S 38 KA 5120/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 5120/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

1. Der Umstand, dass es sich um ein Medizinisches Versorgungszentrum (hier: Zahnärzte-MVZ) handelt, legt nicht nahe, eine spezielle Vergleichsgruppe zu bilden.

2. Die Überschreitung der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis ist ein Indikator für eine unwirtschaftliche Behandlungsweise. Eine in Relation zur Vergleichsgruppe besonders niedrige Fallzahl kann zur Folge haben, dass einzelne, besonders aufwändige Behandlungsfälle den Fallwert des betroffenen Arztes/Zahnarztes überproportional in die Höhe treiben. In diesem Fall wird die Überlegung anzustellen sein, entweder die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis individuell nach oben anzupassen, oder dies im Rahmen der Kürzung auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen. Umgekehrt, eine in Relation zur Vergleichsgruppe besonders hohe Fallzahl kann zur Folge haben, dass kostenintensive Fälle ganz oder teilweise neutralisiert werden, indem viele sog. Verdünnerfälle den durchschnittlichen Fallwert der Praxis nach oben limitieren und relativieren. Dies legt es nahe, dann von einem offensichtlichen Missverhältnis unter 50 % Überschreitung auszugehen.

3. Die ergänzende Anwendung einer mathematischen Formel stellt grundsätzlich einen tauglichen Ansatz dar, den Strukturen großer Praxen nachvollziehbar Rechnung zu tragen.

4. Die Abweichung von der durchschnittlichen Patientenstruktur mit überdurchschnittlich vielen Mitgliederversicherten erscheint eher günstig, als ungünstig und stellt daher keinen Praxisbesonderheiten dar.

5. Ein vergleichsweise niedriger Ansatz der Bema-Nr 01 (eingehende Untersuchung zur Feststellung von Zahn,-Mund,-und Kieferkrankheiten einschließlich Beratung) spricht grundsätzlich gegen das Vorhandensein zahlreicher Neupatienten.

6. Schmerzpatienten verursachen in der Regel keine hohen Fallwerte, da diese die Praxis lediglich zu Schmerz beseitigenden Maßnahmen aufsuchen (vgl SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, Az S 12 KA 61/12).

7. Ein hoher Einzel-Fallwert stellt eine Größe dar, der für sich genommen keine Aussage zu einer wirtschaftlichen oder unwirtschaftlichen Behandlungsweise zulässt. Es müsste vielmehr anhand repräsentativer Stichproben die konkrete Behandlungsweise genau reflektiert werden.

8. Wenn eine exakte Quantifizierung anerkannter Praxisbesonderheiten nicht möglich ist und es auch für eine Schätzung keinerlei Grundlage gibt, dann ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn insgesamt eine Quantifizierung unterbleibt.


I. Die Klage wird abgewiesen.


II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.


T a t b e s t a n d :

Gegenstand der zum Sozialgericht eingelegten Klage ist die Wirtschaftlichkeitsprüfung im Quartal 1/2017 aus der Sitzung des Beschwerdeausschusses vom 05.05.2021. Geprüft wurde die Gesamtabrechnung mit der Folge, dass diese um 34 % (= 59.066,64 €) gekürzt wurde. Weitere Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Gesamtabrechnung in den Quartalen 2/2017, 3/2017 und 4/2017 folgten. Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen in den Quartalen 1/17, 2/17 und 3/17 waren bereits Gegenstand von Verfahren vor dem Sozialgericht München unter den Aktenzeichen S 38 KA 5006/19, S 38 KA 5045/20 und S 38 KA 5046/19. Das Gericht erließ mit Datum vom 29.09.2020 sog. Verbescheidungsurteile, d.h., es wurden die Bescheide aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, über die Widersprüche unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Urteile wurden im Wesentlichen damit begründet, die Bescheide des beklagten Beschwerdeausschusses litten an einem Begründungsdefizit nach § 35 SGB X. Denn zum einen sei keine intellektuelle Auseinandersetzung mit eventuell bestehenden Praxisbesonderheiten erfolgt. Es hätte sich vielmehr aufdrängen müssen, dass zumindest in den Anfangsquartalen nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Abweichungen der klägerischen Praxis (insbesondere Anfängerpraxis, Neugründung MVZ, der keine Übernahme einer schon bestehenden Alt-Praxis vorausgeht, große oder fast ausschließlich nur Neupatienten, darunter viele Schmerzpatienten, keine oder kaum Bestandspatienten, ausgedehnte Öffnungszeiten, andere, vom Durchschnitt abweichende Patientenverteilung) Praxisbesonderheiten vorlägen, die die Überschreitungen der Gesamtabrechnung jedenfalls zum (Groß-)Teil rechtfertigten. Auch habe es die Beklagte unterlassen, die Praxisbesonderheiten zu quantifizieren, was ebenfalls der Begründungspflicht von Verwaltungsakten nach § 35 SGB X zuwiderlaufe. Es genüge nicht der Hinweis auf eine hohe belassene Restüberschreitung als Begründung für eine Kürzung, ohne sich mit etwaigen Praxisbesonderheiten und Einsparungen auseinanderzusetzen. Dass bei unklaren Verhältnissen zur Vermeidung unnötiger Strahlenbelastung bei einer Anfängerpraxis mehr OPG`s angefertigt würden, könne der Klägerin schwerlich als Unwirtschaftlichkeit ausgelegt werden, wie auch, dass sich unter Nutzung der personellen Kapazitäten, bei der Klägerin im ersten Rumpfquartal immerhin sechs Zahnärzte, die Therapie (kostspielige Sanierungsfälle) unmittelbar anschließe. Der mit einem Zahnarzt fachkundig besetzten Kammer sei auch bekannt, dass es in vergleichbaren Fällen auch schon in den Quartalen des Jahres 2017 gängige Praxis gewesen sei, dass vom Behandler entsprechende Unterlagen zur Überprüfung angefordert werden. Warum dies im streitgegenständlichen Verfahren nicht so gehandhabt worden sei, erschließe sich dem Gericht nicht.

