Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die Verfahrenskosten einschließlich der Kosten des Beklagten zu tragen.
Der Streitwert wird auf 59.477,08 € festgesetzt.
Tatbestand
Die klagende Berufsgenossenschaft begehrt vom beklagten überörtlichen Sozialhilfeträger die Erstattung von Aufwendungen in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) für den Leistungsempfänger (LE) A. A. im Zeitraum vom 1.11.2015 bis 28.2.2019 i.H.v. 59.477,08 € sowie die Feststellung der (zukünftigen) Leistungszuständigkeit des Beklagten im Leistungsfall des LE ab 1.3.2019.
Der 1957 geborene Leistungsempfänger (LE) A. A. erlitt am 1.9.1978 in der ehemaligen DDR einen Arbeitsunfall. Zuvor hatte er nach dem Schulabschluss eine Fachausbildung als Schlachter gemacht. In diesem Beruf war er bis September 1976 und anschließend bis zum Arbeitsunfall als Melker in einer LPG in der DDR tätig gewesen. Hier arbeitete er in den Jahren 1986 und 1987 als Wächter, danach bis 1988 als Telefonist. Bei dem Arbeitsunfall erlitt der LE Quetschverletzungen beider Beine mit mehreren Frakturen beidseits. Als Unfallfolge anerkannt ist eine Oberschenkelamputation links in Schaftmitte mit Einschränkung der Bewegung und Belastung sowie ein abgeheilter Unterschenkelbruch rechts sowie ungünstige Narbenbildung nach schwerer Weichteilverletzung des rechten Fußes.
Von der damals zuständigen Staatlichen Versicherung der DDR bezog der LE ab dem 1.8.1979 eine Unfallrente. Diese wird nach einer MdE von 80 vom 100 gewährt. Die nunmehr als Berufsgenossenschaft zuständige Klägerin hat die Versorgung des LE mit orthopädischen Schuhen und der Prothese übernommen.
In 1992/1993 fand für den LE im Berufsförderungswerk C. eine Berufsfindungsmaßnahme statt. Es wurde damals festgestellt, dass der LE aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage sei, eine erneute Ausbildung zu absolvieren. Es war damals beabsichtigt, den LE auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz zu vermitteln. Hierzu ist es nicht gekommen. Ein im Oktober 1992 für das Arbeitsamt Neubrandenburg erstelltes ärztliches Gutachten kam zum Ergebnis, dass der LE bei Beachtung der gesundheitlichen Einschränkungen leichte körperliche Arbeiten in Vollzeit verrichten könne, jedoch eine Tätigkeit im erlernten Beruf als Schlachter bzw. Melker nicht möglich sei. Das psychologische Gutachten vom 24.6.1992 kam zu dem Ergebnis, dass der LE über intellektuelle Leistungsvoraussetzungen verfüge, die eine Umschulung auf relativ einfachem Niveau zulassen würden.
In der ehemaligen DDR hatte der LE mehrjährig eine Invalidenrente bezogen. Nach Anspruchsüberführung bezieht er seit 1.1.1995 fortlaufend bis gegenwärtig eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (jetzt DRV Bund). Diese wird gegenwärtig gezahlt unter Berücksichtigung der von der Klägerin gezahlten Unfallrente. Die Klägerin selbst hatte aufgrund des Vorliegens der vollen Erwerbsminderung ihre eigenen Berufshilfeaktivitäten eingestellt.
Auf Kosten der DRV Bund ist der LE ab 15.4.2013 zunächst im Eingangsverfahren und sodann im Berufsbildungsbereich der Hoffnungstaler Werkstätten in D-Stadt betreut worden. Ab 8.9.2014 bis 21.10.2015 erfolgte die Fortsetzung im Berufsbildungsbereich der H.-Werkstätten in A-Stadt. Der LE wurde sodann ab 22.10.2015 in den Arbeitsbereich der H.-Werkstätten (anerkannte Werkstatt für behinderte Menschen) in A-Stadt aufgenommen.
Am 13.10.2015 beantragte der LE bei dem Beklagten die Übernahme der Betreuungskosten (nebst Fahrtkosten) für den Arbeitsbereich der H.-Werkstätten. Diesen Antrag leitete der Beklagte mit Schreiben vom 21.10.2015 nach Maßgabe von § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) an die Klägerin weiter. Dazu führte dieser aus, es sei nun erkennbar geworden, dass der LE infolge eines Arbeitsunfalles behindert sei. Der Arbeitsunfall sei durch die Klägerin anerkannt worden und von ihr werde laufend eine Verletztenrente gezahlt.
Mit am 31.5.2016 gegenüber dem LE ergangenen Bescheid hat die Klägerin im Rahmen des § 14 SGB IX vorläufig eine Kostenübernahme für die Unterbringung des LE in einer WfbM erklärt.
