L 10 KR 42/18

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 19 KR 830/16
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 KR 42/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 
Leitsätze

1.
Die im Rahmen einer In-Vitro-Fertilisation durchgeführte Polkörperdiagnostik (PKD) stellt weder eine Maßnahme der künstlichen Befruchtung im Sinne des § 27a SGB V dar, noch eine Früherkennungsmaßnahme im Sinne des § 25 Abs. 1 SGB V.

2.
Im Grundsatz hat eine Versicherte mit Schwangerschaftswunsch, die Trägerin eines möglicherweise zu einer Erkrankung des Nachkommens führenden Gendefekts ist, gegen die GKV keinen Anspruch auf Versorgung mit PKD als Maßnahme der Krankenbehandlung im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V.

3.
Ein solcher Anspruch kommt aber ausnahmsweise bei einer medizinischen Indikation zur Empfängnisverhütung in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 1975, 3 RK 68/73, BSGE 39, 167 ff.). Eine medizinische Indikation in diesem Sinne erfordert zum einen, dass der Gendefekt zu einer schweren Erkrankung eines Nachkommen führen kann; das Lesch-Nyhan-Syndrom stellt eine solche schwere Erkrankung dar. Zum zweiten ist zur Bejahung einer solchen medizinischen Indikation erforderlich, dass bereits durch den Eintritt der Schwangerschaft eine schwerwiegende Schädigung des geistig-seelischen Gesundheitszustandes der Versicherten wahrscheinlich wird.

Normen: § 13 Abs 3 SGB V, § 24a SGB V, § 25 Abs 1 SGB V, § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V, § 27a SGB V
Suchworte: Ausnahmsweiser Anspruch auf PKD als Krankenbehandlung in Form einer empfängnisverhütenden Maßnahme bei med. Indikation, Im Rahmen von In-Vitro-Fertilisation durchgeführte PKD im Grundsatz keine Krankenbehandlung i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB V, Polkörperdiagnostik bei schwerer Erbkrankheit (hier: Lesch-Nyhan-Syndrom)

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 26. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten, die der Klägerin infolge der Durchführung einer Polkörperdiagnostik (PKD) im Rahmen einer Maßnahme der künstlichen Befruchtung entstanden sind.

 

Die 1990 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin beantragte mit Schreiben vom 9. Juni 2016 die Kostenübernahme für eine künstliche Befruchtung. Den Antrag begründete sie unter Hinweis auf das X-chromoso-mal rezessiv vererbbare Lesch-Nyhan-Syndrom, für das sie Anlageträgerin ist. Bei dem Lesch-Nyhan-Syndrom handelt es sich um eine nahezu ausschließlich männliche Nachkommen betreffende Erkrankung des Purinstoffwechsels mit einhergehender Überproduktion von Harnsäure, die bei den Betroffenen zu schweren neurologischen Störungen und massiven Verhaltensstörungen in Form von autoaggressiven Verstümmelungen (häufig Lippen- und Fingerbisse) führt. Die Klägerin gab in ihrem Antrag an, dass dieses Krankheitsbild jüngst bei ihrem ungeborenen Kind nachgewiesen worden sei, weshalb im Januar 2016 in der 17. Schwangerschaftswoche ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen worden war. Wegen der Belastung, die ein Schwangerschaftsabbruch darstelle, bestehe der Wunsch, eine erneute Schwangerschaft mittels künstlicher Befruchtung durchzuführen.

 

Die Klägerin legte im Antragsverfahren einen Bericht des Ambulanzzentrums des U___________ klinikums Schleswig-Holstein (U____), Fachbereich Humangenetik, vom 27. Mai 2016 über Informationsgespräche mit der Klägerin und ihrem Ehemann zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und zur PKD vor und fügte einen Kostenvoranschlag für die Durchführung einer PID bei X-chromosomal vererbbaren Lesch-Nyhan-Syndrom vom 23. Mai 2016 über mit der Durchführung der PKD in Zusammenhang stehende Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 6.075,63 EUR bei. Mittels PKD können insbesondere die mit einem X-chromoso-malen Gendefekt behafteten, bereits befruchteten, aber sich noch im vorembryonalen Stadium (Vorkernstadium) befindenden Eizellen erkannt und von weiteren Maßnahmen der künstlichen Befruchtung ausgeschlossen werden.