Gegen das erstinstanzliche Urteil/die erstinstanzlichen Urteile wurde/n keine Berufung/en eingelegt. Der Beklagte erließ stattdessen einen neuen Bescheid/neue Bescheide, die im Ergebnis zu der/den gleichen Kürzung/en führten.
Zur Begründung wurden zunächst allgemeine statistische Angaben gemacht. So betrage die Fallwertabweichung im ersten überprüften Quartal (1/17) 135 % und die Fallzahlabweichung 49 %. Die Bildung einer engerenu Vergleichsgruppe sei nicht erforderlich. Auch könnten nicht andere MVZ als Vergleichsgruppe herangezogen werden. Denn die Struktur der in Bayern tätigen MVZ sei sehr indifferent. Eine Vergleichsgruppenbildung könne nur hinsichtlich der Größe erfolgen. Große Praxen seien stark privilegiert, da sie mehr sogenannte Verdünnerscheine besäßen als kleine Praxen. Die statistische Bevorzugung bei der Ermittlung des Gesamtfallwertes größerer Praxen spiegle sich auch in der Anzahl der abgerechneten schweren, also teuren Fälle in der Praxis der Klägerin wider. So liege der Landesdurchschnitt der Fälle mit einem Fallwert über 300 € bei 7,6 % im Quartal 1/17, bei der Klägerin bei 30,8 %. Somit weise diese rund viermal so teure Fälle über 300 € auf. Stelle man auf die Fälle mit einem Fallwert von über 600 € ab, dann ergebe sich, dass die Klägerin mehr als 8 mal solche teuren Fälle (Überschreitungswert von 721 %) als der Durchschnitt abgerechnet habe. Derartige Überschreitungswerte seien dem Beschwerdeausschuss in seiner langjährigen Tätigkeit bislang noch nicht begegnet, auch nicht bei Anfängerpraxen.

Bei der Festsetzung der Grenze des sog. offensichtlichen Missverhältnisses müsse deshalb zwischen kleineren Praxen und größeren Praxen unterschieden werden. Der Beschwerdeausschuss setze hier das offensichtliche Missverhältnis bei einem Überschreitungswert von 40 % über dem Landesdurchschnitt fest. Dieser Wert lasse sich auch mathematisch nachvollziehen. Man habe einen Mathematiker beauftragt, der eine Formel entwickelt habe, um die Privilegierung großer Praxen auszugleichen. Ausgangspunkt sei die Annahme der Grenze des offensichtlichen Missverhältnisses bei einer Praxis mit einer durchschnittlichen Fallzahl der Vergleichsgruppe bei 50 %. Die Umsetzung der Berechnungsformel (50 % mal Quadratwurzel durchschnittliche Fallzahl der Vergleichsgruppe : Fallzahl der geprüften Praxis) führe bei der Klägerin in dem streitgegenständlichen Quartal zu einer Grenze des offensichtlichen Missverhältnisses von 40,97 %.
Mit dem Vorliegen eines offensichtlichen Missverhältnisses kehre sich die Beweislast um. Die Klägerin habe dann die Beweislast dafür zu tragen, dass sie sich wirtschaftlich verhalten habe.

Auch in den Folgequartalen sei die Behandlungsweise der Klägerin unwirtschaftlich. So entspreche eine Praxis mit einer Praxisgröße im Landesdurchschnitt und einer Fallwertüberschreitung von 47 % im Quartal 1/21 bei der Fallzahl der Praxis der Klägerin mit 3.758 Fällen unter Ansatz der Berechnungsformel einer Fallwertüberschreitung von etwa 18 %.

Im Übrigen äußerte sich der Beklagte zu den von der Klägerin vorgetragenen Praxisbesonderheiten. So sei die Patientenstruktur eher günstig. Diese setze sich aus vergleichsweise mehr Mitgliederversicherten, weniger Familienversicherten und weniger Rentnerversicherten zusammen. Soweit als Praxisbesonderheit das Vorhandensein von Neupatienten geltend gemacht werde, sei darauf hinzuweisen, dass diese nicht automatisch einer solch hohen Behandlungsintensität bedürften. Außerdem komme die Bema-Nr 01 auf 100 Fälle hochgerechnet unauffällig mit einem Überschreitungswert von 34 % zum Ansatz. Es stelle sich die Frage, warum nicht ein höherer Ansatz der Bema-Nr 01 stattgefunden habe. Deshalb sei auch nicht nachvollziehbar, dass die Widerspruchsführerin umfangreiche Sanierungen und schwere Fälle mit einem Überschreitungswert bis 721 % Überschreitung des Landesdurchschnitts abrechne, aber bei den eingehenden Untersuchungen lediglich Überschreitungen im Streubereich aufweise. Ferner sei festzustellen, dass es für A-Stadt keinen Erfahrungsgrundsatz gebe, dass ein solch eklatant hoher Sanierungsbedarf bestehe. Der Beschwerdeausschuss werde bei seiner Entscheidung im Rahmen seines Rechtsfolgeermessens den Umständen Anfängerpraxis und Neupatienten entsprechend ihrer Bedeutung in diesem Fall Rechnung tragen. Ebenfalls mache die Behandlung von Schmerzpatienten, die als Praxisbesonderheit geltend gemacht würde, überwiegend endodontische Leistungen erforderlich, nicht aber einen umfangreichen Sanierungsbedarf mit Füllungen. Besondere Öffnungszeiten allein rechtfertigten ebenfalls nicht eine solche Behandlungsintensität. Die Überschreitung sei insbesondere auf die hohe Anzahl an Füllungsleistungen und endodontische Maßnahmen zurückzuführen.

Zusammenfassend sei festzustellen, dass der Exkulpationsbeweis nicht geführt worden sei. Zugunsten der Praxis spreche, dass es sich um eine Praxisneugründung handle, die Praxis andere Öffnungszeiten habe als die durchschnittliche Zahnarztpraxis, eine zügigere Sanierung und weniger Verschiebungen auf Folgequartale in einem gewissen Umfang bei verschiebbaren Leistungspositionen möglich seien und außerdem dort eine gewisse vermehrte Anzahl an Schmerzpatienten die Praxis aufsuchten. Zu Ungunsten spreche aber die signifikant hohe Anzahl von teuren Fällen, die die Unwirtschaftlichkeit belegten. Die Abrechnung sei noch weit unwirtschaftlicher, als der Gesamtfallwert tatsächlich zum Ausdruck bringe.