Mit Schreiben vom 2.6.2016 machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch geltend. Dieser wurde vom Beklagten mit Schreiben vom 25.1.2018 abgelehnt. Dabei wurde die Zuständigkeit für die Kostenübernahme für die Unterbringung in der Werkstatt für behinderte Menschen grundsätzlich verneint unter Hinweis auf die Unfallfolgen als Hauptursachen.
Mit am 3.4.2019 beim Sozialgericht Kassel eingegangenem Schreiben erhebt die Klägerin unter dem Az. S 4 U 42/19 Klage beim Sozialgericht Kassel. Nach Feststellung durch das Gericht, dass sich die Kammerzuständigkeit in Erstattungsstreitverfahren zwischen Leistungsträgern entsprechend des bei Klageeingang gültigen Geschäftsverteilungsplans des Sozialgerichts Kassel nach dem Beklagten zu richten habe, wurde am 14.1.2020 das Verfahren ausgehend vom Beklagten als Sozialhilfeträger an die mit Angelegenheiten der Sozialhilfe befasste 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel abgegeben.
Zur Klagebegründung führt die Klägerin aus, sie habe vom 1.11.2015 bis 28.2.2019 für die Betreuung des LE im Arbeitsbereich der H.-Werkstätten in A-Stadt (WfbM) insgesamt 59.477,08 € übernommen. Die Klägerin sei der Ansicht, dass aufgrund der Unfallfolgen eine Unterbringung des Versicherten in einer WfbM nicht erforderlich sei. Auch die unbefristete volle Erwerbsminderung bestehe aus Sicht der Klägerin nicht aufgrund der Unfallfolgen. Neben diesen würden ein insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ 2, eine Polyneuropathie, eine chronische Refluxösophagitis und eine koronare Herzerkrankung mit Zustand nach PTCA und Stent sowie eine obstruktive Schlafapnoe und eine Fettleber bestehen. Der LE habe zwar aufgrund der Folgen seines Arbeitsunfalls Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gehabt, denn aufgrund der Unfallfolgen habe der LE die zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Der LE habe aber noch leichte körperliche Arbeiten als Wächter, Pförtner und Telefonist ausüben können. Der Umfang der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben habe sich auf die Vermittlungen in einen leidensgerechten Arbeitsplatz beschränkt. Nach Ansicht der Klägerin sei für die Unterbringung in einer Werkstatt für behinderte Menschen der Beklagte der zuständige Leistungsträger. Da auch in Zukunft weitere Kosten für die Unterbringung des LE in der Werkstatt anfallen würden, werde auch für die Zukunft die grundsätzliche Feststellung der Kostenträgerschaft beantragt.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die für die Unterbringung des LE A. A. im Arbeitsbereich der WfbM der H.-Werkstätten in A-Stadt vom 1.11.2015 bis 28.2.2019 erbrachten Aufwendungen i.H.v. 59.477,08 € zu erstatten
und festzustellen, dass der Beklagte auch die zukünftig anfallenden Kosten für die Unterbringung in der WfbM ab 1.3.2019 zu übernehmen hat.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dazu führt der Beklagte aus, die Klägerin begehre eine Erstattung nach § 104 SGB X. Dieser regele Erstattungsansprüche des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers. Die Klägerin sei jedoch nicht nachrangig verpflichtet, sondern für die Leistungserbringung zuständig. Dagegen sei die Zuständigkeit des Beklagten nicht gegeben. Der LE habe beim Beklagten die Kosten für die Behindertenwerkstatt und die Übernahme der Transportkosten zur Werkstatt beantragt. Der Beklagte sei jedoch hierfür nicht zuständig und habe den Antrag gemäß § 14 SGB IX an die Klägerin weitergeleitet. Diese habe zunächst ihre Zuständigkeit nicht anerkennen wollen. Im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens seien dem LE dann mit Bescheid der Klägerin vom 31.5.2016 die begehrten Leistungen bewilligt worden. Der Beklagte habe das Erstattungsbegehren der Klägerin geprüft. Schließlich habe er am 25.1.2018 eine Erstattung der Leistungen abgelehnt. Mit der Klage würden neue rechtserhebliche Gesichtspunkte nicht vorgetragen. Der Beklagte sei für die Leistungserbringung nicht zuständig und die Klägerin habe keinen Erstattungsanspruch. Anhand der vorliegenden Unterlagen sei die Hauptursache für die bestehende Behinderung des LE der Arbeitsunfall im Jahr 1978. Diesen Arbeitsunfall habe die Klägerin als zuständige Berufsgenossenschaft und Träger der Unfallversicherung bereits anerkannt und somit sei für die Folgen aus diesem Unfall für die Reha-Leistungen nach § 5 Nr. 1-4 SGB IX die Klägerin zuständig. Eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers, die Kosten für Eingliederungshilfemaßnahmen zu übernehmen, bestehe nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beteiligten und der DRV Bund Bezug genommen, soweit deren Inhalt Gegenstand dieser Entscheidung ist.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte am 26.11.2020 den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, denn die Beteiligten haben sich nach Maßgabe von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die beim zuständigen Sozialgericht Kassel erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Denn die Klägerin ist nicht nur im Rahmen von § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX vorläufig für die Teilhabeleistungen an den LE zuständig, sondern im Rahmen der Bestimmungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) endgültig. Erstattungsansprüche der Klägerin nach § 16 Abs. 1 SGB IX bzw. nach § 104 Abs. 1 SGB X bestehen nicht.
