausüben, wenn funktional hierfür die Möglichkeit besteht. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Person, welcher die ärztliche Leitung übertragen wurde, jederzeit kurzfristig die persönliche Anwesenheit auch in der Hauptbetriebsstätte gewährleisten kann. Darüber hinaus besteht aufgrund der heutigen Möglichkeiten der Telekommunikation auch unabhängig von einer persönlichen Präsenz eine weitgehende Möglichkeit der Kommunikation, Führung und Kontrolle ohne eine persönliche Anwesenheit der jeweiligen Leitungsperson. Eine inhaltliche Überwachung der ärztlichen Leistungen ist – anders als in Leitungspositionen in anderen Bereichen sonst üblich – aufgrund des Grundsatzes der persönlichen Leistungserbringung nicht möglich, so dass sich die Leitungstätigkeit auf die genannten administrativen und organisatorischen Abläufe beschränkt. In der Regel dürften diese Aufgaben durch persönliche Besprechungen, Telefonate, Emails und Nutzung moderner Kommunikationsmittel zu bewältigen sein. 

Unbeschadet der erwähnten Möglichkeiten der Telekommunikation ist jedoch auch die Kammer der Überzeugung, dass für die Ausübung einer effektiven Leitung stets erforderlich sein muss, dass in besonderen Situationen auch kurzfristig eine persönliche Präsenz der ärztlichen Leitung sowohl in der Hauptbetriebsstätte wie auch in der Nebenbetriebsstätte sichergestellt sein muss.

Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass diesen Maßstäben bei einer üblichen Erreichbarkeit der Hauptbetriebsstätte innerhalb von 30min Rechnung getragen ist. Bedenken gegen die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Pflichten der ärztlichen Leitung bestehen unter diesen Bedingungen nicht. Diese Rahmenbedingungen gelten nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG auch für die Erreichbarkeit des Vertragsarztsitzes bei Tätigkeit in ausgelagerten Praxisräumen, sogar unter dem strengen Maßstab der persönlichen Leistungserbringung (BSG, Urteil vom 6. April 2022, B 6 KA 12/21 R). Die Kammer hält die Erwägungen insoweit für übertragbar, als es auch in diesem Fall um die persönliche Erreichbarkeit einer verantwortlichen Person geht. Wenn dies für medizinische Leistungen gilt, kann für in der Regel weniger dringliche administrative und organisatorische Maßnahmen nichts Anderes gelten. 

Der Zeitraum von 30min entspricht auch jener Grenze, die das BSG typischerweise für die Erreichbarkeit des Vertragsarztes als Belegarzt zur Sicherstellung der erforderlichen Nähe zwischen Wohnung und Praxis und Krankenhaus festgelegt hat (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 6/20 R).

Im Interesse einer vorhersehbaren und möglichst gleichmäßigen Rechtsanwendung würde eine entsprechende Definition der zulässigen räumlichen Nähe zwischen Haupt- und Nebenbetriebsstätte für die Beantwortung der vorliegenden Rechtsfrage nicht zuletzt die vereinfachte Überprüfung dieser Anforderung durch die zuständigen Behörden sowohl in dicht besiedelten städtischen Wohngebieten als auch im ländlichen Raum ermöglichen. 

Dieses Zeitlimit ist vorliegend deutlich unterschritten. Die Entfernung zwischen Haupt- und Nebenbetriebsstätte beträgt 6,2 km. Die Distanz ist in ca. 15min zu überbrücken. Dass die persönliche Erreichbarkeit und Einbindung von Frau S. über diese Entfernung an der Hauptbetriebsstätte möglich ist, steht für die Kammer außer Zweifel.

Schließlich vermag die Kammer nicht zu erkennen, inwieweit sich die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Leitung an einer Hauptbetriebsstätte für Vorkommnisse an der Nebenbetriebsstätte von der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit der Leitung an einer Nebenbetriebsstätte für Vorkommnisse an der Hauptbetriebsstätte unterscheiden könnte. 

Aus diesen Gründen konnte die Klage keinen Erfolg haben. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO.

Der Streitwert war auf 5.000€ festzusetzen, da ein wirtschaftlicher Wert des Begehrens nicht feststellbar ist. 
 

Rechtskraft
Aus
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