Somit wäre eine Kürzung auf 40 % möglich gewesen. Das Belassen einer Restüberschreitung in Höhe von weiteren 15 Prozentpunkten trage den vorgetragenen Umständen mehr als ausreichend Rechnung. Dieser Wert bedeute, dass der Beschwerdeausschuss der Praxis eine Überschreitung zum festgesetzten offensichtlichen Missverhältnis um weitere 37,5 % zubillige.

Dagegen ließ die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage zum Sozialgericht München einlegen. Der angefochtene Bescheid sei sowohl formell, als auch materiell rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten.

Die formelle Rechtswidrigkeit ergebe sich daraus, dass der Bescheid an einem besonders schwerwiegenden Fehler leide und deshalb nach § 40 Abs. 1 SGB X nichtig sei. Es liege nämlich ein Verstoß gegen § 11 Abs. 3 Prüfvereinbarung (PV) vor. Der Bescheid trage keine Unterschrift. Sowohl Gliederung, Unterschriftbild des Begründungstextes, als auch die Art und Weise der Argumentation, die Argumente selbst und insbesondere die dargestellte Berechnungsformel des Mathematikers seien neu und vom Beklagten vorher nie in einer Bescheidbegründung verwendet worden. Es sei davon auszugehen, dass eine Mitarbeiterin/ein Mietarbeiter der KZVB (z.B. Frau Winterer) die Begründung verfasst habe. Dadurch sei auch ein Verstoß gegen das Beratungsgeheimnis und eine schwerwiegende Datenschutzverletzung bedingt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin stellte folgende Anträge:
-Das persönliche Erscheinen des Beklagten in Gestalt einer vertretungsberechtigten Person wird angeordnet.
-Es wird eine Beweisaufnahme über die Echtheit bzw. Authentizität des streitgegenständlichen Bescheides durchgeführt.
- Die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Beklagten, W., wird als Zeugin geladen und zur Frage, welche natürliche Person Verfasser des streitgegenständlichen Bescheides ist, befragt.

Außerdem sei eine Verböserung erfolgt. Es sei nämlich über den Widerspruch der Krankenkasse nicht zu entscheiden, so dass der Beklagte den von der Prüfungsstelle festgesetzten Kürzungsbetrag nicht hätte erhöhen dürfen.
Auch materiell-rechtlich sei der Bescheid zumindest rechtswidrig, wenn nicht sogar gem. § 40 SGB X nichtig. So beurteile der Beklagte die Behandlungsweise der Klägerin rein nach statistischen Kriterien, was nach der Rechtsprechung unzulässig sei. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lasse sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigten. Außerdem seien die Gesamtfallwerte rückläufig. Bereits im ersten Quartal 2018 betrage die Überschreitung des Gesamtfallwertes 45 %, im Quartal 3/19 21 %, im Quartal 4/19 20 % und im Quartal 1/20 27 %. Nachdem der Bescheid erst später ergangen sei und bereits im ersten Quartal 2018 der Gesamtfallwert bei 45 % gelegen habe, treffe es nicht zu, dass die Klägerin auf die Maßnahmen der Prüfgremien reagiert habe.  

Eine statistische Bevorzugung großer Praxen möge theoretisch richtig sein, nicht aber hinsichtlich der Klägerin. Ebenfalls sei eine statistische Bevorzugung bei teuren Fällen nicht erkennbar und werde auch nicht begründet.

Gerade aus der Versichertenverteilung resultiere ein erhöhter Behandlungsaufwand. Die Mehrzahl der Mitgliederversicherten wiesen eine schlechte Mundgesundheit auf und seien anfällig für Zahnerkrankungen.

Die klägerische Praxis habe im Quartal 1/2017 (Rumpfquartal) ausschließlich Neupatienten gehabt. Es sei nicht verständlich, dass der Beklagte diesen Umstand nicht "akzeptieren" wolle. Dagegen spreche auch nicht, dass die Praxis bei der Bema-Nr. 01 nur 34 % über dem Landesdurchschnitt liege. Der geringe Ansatz der Bema-Nr. 01 sei damit zu erklären, dass sich die Patienten lediglich kurzfristig und einmalig zur Schmerzbehandlung in der Praxis eingefunden hätten, insbesondere, wenn diese angegeben hätten, den Folgetermin bei ihrem Hauszahnarzt wahrnehmen zu wollen. Hier habe man die Bema-Nr. 01 nicht in Ansatz gebracht. Auch sei der allgemeine Hinweis auf die Vielzahl von Praxisneugründungen in M-Stadt unzutreffend. Dies stelle die absolute Ausnahme dar.
Unter den Patienten befänden sich viele Schmerzpatienten, die die Praxis insbesondere in den Abendstunden und am Samstag (Samstagssprechstunde) aufsuchten. Es treffe nicht zu, dass der Fallwert bei Schmerzpatienten generell niedrig sei. Vielmehr müsse bei diesen Patienten eine komplette Diagnostik erstellt werden, der sich dann eine Leistungskette mit Vitalitätsprüfung über Wurzelkanalaufbereitung, medikamentöse Einlage bis hin zur Wurzelfüllung anschließe. Dies habe zur Folge, dass der Fallwert bei diesen Patienten weit über dem Durchschnitt, geschätzt bei ca. 150 € liege.

Nochmals sei darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten auch die umfangreichen Öffnungszeiten (wochentags von 7:00 Uhr bis 21:00 Uhr; samstags von 8:00 bis 18:00 Uhr; sonntags von 9:00 bis 12:00 Uhr) gewürdigt werden müssten.

Was den hohen Anteil von Patienten mit einem Fallwert von über 300 € betreffe, entfielen darauf 72 % am Gesamt-KCH. Zu behaupten, teure Fälle seien ein Hinweis für Unwirtschaftlichkeit, treffe nicht zu.