Hat ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 S. 4 Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger insgesamt zuständig ist, erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 16 Abs. 1 SGB IX).
Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangige Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (§ 104 Abs. 1 Satz 1-3 SGB X). Dabei richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 104 Abs. 3 SGB X). Eine nach Maßgabe dieser Bestimmungen bestehender Erstattungsanspruch der Klägerin gegenüber dem Beklagten besteht nicht, weil dessen vorrangige Leistungsverpflichtung zur Tragung der Aufwendungen für den LE in der WfbM nach Maßgabe der hier noch anzuwendenden §§ 53 ff. des Sechsten Kapitels SGB XII (in der Fassung bis 31.12.2019) von der erkennenden Kammer nicht festgestellt werden kann. Vielmehr ist in Ansehung des vom LE auf dem Gebiet der ehemaligen DDR am 1.9.1978 erlittenen Arbeitsunfalls und dessen Folgen für die im Streitzeitraum ab 1.11.2015 entstandenen und noch entstehenden Aufwendungen für den LE in der WfbM die Klägerin zuständiger und verpflichteter Leistungsträger nach Maßgabe der Bestimmungen des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII).
Hierbei stützt sich die erkennende Kammer auf die in den Verwaltungsakten der Klägerin befindlichen medizinischen Unterlagen, Gutachten und Entwicklungsberichte aus der WfbM, insbesondere auch auf die abeitsamtsärztlichen Gutachten aus 1992.
Unstreitig ist der LE vor dem am 1.9.1978 in einer LPG in der damaligen DDR erlittenen Arbeitsunfall in einem Beschäftigungsverhältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Vollzeit tätig gewesen. Diese Tätigkeit war in erster Linie eine solche, die schweren körperlichen Einsatz erforderte, und die der LE offensichtlich auch mit der ihm zur Verfügung stehenden geistigen Leistungsfähigkeit zu bewältigen im Stande war. Gegenteiliges lässt sich für das Gericht nicht feststellen. Die im Tatbestand beschriebenen Unfallfolgen beziehen sich ausschließlich auf körperliche Beeinträchtigungen, die von Anfang an und fortlaufend mit einer im MdE von 80 vom 100 bewertet werden. Eine unmittelbar unfallbedingte Beeinträchtigung auf geistig/seelischem Gebiet ließ sich in all den Jahren nach dem Unfall nicht eruieren und lässt sich auch nicht den in den beigezogenen Akten der Beteiligten befindlichen medizinischen Unterlagen, so auch nicht dem für das Arbeitsamt am 24.6.1992 erstatteten psychologischen Gutachten entnehmen. Es ergibt sich für das Gericht indessen, dass der LE nach wie vor in der Lage wäre, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit geringen geistigen Anforderungen und geringerer Verantwortung auszuführen. Nach seinem beruflichen Werdegang vor dem Unfall zu urteilen, handelt es sich bei dem LE indes um einen Menschen, der eine Erwerbstätigkeit weniger durch Einsatz seiner geistigen Fähigkeiten, sondern vor allem für körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben in der Lage war. Somit ist gerade in Folge des Arbeitsunfalls mit den ganz erheblichen körperlichen Einschränkungen ein wesentlicher für den allgemeinen Arbeitsmarkt und die individuellen Einsatzmöglichkeiten des LE bedeutsamer Teil der Erwerbsmöglichkeit entfallen, die es durch Leistungen des Unfallversicherungsträgers auszugleichen galt und gilt.
Hieraus folgt aber zugleich, dass für den ab 1.11.2015 beginnenden Streitzeitraum die Voraussetzungen für eine Leistungsverpflichtung des Beklagten im Rahmen der Eingliederungshilfe nach den bis 31.12.2019 geltenden Bestimmungen der §§ 53 f. SGB XII nicht zu bejahen sind. Denn hierfür erforderliche, die Teilhabeleistungen des Sozialhilfeträgers auslösende wesentliche Beeinträchtigungen des LE außerhalb der Unfallfolgen sind für die erkennende Kammer nicht feststellbar. Die beim LE unstreitig vorhandene Erwerbsminderung ist in erster Linie auf den schon 1978 erlittenen Arbeitsunfall zurückzuführen, so dass für die vom LE zu beanspruchenden Teilhabeleistungen, auch in einer WfbM, die Leistungszuständigkeit der Klägerin besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) und entspricht der mit Klage geltend gemachten Erstattungsforderung.