L 1 U 561/20

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Gotha (FST)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 10 U 3934/17
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 561/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

§ 77 SGG, § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII, § 125 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII, § 135 SGB VII

Arbeitsunfall, Zuständiger Unfallversicherungsträger, doppelte Rechtshängigkeit des Streitgegenstandes, Widerstreitende Entscheidungen zweier Unfallversicherungsträger –

1. Ein Fall der doppelten Rechtshängigkeit liegt nur vor, wenn zwischen denselben Beteiligten (Kläger, Beklagte, Beigeladene) über denselben Streitgegenstand gestritten wird.  Stehen sich im jeweiligen Klageverfahren als Beteiligte nur die Klägerin und der jeweilige Unfallversicherungsträger gegenüber, handelt es sich nicht um zwei Rechtsstreite zwischen denselben Beteiligten über denselben Streitgegenstand.

2. Ist der angefochtene Bescheid nach § 77 SGG bindend geworden, steht dies einer Sachentscheidung entgegen.

3. § 135 SGB VII regelt ausschließlich, was materiell-rechtlich die „richtige“ Entscheidung ist und kann daher nicht verhindern, dass Unfallversicherungsträger/Sozialgerichte bei ihrer Prüfung ggf. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und dementsprechend einander widerstreitende Entscheidungen treffen. Zwecks Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen ist eine Verbindung der Verfahren nach § 113 SGG sachgerecht.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 29. Mai 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d

Die Beteiligten streiten darüber, ob das Ereignis vom 17. Mai 2017 ein Arbeitsunfall ist.

Die 1974 geborene Klägerin erlitt am 17. Mai 2017 einen Motorradunfall. Am 19. Mai 2017 ging bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) der Durchgangsarztbericht des S vom 17. Mai 2017 ein. Die Klägerin hatte dort angegeben, sie sei auf dem Weg zu einer Wiedereingliederungsmaßnahme des Arbeitsamtes mit dem Motorrad gestürzt und auf den linken Arm gefallen. Im Fragebogen der VBG erklärte sie, sie sei zur I GmbH in E unterwegs gewesen, um einen Termin zur Ableistung einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme im Auftrag der Bundes-agentur für Arbeit (im Folgenden: BA) abzuklären. Aktenkundig ist der Bescheid der BA Agentur für Arbeit A vom 19. April 2017 „Förderung der beruflichen Weiterbildung“. Bei der Klägerin sei die Notwendigkeit einer beruflichen Qualifizierung festgestellt worden. Mit dem Bildungsgutschein würden die Kosten für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung unter bestimmten Voraussetzungen übernommen. Der Bildungsgutschein sei zeitlich befristet und regional grundsätzlich auf den Tagespendelbereich sowie auf bestimmte Bildungsziele begrenzt. Die Teilnahme an der Weiterbildung müsse innerhalb der Gültigkeitsdauer beginnen. Damit die Leistungen zeitnah bewilligt werden könnten, sei der ausgehändigte Antrag oder Fragebogen rechtzeitig vor Weiterbildungsteilnahme einzureichen. Würden die zeitliche Befristung sowie die genannten Begrenzungen nicht eingehalten, verliere der Bildungsgutschein seine Gültigkeit. Beigefügt war der Bildungsgutschein-Nr.: … vom 19. April 2017, gültig für die Zeit vom 19. April bis 19. Mai 2017. Per E-Mail hatte die Klägerin der Mitarbeiterin der Arbeitsagentur A - Frau W - am 12. Mai 2017 mitgeteilt, sie habe mit der I GmbH einen Beratungstermin für Mittwoch, den 17. Mai 2017 um 13:00 Uhr vereinbart. Die Klägerin legte hierzu eine Bestätigung der I GmbH vor.

Mit Bescheid vom 6. Juni 2017 lehnte die VBG Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Ereignisses vom 17. Mai 2017 ab. Versicherungsschutz hätte nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII bestanden, wenn sie bei ihrem Mitgliedsunternehmen I GmbH eine Weiterbildung begonnen hätte. Dies sei nicht der Fall gewesen. 