Insgesamt sei deshalb festzustellen, dass eine intellektuelle Prüfung nicht erfolgt sei. Weder seien Praxisbesonderheiten gewürdigt, noch seien diese quantifiziert worden. In dem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass Klägerin nicht nur eine Patientenliste mit sog. schweren Fällen übersandt habe. Vielmehr habe diese auch eine Zusammenfassung der Besonderheiten des jeweiligen Patienten und den stattgefundenen Behandlungsmaßnahmen enthalten. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei es deshalb nicht zu einer Umkehr der Beweislast gekommen. Es wäre Sache des Beklagten gewesen, entsprechende Einzelfallstellungnahmen und Behandlungsunterlagen exemplarisch anzufordern.
Darüber hinaus müssten auch kausal-kompensatorische Einsparungen berücksichtigt werden. Dazu zählten PAR-Leistungen und Leistungen im KB-Bereich, die kaum abgerechnet worden seien und daher hohe Einsparungen darstellten.

Zur Klagebegründung äußerte sich die beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung. Ihres Erachtens sei der Bescheid nicht formell zu beanstanden. Es handle sich lediglich um Spekulationen, der angefochtene Bescheid sei von dritter Seite gefertigt worden. Im Übrigen gehe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit seiner Vermutung, W1. sei Mitarbeiterin der KZVB und sei auch im Zusammenhang mit der Abfassung des Bescheides tätig gewesen, fehl. Denn W1. sei seit Frühjahr 2021 ausschließlich Mitarbeiterin der Prüfungsstelle gewesen. Auch habe der Beklagte nicht gegen § 24 SGB X dadurch verstoßen, dass vorab die Berechnung auf der Grundlage der von dem Mathematiker erstellten Berechnungsformel nicht in das Verfahren eingeführt worden sei. Zudem habe auch keine Verböserung stattgefunden. Denn durch Aufhebung des Bescheides durch das Sozialgericht München lebe der Widerspruch der Krankenkassen wieder auf. Was die Begründungspflicht betreffe, so sei auch kein Verstoß gegen § 35 SGB X festzustellen. Insgesamt dürften die Anforderungen nicht überspannt werden, da sich die Maßnahmen regelmäßig an einen sachkundigen Personenkreis richteten. Der Beklagte habe sich ausreichend mit den geltend gemachten Praxisbesonderheiten auseinandergesetzt.

Die Ausführungen der Klägerseite zur Bema-Nr. 01 seien nicht nachvollziehbar. Es handle sich lediglich um Behauptungen. In dem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass im Quartal 1/17 6 mal so häufig Panoramaaufnahmen angesetzt worden seien.
Auch das Vorhandensein von zahlreichen Schmerzpatienten könne die hohe Fallwertabweichung nicht erklären. Denn Schmerzpatienten erforderten regelmäßig keine umfangreiche Sanierung. Dies gelte auch für Neupatienten nach Praxisneugründung. Die Klägerin könne nämlich nicht erklären, warum sie so viele teure Fälle habe. Im Übrigen sei der Hinweis auf schwere Fälle und kostenintensive Fälle nicht zielführend, weil sich diese in jeder Praxis finden würden. Es bestehe hier eine Darlegungs-und Feststellungslast der Klägerin, die den Mehraufwand quantifizieren müsse.

Schließlich machte die beigeladene KZVB darauf aufmerksam, aus den ihr vorliegenden Arbeitsverträgen ergäben sich Leistungsanreize für die angestellten Zahnärztinnen/Zahnärzte. So sei ab einem bestimmten Umsatz eine Umsatzbeteiligung vorgesehen (§ 3 des Arbeitsvertrages). Daraus sei herzuleiten, dass es um eine maximale Umsatzgerierung gehe. Dies erkläre die hohen Überschreitungshöhen. Der beigeladenen KZVB könne auch nicht vorgeworfen werden, sie habe Zugriff zu Unterlagen der Zulassungsgremien. Denn sie sei am Zulassungsverfahren beteiligt, sodass sie auch Kenntnis von eingereichten Unterlagen, auch vorgelegten Verträgen erhalte.

Die beigeladene KZVB regte an, Mitarbeiter aus dem Zeitraum als Zeugen zu befragen, welche Vorgaben sie bei der Abrechnung seitens der Leitung des MVZ erhalten hätten.

Außerdem bemerkte die beigeladene KZVB, die Erkenntnis zur Berechnungsweise würde zu einem Paradigmenwechsel in der Wirtschaftlichkeitsprüfung führen können, wenn die Prüfgremien zukünftig tatsächlich Statistiken hinsichtlich der Fallgröße mit dieser Vorgehensweise relativieren könnten. Dies hätte Auswirkungen auf größere Kooperationen.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wies darauf hin, Abrechnungen würden allein von der ärztlichen Leiterin, B. vorgenommen, die Alleingesellschafterin sei. Es handle sich auch nicht um ein investorgeführtes MVZ. Deshalb seien angestellte Zahnärztinnen/Zahnärzte nicht den Anreizen zur Falschabrechnung ausgesetzt. Im Übrigen seien solche Vertragsinhalte in den Anstellungsverträgen durchaus üblich. So sehe § 5 Abs. 1b Mustervertrag der Zahnärzte-Kammer Baden-Württemberg ähnliches vor. Es sei auch rechtlich äußerst problematisch, dass die beigeladene KZVB offensichtlich Zugriff auf Akten des Zulassungsausschusses habe; dies auch unter datenschutzrechtlichen Aspekten.

In der mündlichen Verhandlung am 17.05.2023 stellte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Antrag aus dem Schriftsatz 31.08.2021.