 

Mit Bescheid vom 24. Juni 2016 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme „für eine PKD bzw. PID“ ab, da der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) diese Untersuchungsmethoden von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen habe.

 

Den dagegen am 7. Juli 2016 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin unter Schilderung des Erkrankungsbildes beim Lesch-Nyhan-Syndrom sowie damit, dass ihr Bruder von dem schwersten Grad der seltenen Selbstverstümmelungskrankheit betroffen und ihm daher die Pflegestufe III zuerkannt worden sei. Eine erneute Schwangerschaft mit Test auf das Vorliegen des Lesch-Nyhan-Syn-droms in der 12. oder 13. Schwangerschaftswoche und etwaigem nachfolgenden Schwangerschaftsabbruch sei aufgrund des dann bereits erreichten Entwicklungsstadiums des Embryos emotional zu belastend. Die PKD schließe schon den Beginn einer Schwangerschaft mit einem männlichen Kind, das den zur Erkrankung führenden Gendefekt aufweise, aus; ebenso den Schwangerschaftsbeginn mit einem weiblichen Kind, das den Gendefekt trage. Möglicherweise habe sich der GBA noch nicht mit der PKD befasst, weil es sich bei dem Lesch-Nyhan-Syndrom um eine äußerst seltene Krankheit handele. Insoweit bestehe eine Versorgungslücke, weil eine „Schwangerschaft auf Probe“ mit Pränataldiagnostik und etwaiger Spätabtreibung keine adäquate Vorgehensweise darstelle.

 

Die PKD stelle eine Früherkennungsuntersuchung im Sinne der §§ 25, 26 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) dar, zudem auch eine Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V. Denn sie sei notwendig, um eine Übertragung des regelwidrigen Körperzustandes von der Klägerin auf ihr Kind zu verhindern. Die PKD werde nach Entnahme der Eizelle durchgeführt und sei mit den unter § 27a SGB V fallenden Maßnahmen der künstlichen Befruchtung vergleichbar. Schließlich liege ein Systemversagen vor, weil das Lesch-Nyhan-Syndrom sowohl eine Krankheit mit Seltenheitswert als auch eine schwere bzw tödlich verlaufende Krankheit darstelle; die durchschnittliche Lebenserwartung der Erkrankten liege bei 30 Jahren. Da die PKD mittlerweile eine anerkannte Behandlungsmethode darstelle – anders als noch im Zeitpunkt der Abfassung der Richtlinien über die künstliche Befruchtung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen vom 14. August 1990 –, müsse ein Systemversagen angenommen werden.

 

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. November 2016 zurück. Die PKD sei als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht anerkannt. Auch handele es sich bei der PKD nicht um eine Krankenbehandlung zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit, da mit ihr keine Funktionsbeeinträchtigung erkannt, geheilt, gelindert oder deren Verschlimmerung verhütet werde. Die PKD diene zudem nicht der Behandlung eines vorhandenen Leidens, sondern der Vermeidung zukünftigen Leidens eines selbständigen Lebewesens. Die PKD sei des weiteren auch nicht als Gegenstand der künstlichen Befruchtung im Sinne von § 27a SGB V von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfasst, weil es bei der PKD an dem Vorliegen des Versicherungsfalles der Unfruchtbarkeit eines Ehepaars mangele. Schließlich scheide auch ein Anspruch der Klägerin auf Grundlage des § 2 Abs 1a SGB V aus, weil die PKD nicht der Heilung einer Erkrankung diene.