Die VBG leitete die Unterlagen mit Schreiben vom 6. Juni 2017 an die (spätere) Beklagte (Unfallversicherung Bund und Bahn - UVB) weiter. Die Unterlagen würden zuständigkeitshalber übersandt mit der Bitte um Prüfung, ob ein in die dortige Zuständigkeit fallender Versicherungsfall vorliege. Die UVB sandte mit Schreiben vom 12. Juni 2017 die Unterlagen an die VBG zurück. Für Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung nach § 176 i.V.m. §§ 179 und 180 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) sei ihre Zuständigkeit nicht gegeben.

Gegen den Bescheid der VBG vom 6. Juni 2017 hatte die Klägerin am 19. Juni 2017 Widerspruch erhoben. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2017).

Mit Schreiben vom 21. Juni 2017 wandte sich die Klägerin an die (spätere) Beklagte (UVB). Sie führte aus, es sei nicht korrekt, dass sie keine eindeutige schriftliche Aufforderung mit Rechtsbehelfsbelehrung erhalten habe. Sie verwies auf den Inhalt des Bildungsgutscheins. Auf Anfrage der UVB teilte die BA mit Schreiben vom 1. August 2017 mit, die Klägerin habe vom 13. Dezember 2016 bis zum 10. Juli 2017 Arbeitslosengeld bezogen. Sie habe am Unfalltag keiner Meldepflicht unterlegen.

Mit Bescheid vom 23. August 2017 lehnte die (spätere) Beklagte (UVB) Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlass des Ereignisses vom 17. Mai 2017 ab.

Auf nochmalige Anfrage der Beklagten teilte die BA Agentur für Arbeit A - W - mit Schreiben vom 30. November 2017 u.a. mit, eine Einladung nach § 309 SGB III mit Rechtsfolge sei nicht erfolgt. Eine Wahl des Bildungsträgers treffe die Bewerberin immer selbst; die Agentur für Arbeit dürfe aufgrund der Wettbewerbsverzerrungen keine Auswahl treffen bzw. Empfehlungen aussprechen. Eine Sperrzeit für die Nichtteilnahme an der Qualifizierung wäre nicht eingetreten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Unfallversicherungsschutz komme lediglich nach § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII in Betracht. Allein die Aushändigung eines Bildungsgutscheins stelle keine konkrete Aufforderung i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII dar.

Am 23. November 2017 hat die Klägerin beim Sozialgericht Gotha Klage gegen den Bescheid der VBG vom 6. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2017 erhoben (S 10 U 3934/17) und zur Begründung u.a. ausgeführt, der Beratungstermin am 17. Mai 2017 sei entgegen der Behauptung der VBG nur auf Empfehlung und Anweisung der BA vereinbart worden.

Mit der am 15. Februar 2018 beim Sozialgericht Gotha erhobenen Klage (S 10 U 500/18) hat sie sich gegen den Bescheid der (späteren) Beklagten (UVB) vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018 gewandt. Die Begründung entspricht im Wesentlichen der Begründung in dem Klageverfahren S 10 U 3934/17.

Im Verfahren S 10 U 3934/17 hat sie beantragt, die beiden Rechtsstreitigkeiten miteinander zu verbinden. Sie hat u.a. die Einladung des Jobcenters E vom 16. März 2017 zur Unternehmenspräsentation der M GmbH (im Folgenden: M GmbH) für Mittwoch den 29. März 2017 vorgelegt. Als Ort der Unternehmenspräsentation ist der Bildungsträger d GmbH genannt. Dies sei eine Einladung nach § 309 Abs. 1 SGB III i.V.m. § 159 SGB III. Sie möge unbedingt auch die nachfolgende Rechtsfolgenbelehrung und die weiteren Hinweise beachten. Die VBG hat ausgeführt, für die zukünftige Aufnahme einer Bildungsmaßnahme gälten ihrer Auffassung nach dieselben Grundsätze wie für die Arbeitsuche bzw. die Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses. Diese seien grundsätzlich dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen. Sie schließe sich dem Antrag an, die beiden anhängigen Verfahren zu verbinden.