Die Vertreter der anwesenden Beigeladenen beantragen, die Klage abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Sitzungsniederschrift vom 17.05.2023 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der Widerspruchsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Sowohl der Prozessbevollmächtigte der Klägerin als auch die beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung haben Beweisanträge gestellt. So hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, eine Beweisaufnahme über die Echtheit bzw. Authentizität des streitgegenständlichen Bescheides durchzuführen, indem die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Beklagten, W. als Zeugin geladen und zur Frage, welche natürliche Person Verfasser des streitgegenständlichen Bescheides ist, befragt wird. Die beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung hat angeregt bzw. beantragt, Mitarbeiter der Klägerin aus dem Zeitraum als Zeugen zu befragen, welche Vorgaben sie bei der Abrechnung seitens der Leitung des MVZ erhalten hätten.

Nach § 103 S. 2 SGG ist das Gericht an Beweisanträge nicht gebunden. Dies ist Ausfluss des in § 103 S. 1 SGG enthaltenen Amtsermittlungsgrundsatzes. Das Ausmaß der Ermittlungen steht im Ermessen des Gerichts (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 4 zu § 103). Es müssen aber alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht entscheidungserheblich sind (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 4 zu § 103). Das Gericht ist jedoch nur zu solchen Ermittlungen verpflichtet, die nach Lage der Sache erforderlich sind. Es muss nicht jeder Behauptung nachgehen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 7 zu § 103). Aus Sicht des Gerichts sind die Beweisanträge hier nicht entscheidungserheblich.

Der angefochtene Bescheid des Beschwerdeausschusses ist formell rechtmäßig. Zuständig ist nach Widerspruchseinlegung der Beschwerdeausschuss. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin äußert die Vermutung, der angefochtene Bescheid sei von Mitarbeitern der beigeladenen KZVB gefertigt worden. Dies ergebe sich aus mehreren Indizien. Ein konkreter Nachweis konnte jedoch nicht geführt werden. Unabhängig davon ist aber festzustellen, dass der Bescheid vom Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses freigegeben und dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ordnungsgemäß zugestellt wurde. Der Unterschrift auf dem Verwaltungsakt bedarf es nicht, wie sich aus § 33 Abs. 3 S. 1 SGB X in Verbindung mit der Anlage 7 zur Prüfvereinbarung ergibt. Damit ist der Bescheid gemäß § 39 SGB X mit seinem Inhalt wirksam geworden. Soweit gerügt wurde, es sei der Klägerseite keine Gelegenheit zur Anhörung eingeräumt worden, was die Bezugnahme auf eine vom Beklagten verwendete und von einem Mathematiker erstellte Berechnungsformel betrifft, liegt ein Verstoß gegen § 24 SGB X nicht vor. Denn es handelt sich lediglich um eine ergänzende Begründung zur Festlegung der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis. Zu Recht weist die Beigeladene zu 1 die Auffassung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zurück, es habe eine Verböserung stattgefunden. Denn durch das vorausgegangene Urteil des Sozialgerichts München ist der von Seiten der Kassen eingelegte Widerspruch wieder aufgelebt.

Der angefochtene Widerspruchsbescheid ist auch als materiell rechtmäßig anzusehen. Anders als der vorausgegangene Widerspruchsbescheid des beklagten Beschwerdeausschusses, der bereits Gegenstand des Verfahrens vor dem Sozialgericht war und durch Urteil aufgehoben wurde, hat sich der Beklagte nunmehr ausführlich mit dem Vorbringen der Klägerseite auseinandergesetzt und die vom Gericht geforderte intellektuelle Prüfung vorgenommen, auch wenn er zum selben Ergebnis gelangte.

Rechtsgrundlage für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind §§ 106 Abs. 2 Ziff.1 SGB V, 106a Abs. 1 SGB V in Verbindung mit der Prüfvereinbarung. Im Gesetz geregelt ist die Zufälligkeitsprüfung. Nach § 106a Abs. 4 Satz 3 können die in § 106 Abs. 1 S. 2 genannten Vertragspartner über die Zufälligkeitsprüfung hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Nach § 18 Ziff. 2 der Prüfvereinbarung ist auch eine Prüfung nach Durchschnittswerten vorgesehen. Die Prüfmethode liegt im Ermessen der Prüfungsstelle bzw. des Beschwerdeausschusses (§ 19 Prüfvereinbarung).

Es fand eine statistische Durchschnittsprüfung des Gesamtfallwertes statt. Dabei werden die Abrechnungswerte des geprüften Vertragszahnarztes im selben Quartal mit den Abrechnungswerten der bayerischen Zahnärzte (Landesdurchschnitt) verglichen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Vergleichsgruppe im Durchschnitt wirtschaftlich handelt. Lässt sich die Überschreitung nicht durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären, hat dies die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16.07.2003, Az B 6 KA 45/02 R). Voraussetzung ist allerdings, dass eine Vergleichbarkeit gegeben ist. Weicht die Struktur der Praxis des geprüften Arztes sowohl hinsichtlich der Zusammensetzung des Patientenklientels, als auch hinsichtlich des ärztlichen Diagnose-und Behandlungsangebots von der Typik beim Durchschnitt der Fachgruppe signifikant ab (vgl BSG SozR 2500 § 106 Nr. 50 S 264; Nr 57 S 319ff; BSG SozR 2500 § 106 Nr 1 Rn. 11), dann liegt eine Unvergleichbarkeit vor, die zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe veranlassen würde. Die Gruppe der Zahnärzte stellt eine sehr homogene Arztgruppe dar, sodass grundsätzlich von einer Vergleichbarkeit auszugehen ist. Auch der Umstand, dass es sich um ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) handelt, legt nicht nahe, eine spezielle Vergleichsgruppe zu bilden. Generell bieten MVZ, so auch die Klägerin, ein breites zahnärztliches Behandlungsspektrum an. Die Rechtsprechung hat bisher lediglich bei Kieferorthopäden und MKG-Chirurgen die Bildung von speziellen Vergleichsgruppen gefordert. Liegen Schwerpunkte vor, beispielsweise ausschließliche Tätigkeit im Bereich der Kinder- und Jugendzahnheilkunde, dann könnte dies im Rahmen der Anerkennung und Bewertung von Praxisbesonderheiten berücksichtigt werden.