 

Mit der am 18. November 2016 bei dem Sozialgericht Lübeck eigegangenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der durch eine PKD entstehenden Kosten begehrt. Zur Begründung hat sie eine medizinische Notwendigkeit im Einzelfall geltend gemacht und dabei ihre Argumentation im Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Vor dem Sozialgericht hat die Klägerin im Laufe des Klagverfahrens sodann einen bezifferten Kostenerstattungsanspruch für eine im Zeitraum zwischen November 2016 und April 2017 vorgenommene In-Vitro-Fertilisation mit PKD geltend gemacht und entsprechende Rechnungen des Ambulanzzentrums des U_____ vorgelegt.

 

Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht beantragt,

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. November 2016 zu verurteilen, ihr die Kosten für die durchgeführte PKD in Höhe von 6.075,63 EUR zu erstatten und ihr auf diesen Betrag Zinsen in Höhe von 4 Prozent seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

                     die Klage abzuweisen.

 

Sie hat an ihrer Auffassung festgehalten und darauf verwiesen, dass das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Entscheidung vom 12. September 2015 zum Aktenzeichen B 1 KR 15/14 R entschieden habe, dass die PKD nicht zum Leistungskatalog der GKV gehöre.

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 26. Januar 2018 abgewiesen. Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V bestehe nicht. Mittels PKD werde keine Funktionsbeeinträchtigung erkannt, geheilt oder gelindert und auch nicht die Verschlimmerung einer solchen Beeinträchtigung verhütet. Die PKD bezwecke vielmehr, befruchtete Eizellen im Vorkernstadium zu untersuchen und ggf absterben zu lassen, wenn nach ärztlicher Erkenntnis der daraus entstehende Embryo Träger des Gendefekts werde. Ein vorhandenes Leiden werde nicht behandelt. Deshalb scheide ein Anspruch nach § 27 SGB V ebenso aus, wie ein Anspruch nach § 2 Abs 1a SGB V. Auch bestehe kein Anspruch nach §§ 25, 26 SGB V, weil nicht die Klägerin selbst untersucht werde. Die PKD sei zudem nicht von § 27a SGB V erfasst, da sie gerade nicht dazu diene, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Ein Anspruch aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts scheide schließlich ebenfalls aus, weil die PKD die gezielte Verhinderung von Entstehung eines Lebens intendiere und daher nicht vom Schutzbereich des Art 6 Abs 1 Grundgesetz (GG) umfasst sei.

 

Gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 6. April 2018 zugestellte Urteil richtet sich die am 11. April 2018 eingelegte Berufung der Klägerin.

 

Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen weiter. Ergänzend verweist sie auf den sog Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG; Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98) und beruft sich auf eine verfassungskonforme Auslegung der leistungskonkretisierenden Normen des SGB V vor dem Hintergrund der Art 2 Abs 1 und 2, 20 Abs 1 und 28 Abs 1 GG. Der bei ihr gegebene genetische Defekt stelle eine negative Abweichung ihres tatsächlichen gesundheitlichen Zustandes von dem Zustand derjenigen Personen dar, die den zum Lesch-Nyhan-Syndrom führenden Gendefekt nicht aufwiesen. Daher beziehe sich die durchgeführte Untersuchungsmethode unmittelbar auf ihre, der Klägerin, Person. Zudem schildert die Klägerin nochmals detailliert den Gesundheitszustand ihres an dem vorgenannten Krankheitsbild leidenden Bruders, der dauerhaft fixiert werden müsse, um daran gehindert zu werden, sich Selbstverstümmelungen zuzufügen.

 

Auf Nachfrage teilt die Klägerin mit, dass die erste Maßnahme der künstlichen Befruchtung im April 2017 zwar nicht erfolgreich gewesen sei; ein zweiter Transfer im September 2017 habe aber dazu geführt, dass im Mai 2018 zwei gesunde Jungen von ihr zur Welt gebracht worden seien. Die Klägerin legt in diesem Zusammenhang weitere Zahlungsnachweise über bis zum September 2017 an das U_____ getätigte Zahlungen in Höhe von insgesamt 9.026,20 EUR vor.