Im Erörterungstermin am 11. April 2019 (S 10 U 500/18) hat der Vorsitzende ausgeführt, das Verfahren S 10 U 3934/17 sei vorgreiflich, da es sich um den gleichen Streitgegenstand handele. Sofern es sich bei der VBG um die falsche Berufsgenossenschaft handele, wäre das Verfahren gegebenenfalls mit Beiladung der richtigen Berufsgenossenschaft unter dem alten Aktenzeichen fortzusetzen, sodass in der Sache S 10 U 500/18 davon auszugehen sei, dass doppelte Rechtshängigkeit bestehe. Die Klägerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 27. Mai 2019 den Rechtsstreit S 10 U 500/18 im Hinblick auf eine bestehende doppelte Rechtshängigkeit für erledigt erklärt. Mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2019 hat die Beklagte (UVB) erklärt, nachdem ihr zwischenzeitlich der Beiladungsbeschluss vom 4. Juni 2019 vorliege, werde insoweit der Erledigungserklärung der Klägerin vom 27. Mai 2019 gefolgt. Mit Verfügung vom 6. November 2019 hat das Sozialgericht die Erledigung des Rechtsstreits am 4. November 2019 verfügt.

Mit Beschluss vom 4. Juni 2019 hat das Sozialgericht im Verfahren S 10 U 3934/17 die UVB, die jetzige Beklagte, nach § 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladen. Die Klägerin hat nunmehr beantragt, den Bescheid der Beigeladenen vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018 aufzuheben und festzustellen, dass sie am 17. Mai 2017 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Beigeladene und spätere alleinige Beklagte (Berichtigungsbeschluss vom 19. August 2020) hat auf die Stellungnahme der BA vom 30. November 2017 verwiesen. Die Klägerin hat ausgeführt, letztendlich habe sich das Aufsuchen der I GmbH am 17. Mai 2017 lediglich als Fortsetzung der ihr durch das Jobcenter E mit Schreiben vom 16. März 2017 unter Hinweis auf die Rechtsfolgen gemachten Einladung zur Unternehmenspräsentation der M GmbH dargestellt. Hinsichtlich der VBG hat die Klägerin die Klage für erledigt erklärt.

Mit Urteil, das nicht mit einem Datum versehen ist, zugestellt am 8. Juni 2020, berichtigt durch Beschluss vom 19. August 2020, hat das SG die vormalige Beigeladene nunmehr als Beklagte geführt. Es hat den Bescheid vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018 aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin am 17. Mai 2017 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Der Bildungsträger I GmbH sei bei der jetzigen Beklagten unfallversichert. Bei dem Besuch der Bildungseinrichtung habe es sich um eine versicherte Tätigkeit nach § 2 Nr. 14 SGB VII gehandelt.

Hiergegen hat die Beklagte am 26. Juni 2020 Berufung eingelegt. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, die Klägerin sei am 17. Mai 2017 nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII versichert gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 29. Mai 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist sinngemäß auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.

Der vormalig zuständige Berichterstatter hat am 26. November 2020 mit der anwesenden Klägerin einen Erörterungstermin durchgeführt. Bezüglich der dortigen Ausführungen der Klägerin wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Der Berichterstatter hat unter weiteren Ausführungen auf eine mangelnde Erfolgsaussicht der Berufung der Beklagten hingewiesen.

Mit Verfügung vom 20. März 2021 hat er die Beteiligten darauf hingewiesen, dass das Klageverfahren S 10 U 500/18 von der Klägerin für erledigt erklärt wurde. Im vorliegenden Verfahren sei die Beiladung der jetzigen Beklagten erst mit Beschluss vom 4. Juni 2019 erfolgt. Dies sei insofern von Bedeutung, als dass zu diesem Zeitpunkt die angefochtenen Bescheide der Beklagten - wegen der Klagerücknahme im Verfahren S 10 U 500/18 - bereits bestandskräftig waren. Eine Verurteilung der Beklagten als Beigeladene nach § 75 Abs. 5 SGG sei daher nicht mehr in Betracht gekommen. Eine Verurteilung der Beklagten im Sinne eines Beklagtenwechsels sei gleichsam nicht möglich. Die vorliegende Klage gegen die Beklagte sei unzulässig. Es werde angeregt, dass die Klägerin die vorliegende Klage für erledigt erkläre und zudem bei der Beklagten einen Überprüfungsantrag hinsichtlich der streitgegenständlichen Bescheide stelle.