Die statistische Durchschnittsprüfung darf von den Prüfgremien nur dann durchgeführt werden, wenn sich eine Einzelfallprüfung als nicht aussagekräftig erweist oder nicht durchführbar ist (SG Hannover, Urteil vom 19.10.2016, Az S 78 KA 191/15). Angesichts der Praxisgröße (49 % über dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe, was die Fallzahl betrifft) ist hier eine Einzelfallprüfung nicht durchführbar.

Indikator für eine unwirtschaftliche Behandlungsweise ist die Überschreitung der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis. Hierfür gibt es keine allgemein verbindliche Festlegung (BSG, Urteil vom 15.03.1995, Az 6 RKa 37/93; SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, Az S 12 KA 61/12). Die Rechtsprechung der Sozialgerichte geht bisher von einer Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis um die 50 % aus. Bei Arztgruppen mit engem Leistungsspektrum dürfe aber eine Grenzziehung bei Überschreitungen der Durchschnittswerte der Vergleichsgruppe um +40 % oder weniger angenommen werden. Hier handelt es sich jedoch um keine Arztgruppe mit einem engen Leistungsspektrum. Es stellt sich die Frage, ob eine Abweichung aus anderen Gründen nicht nur vertretbar, sondern sogar veranlasst ist; so beispielsweise bei Praxen mit deutlich vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe abweichenden Fallzahlen. Von Bedeutung ist, ob in diesen Fällen die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit/Unwirtschaftlichkeit noch annähernd aussagekräftig ist, oder, ob hier Veranlassung besteht, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis anzupassen. Eine in Relation zur Vergleichsgruppe besonders niedrige Fallzahl kann zur Folge haben, dass einzelne, besonders aufwändige Behandlungsfälle den Fallwert des betroffenen Arztes/Zahnarztes überproportional in die Höhe treiben. In diesem Fall wird die Überlegung anzustellen sein, entweder die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis individuell nach oben anzupassen, oder dies im Rahmen der Kürzung auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen. Umgekehrt, eine in Relation zur Vergleichsgruppe besonders hohe Fallzahl kann zur Folge haben, dass kostenintensive Fälle ganz oder teilweise neutralisiert werden, indem viele sog. Verdünnerfälle den durchschnittlichen Fallwert der Praxis nach oben limitieren und relativieren.

Der pauschale Ansatz einer Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis von 50 % würde hier zu Verzerrungen und Bevorzugung von Praxen mit hohen Fallzahlen führen. Denn entweder würden die Werte unauffällig unter der 50 % Marke für das offensichtliche Missverhältnis liegen, sodass es dann mangels Annahme einer Unwirtschaftlichkeit zu keiner Wirtschaftlichkeitsprüfung kommen würde, oder, dass zwar die 50 % Marke für das offensichtliche Missverhältnis überschritten wird, die Grenzziehung bei 50 % aber keine oder nur eine geringe Aussagekraft über die tatsächliche Unwirtschaftlichkeit ergeben würde. Derartiges wäre auch mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren, zumal sachliche Gründe für eine Differenzierung zwischen kleinen Praxen mit geringen Fallzahlen und großen Praxen mit hohen Fallzahlen vorliegen. Auch in diesem Fall liegt es deshalb nahe, nicht lediglich von einer pauschalen Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis von 50 % auszugehen. Im Rahmen des den Prüfungsgremien zustehenden Beurteilungsspielraums sind diese daher nicht nur befugt, sondern gehalten, in diesem Fall die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis niedriger festzulegen.

Hierbei wäre es rechtlich nicht zu beanstanden, einen einheitlichen Maßstab/eine einheitliche Berechnungsweise zu verwenden. Der Beklagte hat hier auf eine von einem Mathematiker entwickelte Formel ergänzend zurückgegriffen. Dabei wird in der Annahme einer Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis von 50 % dieser Wert mit der Quadratwurzel aus der durchschnittlichen Fallzahl der Vergleichsgruppe/die Fallzahl der Praxis multipliziert und hieraus ein neues offensichtliches Missverhältnis errechnet. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei grundsätzlich um einen tauglichen Ansatz, der zu einem Mehr an Transparenz und Nachvollziehbarkeit führen würde. Nicht zuletzt würde auch eine Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1, Art. 20, 28 GG) entstehen, was nicht nur im Interesse der Vertragszahnärzte wäre, sondern auch der Verwaltung eine einfachere Handhabung bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ermöglichen würde. Bevor es aber zu einer generellen Anwendung der Formel kommt, müsste diese auf ihre Geeignetheit hin, gegebenenfalls durch ein Sachverständigengutachten untersucht werden, inwiefern damit den Strukturen großer Praxen nachvollziehbar Rechnung getragen werden kann. Ob diese Formel korrekturbedürftig ist, beispielsweise durch zusätzliche Berücksichtigung weiterer Faktoren (Anzahl der angestellten Ärzte) kann hier aber dahinstehen, denn der Beklagte hat zum Ausdruck gebracht, die Formel werde lediglich ergänzend herangezogen.
Mit einer Überschreitung des Fallwertes in Höhe von 135 % im Vergleich zur Vergleichsgruppe liegt die Klägerin weit über der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis, egal, ob man diese bei 50 % oder darunter annimmt. Insofern entsteht der Anschein der Unwirtschaftlichkeit mit der Folge der Beweislastumkehr.