 

Die Klägerin beantragt,

 

  1. das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 26. Januar 2018 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. November 2016 aufzuheben;
  2. die Beklagte zu verurteilen, ihr die durch die selbstbeschaffte PKD entstandenen Kosten in Höhe von 6.075,63 EUR zu erstatten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

                     die Berufung zurückzuweisen.

 

Zur Begründung dieses Antrags verweist die Beklagte erneut auf das Urteil des BSG vom 12. September 2015 zum Aktenzeichen B 1 KR 15/14 R. Mit dieser Entscheidung habe sich die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung nicht auseinandergesetzt.

 

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

 

Entscheidungsgründe

 

I.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erstattung der für die ihr gegenüber im Zeitraum zwischen November 2016 und April 2017 erbrachte PKD entstandenen Kosten gegen die Beklagte inne. Zudem hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Versorgung mit einer PKD mit den streitbefangenen Bescheiden zu Recht abgelehnt. Das Sozialgericht hat die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage deshalb mit dem angefochtenen Urteil vom 26. Januar 2018 rechtlich zutreffend abgewiesen. Die von der Klägerin im Berufungsverfahren bezifferten weiteren Kosten für Maßnahmen der PID, die von ihr im Zeitraum nach April 2017 und bis einschließlich September 2017 in Anspruch genommen worden sind, sind ausweislich des für die Klägerin in der Berufungsverhandlung gestellten Antrags nicht streitgegenständlich geworden. 

 

Als Anspruchsgrundlage für das zur Entscheidung gestellte Erstattungsbegehren der Klägerin kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V in Betracht. Die 1. Alt der Vorschrift, wonach die Krankenkasse dem Versicherten die Kosten für eine notwendige Leistung in der tatsächlichen Höhe zu erstatten hat, wenn sie – die Krankenkasse – eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte und dem Versicherten durch die deshalb erforderlich gewordene Selbstbeschaffung der Maßnahme Kosten entstanden sind, ist ersichtlich nicht einschlägig, weil die in Streit stehende PKD keine unaufschiebbare Leistung darstellt. Eine Leistung ist unaufschiebbar im Sinne des § 13 Abs 3 Satz 1 1. Alt SGB V, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich war, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs mehr bestand (vgl nur BSG, Urteil vom 8. September 2015, B 1 KR 14/14 R, zitiert nach juris, s dort Rn 15 mwN). Bei der PKD handelt es sich um eine diagnostische Maßnahme im Rahmen einer künstlichen Befruchtung, die ihrerseits zeitlich im Voraus planbar ist und deren Durchführung im Hinblick auf die Person der Klägerin – zum Zeitpunkt des Beginns der Maßnahme noch nicht einmal 27 Jahre alt – unter keinem Gesichtspunkt eilbedürftig erscheint. Eine diesbezügliche Dringlichkeit ist auch von der Klägerin zu keinem Zeitpunkt behauptet worden.

 

Nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V hat die Krankenkasse dem Versicherten die Kosten für eine notwendige Leistung in der tatsächlichen Höhe zu erstatten, wenn sie – die Krankenkasse – die Leistung zuvor zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten durch die deshalb erforderlich gewordene Selbstbeschaffung der Maßnahme Kosten entstanden sind. Die hier mit Bescheiden vom 24. Juni und 8. November 2016 erfolgte Leistungsablehnung durch die Beklagte erfolgte indes nicht zu Unrecht, sondern ist vielmehr rechtlich nicht zu beanstanden. Denn dem klägerischen Begehren auf Versorgung mit einer PKD zum Zwecke des Ausschlusses einer Schwangerschaft, bei der entweder ein am Lesch-Nyhan-Syn-drom erkranktes männliches Kind oder ein den zur Erkrankung führenden Gen-defekt aufweisendes weibliches Kind ausgetragen wird, mangelt es an einer Anspruchsgrundlage.