Die Klägerin ist der Ansicht, das Verfahren S 10 U 500/18 habe nicht durch Klagerücknahme, sondern durch übereinstimmende Erledigungserklärungen geendet. Damit sei die formelle Rechtskraft und damit das Ende der Rechtshängigkeit erst nach Vorlage beider übereinstimmender Erklärungen eingetreten. Seitens der Beklagten sei die fragliche Erledigungserklärung jedoch erst mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2019 in Ansehung des zwischenzeitlich ergangenen Beiladungsbeschlusses vom 4. Juni 2019 abgegeben worden, weswegen das Sozialgericht mit Schreiben vom 7. November 2019 festgestellt habe, dass das Verfahren damit in der Hauptsache erledigt sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143 ff. SGG) und begründet.

Streitgegenstand des Verfahrens ist nur noch der Bescheid der Beklagten vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018, mit dem die Anerkennung des Ereignisses vom 17. Mai 2017 als Arbeitsunfall aufgrund versicherter Tätigkeit der Klägerin nach § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII abgelehnt wurde. Das Begehren auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls kann mit einer auf Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten und Feststellung eines Arbeitsunfalls gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. § 56 SGG) gerichtlich geltend gemacht werden. Ein Versicherter ist berechtigt, die Entscheidung des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung, dass ein Arbeitsunfall nicht gegeben ist, vorab als Grundlage infrage kommender Leistungsansprüche im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage klären zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2022 - B 2 U 13/20 R, Rn. 11, nach juris).

Einer Sachentscheidung steht hier allerdings entgegen, dass die Klage der Klägerin unzulässig ist, weil der angefochtene Bescheid nach § 77 SGG bindend geworden ist (vgl. für den entgegengesetzten Fall: BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 - B 2 U 19/20 R, Rn. 15).

Die Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid die Anerkennung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Ereignisses vom 17. Mai 2017 abgelehnt. In der Begründung hat sie ausgeführt, dass das Unfallereignis vom 17. Mai 2017 nicht die Voraussetzungen zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls i.S.d. § 8 SGB VII erfüllt.

Die VBG hatte mit Bescheid vom 6. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2017 die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Ereignisses vom 17. Mai 2017 abgelehnt, weil die Klägerin nicht zum Kreis der nach § 2 SGB VII versicherten Personen gehört und insoweit keinen Arbeitsunfall erlitten hat.

Die Klägerin hat sich hiergegen mit den Klageverfahren S 10 U 3934/17 und S 10 U 500/18 gewandt.

Beide Klageverfahren waren zum Zeitpunkt des Eingangs der Klagen beim Sozialgericht zulässig. Ein Fall der doppelten Rechtshängigkeit lag nicht vor. Eine doppelte Rechtshängigkeit liegt nur dann vor, wenn zwischen denselben Beteiligten (Kläger, Beklagte, Beigeladene) über denselben Streitgegenstand gestritten wird. Maßgebend für die Reichweite ist die Rechtskraftwirkung nach § 141 Abs. 1 SGG, die sich auch auf die Beigeladene erstreckt. Maßgebendes Kriterium für die Sperrwirkung ist, ob die Entscheidung des ersten Prozesses die des zweiten überflüssig macht oder nicht (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 94 Rn. 7c m.w.N.). In den beiden oben genannten Klageverfahren standen sich als Beteiligte nur die Klägerin und die jeweilige Beklagte (VBG und UVB) gegenüber. Es handelte sich also nicht um zwei Rechtsstreite zwischen denselben Beteiligten über denselben Streitgegenstand (Ereignis vom 17. Mai 2017).

Sowohl die VBG als auch die Beklagte waren auch berechtigt und verpflichtet, innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs die Gewährung von Leistungen und damit verbunden die Anerkennung eines Arbeitsunfalls zu prüfen und ihre Entscheidungen zu treffen.

Die VBG wäre nach § 121 Abs. 1 SGB VII für die Entschädigung eines Arbeitsunfalls zuständig gewesen, wenn ein Versicherungstatbestand kraft Gesetzes - hier § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII (Lernende) - oder kraft ihrer zum Zeitpunkt des Unfalls geltenden Satzung hätte bejaht werden können.

Die jetzige Beklagte ist nach § 125 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII für die Bundesagentur für Arbeit und für Personen zuständig, die nach § 2 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a SGB VII versichert sind. Da die Klägerin als Arbeitslose gemeldet war und zumindest im Zusammenhang mit ihrer Arbeitslosigkeit einen Bildungsträger aufsuchten wollte, kam auch eine versicherte Tätigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a SGB VII in Betracht.