Die hohen Überschreitungswerte lassen sich nach Auffassung des Gerichts nicht durch die Patientenstruktur rechtfertigen. Die Klägerin hat mehr Mitgliederversicherte, dafür weniger Familienversicherte und weniger Rentnerversicherte. Aus nicht jeder Abweichung von der Durchschnittspraxis ist auf eine Praxisbesonderheit zu schließen, die einen erhöhten Behandlungsbedarf nach sich zieht. Es kommt auch zum einen darauf an, bei welcher Versichertengruppe eine Abweichung festzustellen ist, zum anderen, welchen Umfang die Abweichung einnimmt. Bei zahlreichen anderen Wirtschaftlichkeitsprüfungen wird als Praxisbesonderheit geltend gemacht, die Patientenstruktur werde überproportional von vielen Familienversicherten und Rentnerversicherten bestimmt. Eine solche Zusammensetzung könne einen erhöhten Behandlungs-und Sanierungsaufwand nach sich ziehen, was mitunter in nicht seltenen Fällen auch durch die Wirtschaftlichkeitsprüfungsgremien anerkannt wird. Hier aber handelt es sich um überproportional viele Mitgliederversicherte. Nicht nachvollziehbar ist, dass auch aus dieser Patientenstruktur ein hoher Behandlungs-und Sanierungsaufwand resultieren soll und Mitgliederversicherte - wie vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin behauptet - eine schlechte Mundgesundheit hätten und anfällig für Zahnerkrankungen seien. Gerade das Gegenteil scheint überzeugend. Insofern lässt sich mit dem Beklagten die Auffassung vertreten, dass die konkrete Patientenstruktur eher günstig, als ungünstig erscheint. Die Abweichung der Patientenstruktur von der Durchschnittspraxis ist eventuell auf die Lage der Praxis, aber auch auf die Öffnungszeiten zurückzuführen. Atypische Öffnungszeiten allein können, müssen aber nicht zwingend Auswirkungen auf die Patientenstruktur haben.

Ebenfalls ist nicht nachvollziehbar, dass Neupatienten einen derart hohen Behandlungs-und Sanierungsbedarf nach sich ziehen sollen. Selbstverständlich ist nach Praxisneueröffnung in den Anfangsquartalen mit vielen Neupatienten zu rechnen; erst recht, wenn - wie hier - keine Altpraxis übernommen wird. Es gibt aber keinen Erfahrungssatz dergestalt, dass Neupatienten stets einen hohen Behandlungs-und Sanierungsbedarf auslösen. Dies wäre allenfalls nachvollziehbar bei einer Praxisneueröffnung in einer schon länger unterversorgten Region. Nachdem sich die Praxis aber in der Stadt M-Stadt mit einer hohen Zahnarztdichte befindet, kann von einem unterversorgten Gebiet nicht die Rede sein. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass die Bewohner einer Großstadt einen besonderen Sanierungsbedarf hätten (vgl SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, Az S 12 KA 61/12). Ferner stellt sich die Frage, warum die Klägerin auf der einen Seite die Bema-Nr 01 nur leicht über dem Durchschnitt in Ansatz bringt und sich auf der anderen Seite vieler Neupatienten berühmt. Denn der Ansatz der Bema-Nr 01 (eingehende Untersuchung zur Feststellung von Zahn,-Mund,-und Kieferkrankheiten einschließlich Beratung) stellt in einem Behandlungsfall in der Regel die erste Maßnahme dar. Diese Ungereimtheiten vermag die Klägerseite auch nicht damit plausibel zu erklären, diese Gebührenziffer werde meistens bei den Patienten nicht in Ansatz gebracht, die zum Ausdruck brächten, sie wollten danach ihren Hauszahnarztarzt aufsuchen.

Als Praxisbesonderheit hat die Klägerseite die Behandlung von Schmerzpatienten angeführt. Auch damit hat sich der Beklagte ausführlich auseinandergesetzt. Nach Auffassung des Gerichts ist eine vermehrte Behandlung von Schmerzpatienten auch im Zusammenhang mit den umfangreichen Öffnungszeiten der klägerischen Praxis, auch in den Abendstunden, auch an Wochenenden und Feiertagen zu sehen. Insofern ist eine höhere Anzahl an Schmerzpatienten durchaus nachvollziehbar. Ob diese allerdings einen erhöhten Behandlungsbedarf auslösen, erscheint dem Gericht äußerst fraglich. Denn in der Regel werden Schmerzpatienten, davon ausgehend, dass diese mehrheitlich bereits in Behandlung bei einem Hauszahnarzt stehen, die Praxis der Klägerin lediglich zu Schmerz beseitigenden Maßnahmen aufsuchen (vgl SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, Az S 12 KA 61/12). Es handelt sich somit um ein singuläres Aufsuchen der Praxis. Wie sich dann nach diagnostischen Maßnahmen eine derart umfangreiche "Leistungskette" anschließen soll, die zu solch hohen Fallwerten führt, kann deshalb schwerlich nachvollzogen werden.

Soweit die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung auf den Inhalt der Arbeitsverträge zwischen der Klägerin und den angestellten Zahnärztinnen/Zahnärzte hinweist und diese vorlegt, kann daraus nach Auffassung des Gerichts eine unwirtschaftliche Behandlungsweise nicht entnommen werden. Zwar sind die angestellten Ärzte nach dem Inhalt der Arbeitsverträge auch am Umsatz beteiligt. Es handelt sich um Leistungsanreize, die im Interesse beider Vertragspartner der Arbeitsverträge liegen, die allerdings durchaus üblich sind, wie der Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter Hinweis auf die Musterarbeitsverträge aus Baden-Württemberg ausgeführt hat.

Ohne Belang für das Ergebnis der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist, dass nach dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Gesamtfallwerte in den Folgequartalen rückläufig sind. Denn grundsätzlich ist jedes Quartal für sich zu betrachten. Der Rückgang der Überschreitungen in nachfolgenden Quartalen besitzt daher keine Aussagekraft zur wirtschaftlichen/unwirtschaftlichen Behandlungsweise in dem streitgegenständlichen Quartal. Im Übrigen könnte ein nachfolgender Rückgang von Überschreitungen auch darauf hindeuten, dass eine unwirtschaftliche Behandlungsweise in den Anfangsquartalen stattfand, oder aber, dass später durch die beachtliche Fallzahlsteigerung verbunden mit zahlreichen "Verdünnerfällen" der Fallwert zurückging .