 

Zunächst folgt ein solcher Anspruch nicht aus § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V, wonach Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Mit dem Behandlungsziel des Erkennens einer Krankheit sind auch diagnostische Maßnahmen bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift vom Leistungsspektrum der GKV umfasst (vgl zu Maßnahmen der Früherkennung im Rahmen ärztlicher Behandlung im Sinne des § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V auch § 28 Abs 1 Satz 1 SGB V). Der Senat ist auch der Auffassung, dass es sich bei dem bei der Klägerin gegebenen Chromosomendefekt um eine Krankheit im Sinne des § 27 Abs 1 Satz 1 (definiert als regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht; st Rspr, vgl nur BSG, Urteil vom 28. September 2010, B 1 KR 5/10 R, zitiert nach juris, s dort Rn 10) handelt (so auch zu einem anderen Gendefekt VG Stuttgart; Urteil vom 6. Mai 2020, 15 K 5498/19, zitiert nach juris, s dort Rn 30). Jedoch dient die von der Klägerin in Anspruch genommene PKD nicht der Behandlung ihres Gendefekts, da mit der diagnostischen Maßnahme weder eine Funktionsbeeinträchtigung erkannt, geheilt oder gelindert werden soll, noch einer Verschlimmerung des Gen-defekts entgegengewirkt wird; die PKD stellt mithin keine Krankenbehandlung der Klägerin im Sinne des Gesetzes dar. Die PKD bezweckt – im Rahmen der In-Vitro-Fertilisation – vielmehr, befruchtete Eizellen im Vorkernstadium zu untersuchen und sie ggf absterben zu lassen, wenn nach ärztlicher Erkenntnis der daraus entstehende Embryo Träger des Gendefekts wird (BSG, Urteil vom 12. September 2015, B 1 KR 15/14 R, zitiert nach juris, s dort Rn 10). Dieser Rechtsprechung folgt – soweit ersichtlich – auch die instanzgerichtliche Judikatur der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vgl OLG München, Beschluss vom 25. März 2019, 25 U 1151/18, zitiert nach juris; OLG Köln, Urteil vom 17. Juni 2016, 20 U 163/14, VersR 2017, 417 f; OLG München, Beschluss vom 12. September 2018, 25 U 2424/18, zitiert nach juris; s auch BGH, Urteil vom 20. Mai 2020, IV ZR 125/19, NJW 2020, 2335 f).  

 

Selbst wenn man die von der Klägerin in Anspruch genommenen Behandlung zur künstlichen Befruchtung unter Einschluss der PKD zum Ausschluss einer Schwangerschaft mit einem erbkranken Embryo – was ggf die Verwerfung von Eizellen beinhaltet, aus denen ein solcher Embryo entstehen würde – als Maßnahme einer spezifischen Empfängnisverhütung qualifizieren wollte, so folgte daraus nicht der von der Klägerin beantragte (Primär-) Leistungsanspruch. In Betracht käme insoweit von vornherein wiederum allein ein Anspruch nach § 27 Abs 1 SGB V (Empfängnisverhütung als Krankenbehandlung). Denn ein Anspruch auf empfängnisverhütende Leistungen nach § 24a Abs 2 SGB V besteht nach dessen hier relevanter, bis zum 28. März 2019 geltender Fassung von vornherein nur für Versicherte bis zur Vollendung ihres 20. Lebensjahres. Diesem Personenkreis gehörte die Klägerin im Zeitpunkt der Antragstellung im Juni 2016 bereits nicht mehr an. Zudem ist der Anwendungsbereich des § 24a Abs 2 SGB V ohnehin auf empfängnisverhütende Leistungen beschränkt, für die keine besondere medizinische Indikation besteht; besteht hingegen eine medizinische Indikation
– wie sie hier von der Klägerin geltend gemacht wird –, richtet sich der Anspruch auf empfängnisverhütende Maßnahmen stattdessen nach § 27 SGB V als Fall einer erforderlichen Krankenbehandlung (Schütze, in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 24a Rn 13 u 28). Die Vorschrift ist vorliegend mithin schon gar nicht einschlägig.