Der Entscheidungsbefugnis beider Unfallversicherungsträger steht auch nicht § 135 SGB VII entgegen. Der Gesetzgeber hat in § 135 SGB VII festgelegt, dass eine Tätigkeit, für die Versicherungsschutz nach mehreren Tatbeständen begründet sein kann, jeweils nur einem Tatbestand zugeordnet wird und deshalb nur ein Versicherungsträger zuständig ist. § 135 SGB VII regelt insoweit zwar, was materiell-rechtlich die „richtige“ Entscheidung ist. Dies bedarf aber wiederum einer materiell-rechtlichen Entscheidung. Insoweit kann § 135 SGB VII auch nicht verhindern, dass Unfallversicherungsträger/Sozialgerichte bei ihrer Prüfung ggf. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und dementsprechend einander widerstreitende Entscheidungen treffen (vgl. Bullwan, Widerstreitende Entscheidungen zweier Unfallversicherungsträger - Rechtliche Möglichkeiten der Vermeidung bzw. Korrektur, ZFSH/SGB, 2022 S. 443 ff.) bzw. - wie hier - zwei ablehnende Entscheidungen.

Hinsichtlich der beiden anhängigen Verfahren beim Sozialgericht wäre eine Verbindung - wie von den Beteiligten angeregt - nach § 113 SGG in Betracht gekommen. Dann wäre der aus Sicht des Sozialgerichts rechtswidrige Bescheid des „richtigen“ Unfallversicherungsträgers aufzuheben und ein Arbeitsunfall festzustellen gewesen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 23/99 R, nach juris).

Die Klägerin hat allerdings das Klageverfahren (S 10 U 500/18) gegen den Bescheid der Beklagten vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018 am 27. Mai 2019 für erledigt erklärt. Die einseitige Erledigungserklärung ist als Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 SGG auszulegen. Die Abgrenzung einer Klagerücknahme gegenüber der Erklärung der Hauptsache für erledigt, ist für die Sozialgerichtsbarkeit in den nicht in den Anwendungsbereich des § 197a SGG fallenden Streitigkeiten in der Regel nicht erheblich, weil auch die Klagerücknahme zur Erledigung der Hauptsache führt (vgl. B. Schmidt, a.a.O., § 102 Rn. 3 m.w.N.). Die Klägerin hat eindeutig unter Annahme einer doppelten Rechtshängigkeit im Hinblick auf den Hinweis des Vorsitzenden der 10. Kammer im Erörterungstermin am 11. April 2019 das Verfahren gegenüber der jetzigen Beklagten für erledigt erklärt. Im Parallelverfahren wollte sie die Beiladung der bis dahin Beklagten beantragen. Eine Einwilligung des Beklagten zur Klagerücknahme ist nicht erforderlich (vgl. B. Schmidt, a.a.O., § 102, Rn. 6). Insoweit war der Rechtsstreit (S 10 U 500/18) bereits am 27. Mai 2019 erledigt und nicht wie vom Sozialgericht verfügt am 4. November 2019. Durch die Klagerücknahme ist der angefochtene Bescheid der Beklagten nach § 77 SGG bestandskräftig geworden.

Auch der Bescheid der VBG vom 6. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2017 ist durch die Erledigungserklärung im Verfahren S 10 U 3934/17, die ebenfalls als Klagerücknahme nach § 102 SGG auszulegen ist, am 5. März 2020 nach § 77 SGG bestandskräftig geworden.

Im Rahmen der dann im Verfahren S 10 U 3934/17 erhobenen Anfechtungs- und Feststellungsklage gegen die im Stadium des Beratungstermins am 27. Mai 2020 noch als Beigeladene beteiligte jetzige Beklagte durfte die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 23. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2018 - unabhängig von ihrer Beteiligtenstellung in dem Verfahren - durch das Sozialgericht nicht erfolgen, weil der angefochtene Bescheid nach § 77 SGG bestandskräftig geworden ist, d.h. der Verwaltungsakt mit Rechtsbehelfen nicht mehr angegriffen werden konnte. Der sozialgerichtlichen Feststellung eines Arbeitsunfalls am 17. Mai 2017 stand die durch die Beklagte erfolgte Ablehnung der Gewährung von Entschädigungsleistungen aufgrund des Ereignisses vom 17. Mai 2017 entgegen. Der Klägerin steht insoweit bezüglich des angefochtenen Bescheides das Überprüfungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) offen. 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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