Als Praxisbesonderheit wird auch geltend gemacht, die Klägerin habe viele schwere Fälle behandelt. Bei den schweren Fällen handelt es sich in der Regel um kostenintensive Fälle. Diese kommen regelmäßig in jeder Praxis vor. Vor dem Hintergrund erscheint in der Regel eine völlige Herausrechnung schwerer Fälle ab einem bestimmten Fallwert (zum Beispiel Fallwert ab 300 €) rechtlich nicht uneingeschränkt vertretbar. Abgesehen davon ist ein hoher Einzel-Fallwert eine Größe, die für sich genommen keine Aussage zu einer wirtschaftlichen oder unwirtschaftlichen Behandlungsweise zulässt. Es müsste vielmehr anhand repräsentativer Stichproben die konkrete Behandlungsweise genau reflektiert werden. Dass dies durch den Beklagten nicht geschehen ist, ist jedoch rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar hat die Klägerseite eine Liste von mehreren Patienten mit hohen Einzel-Fallwerten vorgelegt und auch kurz die Behandlungsmaßnahmen und die Besonderheiten genannt. Dies scheint jedoch nicht ausreichend. Denn Patienten mit einem erhöhten Behandlungsbedarf (Komplexleistungen) müssen eindeutig belegt werden (SG Marburg, Urteil vom 05.12.2018, Az S 12 KA 127/18). Dem entspricht die eingereichte Liste samt zusätzlicher Angaben nicht. Dies gilt insbesondere auch angesichts der Tatsache, dass es zahlenmäßig vergleichsweise viele Fälle mit Fallwerten über 300 €, aber auch mit Fallwerten von weit über 600 € gibt (im Quartal 1/17: Fallwert über 300.--€: 4-mal soviele Fälle wie der Durchschnitt; Fallwert über 600.--€: 8-mal soviele Fälle wie der Durchschnitt). Daraus resultiert eine besondere "Bringschuld" und Mitwirkungspflicht des Vertragszahnarztes. Die Klägerseite kann sich deshalb nicht darauf zurückziehen, es wäre Sache des Beklagten gewesen, entsprechende Einzelfallstellungnahmen und Behandlungsunterlagen exemplarisch anzufordern.

Der Beklagte hat sich umfangreich mit den von der Klägerseite angeführten Praxisbesonderheiten auseinandergesetzt. Dabei ist den Bescheid nicht ausdrücklich zu entnehmen, dass Praxisbesonderheiten letztendlich anerkannt wurden. Der Beklagte hat aber hinsichtlich des Anfängerstatus und der damit einhergehenden Anzahl von Neupatienten zum Ausdruck gebracht, er werde dem im Rahmen des Rechtsfolgeermessens entsprechend der Bedeutung Rechnung getragen. Deshalb stellt sich die Frage, ob der Beklagte seiner Quantifizierungspflicht eventueller Praxisbesonderheiten entsprochen hat. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG, Urteil vom 04.02.2009, Az L 12 KA 27/08) ist es nicht zulässig, der Ermittlung und Quantifizierung möglicher Weise vorhandener Praxisbesonderheiten durch einen "Rabatt" bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen. Von der Rechtsprechung anerkannt ist außerdem, dass besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände bereits auf der ersten Stufe der Wirtschaftlichkeitsprüfung ermittelt und quantifiziert werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.01.2014, Az L 3 KA 52/11). Nach der Ermittlung und Quantifizierung der Praxisbesonderheiten ist der durch sie verursachte Mehraufwand von den Fallkosten abzuziehen.

In Umsetzung dieser Rechtsprechung auf das streitgegenständliche Verfahren ist zunächst festzustellen, dass eine exakte Quantifizierung im Hinblick auf die Allgemeinheit der geltend gemachten Praxisbesonderheiten - sollten solche überhaupt von dem Beklagten anerkannt werden - überhaupt nicht möglich ist. Eine Quantifizierung von Praxisbesonderheiten kann aber auch im Wege der Schätzung erfolgen. Dabei haben die Prüfgremien einen weiten Beurteilungsspielraum, der von den Gerichten nur eingeschränkt überprüfbar ist (SG Marburg, Urteil vom 19.06.2019, Az 17 KA 409/17). Eine pauschale Schätzung genügt jedoch den Anforderungen nicht. Vielmehr sind die Grundlagen für die Schätzung und die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen in nachvollziehbarer Weise in der Begründung des Bescheides anzugeben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.04.1999, Az L 5 KA 3606/98). Der weite Beurteilungsspielraum lässt eine breite Palette denkbarer Entscheidungen zu; auch, dass der gesamte unwirtschaftliche Mehraufwand gekürzt wird. Im Hinblick darauf, dass es angesichts der Allgemeinheit der geltend gemachten Praxisbesonderheiten sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, nachvollziehbare Grundlagen einer Schätzung festzulegen, und angesichts der hohen Anzahl nicht nachvollziehbarer schwerer kostenintensiver Fälle ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte letztendlich von einer Quantifizierung abgesehen hat. Hinzu kommt, dass eine Quantifizierung auch ein hinreichend substantiiertes Vorbringen der Klägerseite verlangt und davon abhängt, was nicht erfolgt ist (vgl LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.06.2012, Az L 7 KA 99/09).

Soweit Einsparungen im PAR-Bereich bzw. im Bereich des Kieferbruchs geltend gemacht wurden, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass diesbezüglich keine Berücksichtigung stattfand. Vorauszusetzen für Einsparungen ist, dass es sich um kausal-kompensatorische Einsparungen handelt. Hierfür wurde nichts vorgetragen. Darüber hinaus gibt es auch für einen solchen Zusammenhang keine Anhaltspunkte.

Wird eine Unwirtschaftlichkeit festgestellt, bestimmt § 106 Abs. 3 S. 3 SGB V, dass weiteren Maßnahmen gezielte Beratungen vorausgehen sollen. Es handelt sich somit um einen grundsätzlichen Vorrang von Beratungen gegenüber Kürzungen. Nach gefestigter Rechtsprechung ist aber eine Honorarkürzung auch ohne derartige vorangegangene gezielte Beratung nicht rechtswidrig, wenn - wie hier - derart hohe Überschreitungen im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses vorliegen (vgl BSG, Urteil vom 21.05.2003, Az B 6 KA 32/02 R).

Schließlich ist der Klägerin eine hohe Restüberschreitung belassen worden, die nach wie vor die Grenze des offensichtlichen Missverhältnisses überschreitet.

Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.

 

 

Rechtskraft
Aus
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