 

Jedoch stand der Klägerin vorliegend – vor Selbstbeschaffung der ärztlichen Leistung – kein Anspruch auf Versorgung mit einer PKD als empfängnisverhütender Maßnahme als Krankenbehandlung nach § 27 SGB V zu. Zwar zählen Maßnahmen zur Verhütung einer Schwangerschaft ausnahmsweise dann zu den Leistungen der Krankenbehandlung, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um von der ansonsten schwanger werdenden Versicherten die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung ihres körperlichen oder geistig-seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden (medizinische Indikation; BSG, Urteil vom 3. Februar 1975, 3 RK 68/73, BSGE 39, 167 ff). Hier fehlt es indes an Anknüpfungstatsachen dafür, dass der Senat eine solche medizinische Indikation bei der Klägerin annehmen oder auch nur weitere Ermittlungen in diese Richtung hätte anstellen können. Die Klägerin hat freilich wiederholt vorgebracht, dass der infolge einer erneuten Schwangerschaft mit einem erbkranken Embryo erforderlich werdende neuerliche Schwangerschaftsabbruch für sie eine unzumutbare psychische Belastung darstelle. Dies ist aber nicht ausreichend, um eine medizinische Indikation für eine empfängnisverhütende Maßnahme annehmen zu können. Denn zum einen muss das Erfordernis für eine – verhindernde – ärztliche Maßnahme bereits im Hinblick auf die Einleitung bzw den Beginn der Schwangerschaft (wie der Wortlaut schon sagt, eben im Hinblick auf die Empfängnis) bestehen und nicht (lediglich) im Hinblick auf einen nur möglicherweise vorzunehmenden Abbruch einer begonnenen Schwangerschaft. Das bedeutet, dass sich bei der Klägerin schon durch den Beginn der Schwangerschaft eine psychische Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hätte einstellen müssen, ohne dass bzw noch bevor festgestanden hätte, dass die Schwangerschaft (erneut) hätte abgebrochen werden müssen, um – bei einem männlichen Embryo – die vollständige Heranbildung eines in seiner Gesundheit schwerst geschädigten Menschen mit geringer Lebenserwartung zu verhindern. Gerade dies hat die Klägerin aber nicht vorgebracht. Nach ihren Einlassungen hätte vielmehr allein der – nur möglicherweise – vorzunehmende Schwangerschaftsabbruch unzumutbare psychische Belastungen hervorgerufen. Zum anderen genügt der vage Vortrag der Klägerin zu den befürchteten psychischen Belastungen infolge eines eventuell vorzunehmenden erneuten Schwangerschaftsabbruchs letztlich nicht, um auf Seiten des Senats eine Überzeugung hinsichtlich des Vorliegens einer medizinischen Indikation für eine ausnahmsweise als Krankenbehandlung vorzunehmende empfängnisverhütende Maßnahme entstehen zu lassen. Das BSG hat in seiner vorstehend zitierten Entscheidung vom 3. Februar 1975 bereits deutlich gemacht, dass bloße psychische Belastungen zur Bejahung einer medizinischen Indikation zur Empfängnisverhütung nicht ausreichen, sondern dass vielmehr eine behandlungsbedürftige geistig-seelische Erkrankung infolge des Eintritts einer Schwangerschaft zu erwarten sein müsste (BSG, Urteil vom 3. Februar 1975, 3 RK 68/73, Rn 15 des juris-Dokuments). Insoweit wäre die Klägerin gehalten gewesen, ein konkretes psychiatrisches Krankheitsbild zu benennen, das bei ihr ggf schon als Folge des ersten Schwangerschaftsabbruchs eingetreten war und dessen erneutes Auftreten sie bei einem neuerlichen Abbruch fürchtete, sowie nach Möglichkeit auch anzugeben, bei welchem Facharzt sie sich seinerzeit in Behandlung befand, damit der Senat dort ggf weitere medizinische Auskünfte hätte einholen können. Dass der schlichte Hinweise auf mit einem jeden Schwangerschaftsabbruch naturgemäß verbundene psychische Belastungen nicht ausreichen würde, musste der Klägerin gerade vor dem Hintergrund des ausführlichen Hinweises vom 14. Juni 2021, in dem explizit auf die Entscheidung des BSG vom 3. Februar 1975 hingewiesen worden war, klar sein. Dass die Klägerin nicht substantiiert zu einer schon durch den Beginn einer weiteren Schwangerschaft zu befürchtenden psychischen Erkrankung vorgetragen hat, lässt den Senat vermuten, dass sich die von der Klägerin ins Feld geführte psychische Unzumutbarkeit eines weiteren Schwangerschaftsabbruchs letztlich auf – wenn möglicherweise auch erhebliche – psychische Belastungen bezieht, die regelmäßig jede Frau treffen, deren Schwangerschaft abgebrochen wird.

 

Ein (Primär-) Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer PKD folgte auch nicht aus § 27a SGB V, der Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft einräumt. Offenkundig ist der Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht eröffnet, weil die in Streit stehende Leistung nicht auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft der Klägerin gerichtet war, sondern – im Gegenteil – gerade der Verhinderung der Schwangerschaft mit einem einen Chromosomendefekt aufweisenden Embryo dienen sollte (so auch BSG, Urteil vom 12. September 2015, B 1 KR 15/14 R, aaO, Rn 14).

 

Des weiteren besteht der von der Klägerin ursprünglich – im Antragsverfahren – geltend gemachte Anspruch auf Versorgung mit einer PKD nicht auf Grundlage der Vorschriften über Gesundheitsuntersuchungen – insbesondere folgt er nicht aus § 25 Abs 1 SGB V, der auch einen Anspruch auf Früherkennungsmaßnahmen bevölkerungsmedizinisch bedeutsamer Krankheiten gewährt. Denn mit der PKD ist nicht eine Untersuchung der Klägerin selbst bezweckt; untersucht werden vielmehr im Rahmen der In-Vitro-Fertilisation entnommene befruchtete Eizellen der Klägerin im vorembryonalen Stadium (BSG, aaO, Rn 11).

 

Schließlich verschafft auch die von der Klägerin ins Feld geführte verfassungskonforme Auslegung des Leistungsrechts der GKV dieser nicht den für den eingeklagten Erstattungsanspruch erforderlichen Primäranspruch. Zum einen folgt im Grundsatz weder aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, noch aus den Verfassungsregelungen zum Sozialstaatsprinzip ein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen (vgl BVerfG, Beschluss vom 5. März 1997, 1 BvR 1071/95, NJW 1997, 3085; Beschluss vom 15. Dezember 1997, 1 BvR 1953/97, NJW 1998, 1775 f). Zum anderen erscheint unter Beachtung der oben zitierten Rechtsprechung des BSG vom 3. Februar 1975 ein Rückgriff auf das Verfassungsrecht auch gar nicht notwendig, weil schon § 27 SGB V in Ausnahmefällen einen Anspruch auf empfängnisverhütende Maßnahmen im Falle einer medizinischen Indikation für die – potentielle – schwangere Versicherte gewährt. Ein solcher Ausnahmefall ist jedoch, wie dargelegt, hier nicht feststellbar.  

 

Nach alledem erweist sich die Ablehnungsentscheidung der Beklagten als rechtmäßig, weshalb der Anfechtungsantrag der Klägerin durch das Sozialgericht im angefochtenen Urteil zu Recht abgewiesen worden ist. Daraus folgt, dass der Klägerin auch ein Anspruch auf Erstattung der ihr durch Maßnahmen der PKD entstandenen Kosten nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V gegen die Beklagte nicht zusteht, weshalb auch die Abweisung des Zahlungsantrages der Klägerin im angefochtenen Urteil zu Recht erfolgt ist.

 

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht billigem Ermessen, weil sie dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache folgt.

 

III.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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