1. Ein Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem Parallelverfahren kann nur dann als Aktivitätszeit im Ausgangsverfahren gewertet werden, wenn für das Entschädigungsgericht hinreichend erkennbar ist, dass das Ausgangsverfahren wegen des Parallelverfahrens vorerst nicht gefördert wurde (Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 20.02.2018 - 5 B 13/17 D - juris Rn. 6).
2. In sozialgerichtlichen Verfahren besteht erst dann im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird, wenn aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens bereits absehbar ist, dass das Gericht nicht mehr mit einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit auskommen wird (ebenso Hessisches LSG, Urteil vom 24.08.2022 - L 6 SF 11/21 EK AS - juris Rn. 43).
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerinnen begehren Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1343/16 geführten Klageverfahrens.
Die Klägerin zu 1) und ihre 2011 geborene Tochter, die Klägerin zu 2), bezogen vom Jobcenter (JC) Teltow-Fläming Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). In dem Ausgangsverfahren wandten sie sich gegen einen (Änderungs-)Bescheid des JC vom 29.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.06.2016.
Mit dem Bescheid vom 29.04.2016 hatte das JC den Klägerinnen unter teilweiser Aufhebung eines vorangegangenen Bescheids vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Monat Juni 2016 in Höhe von insgesamt rund 605,- € bewilligt. Den Widerspruch, mit dem die Klägerinnen geltend gemacht hatten, dass es an einer Begründung für die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung fehle, hatte das JC (mit dem bereits erwähnten Widerspruchsbescheid vom 22.06.2016) zurückgewiesen, und zwar unter Hinweis darauf, dass sich der angefochtene Bescheid vom 29.04.2016 durch den zwischenzeitlich ergangenen Ablehnungsbescheid vom 12.05.2016 (betrifft: Ablehnung des Leistungsantrags „ab dem 01.03.2016“) erledigt habe. Die im Juli 2016 erhobene Klage zielte auf die Verurteilung des JC ab, die vorläufig festgestellten Leistungen für endgültig zu erklären. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 erklärten die Klägerinnen und das JC den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt (zum Ablauf des Ausgangsverfahrens im Einzelnen siehe die tabellarische Übersicht unten).
Neben dem Ausgangsverfahren waren weitere Verfahren beim SG Potsdam anhängig, und zwar von April bis Juni 2017 ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 654/17 ER), im Januar 2018 ein weiteres einstweiliges Rechtsschutzverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 38/18 ER) und ab Oktober 2018 ein Klageverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 1837/18). In dem Klageverfahren wandten sich die Klägerinnen gegen einen Bescheid des JC vom 25.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.10.2018. Der angefochtene Bescheid war auf einen Überprüfungsantrag der Klägerinnen nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ergangen, wobei Gegenstand der Überprüfung ein Bescheid / mehrere Bescheide vom 09.08.2016 war / waren. Mit der Klage begehrte die Klägerin zu 1) letztlich einen höheren Zuschuss nach § 27 SGB II für den Zeitraum von März bis Juni 2016, während sich die Klägerin zu 2) gegen eine Erstattungsforderung für einen vor Juni 2016 liegenden Zeitraum wandte. Mit Schriftsatz vom 16.01.2019 gab das JC ein Teilanerkenntnis dahingehend ab, dass es sich verpflichtete, der Klägerin zu 1) für die Zeit von März bis Juni 2016 einen höheren Zuschuss zu gewähren. Das Teilanerkenntnis wurde von der Klägerin zu 1) angenommen, der Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 gab das JC ein weitergehendes Anerkenntnis ab; dieses wurde von den Klägerinnen angenommen und der Rechtsstreit im Übrigen für erledigt erklärt.
Dem streitgegenständlichen Ausgangsverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 1343/16) lag im Einzelnen folgender Sachverhalt zugrunde:
21.07.2016 |
Eingang der Klageschrift vom 20.07.2016 mit Antrag auf Akteneinsicht in die Verwaltungsakten des JC; Hinweis, dass Antragstellung und Begründung einem gesonderten Schriftsatz nach Akteneinsicht vorbehalten seien |
28.07.2016 |
Registrierung des Klageverfahrens unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1343/16 |
03.08.2016 |
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17.08.2016 |
Eingang des Schriftsatzes des PB vom Vortag mit Klageantrag und Klagebegründung; als Anlage beigefügt: Verwaltungsakte, die der PB seinerseits wenige Tage zuvor vom JC zwecks Akteneinsicht übersandt bekommen hatte |
18.08.2016 |
Weiterleitung des Schriftsatzes vom 16.08.2016 an das JC zur Stellungnahme binnen 4 Wochen |
19.09.2016 |
Eingang der Stellungnahme des JC vom 15.09.2016 mit Verweis auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid und der Bitte um einen richterlichen Hinweis für den Fall, dass das Gericht Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben sollte; als Anlage beigefügt: Ablehnungsbescheid vom 09.08.2016, der nach Angabe des JC „gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens ist“ |
12.10.2016
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Weiterleitung des Schriftsatzes vom 15.09.2016 an den PB zur Stellungnahme binnen 4 Wochen „zur Erledigung bzw. Fortsetzung des Verfahrens“ |
09.11.2016 |
Eingang des Schriftsatzes des PB vom Vortag mit Hinweis, dass ihm der Ablehnungsbescheid vom 09.08.2016 unbekannt sei und er um Übersendung bitte, der Bescheid für das begehrte Klageziel jedoch auch unerheblich sei; die Aktenführung des JC verwundere |
22.11.2016 |
Weiterleitung des Schriftsatzes vom 08.11.2016 nebst Verwaltungsakten an das JC „mit der Bitte um Vervollständigung“ |
09.12.2016 |
Eingang des Schriftsatzes des JC vom 06.12.2016 mit Vortrag, dass sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte ergäben; als Anlage beigefügt: Verwaltungsakte Band I, weitere Abschrift des Ablehnungsbescheids vom 09.08.2016 |
02.01.2017
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Weiterleitung des Schriftsatzes vom 06.12.2016 nebst Abschrift des Ablehnungsbescheids vom 09.08.2016 an PB zur Stellungnahme binnen 4 Wochen, mit welchem konkreten Antrag das Verfahren fortgeführt werden solle |
02.02.2017 |
Eingang des Schriftsatzes des PB vom 01.02.2017 mit Vortrag: An dem Klagebegehren habe sich durch den Bescheid vom 09.08.2016 nichts geändert. Hinsichtlich der Leistungsberechnung erschließe sich die Höhe des berücksichtigten Einkommens als sonstiges Einkommen bei der Klägerin zu 2) nicht. Die Kosten der Unterkunft seien zudem nicht in voller Höhe berücksichtigt worden. |
08.02.2017 |
Weiterleitung des Schriftsatzes vom 01.02.2017 an das JC zur Stellungnahme binnen 4 Wochen |
17.02.2017 |
Eingang des Schriftsatzes des JC vom 15.02.2017 mit Hinweis, dass sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte ergäben |
27.02.2017 |
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26.04.2017 |
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28.04.2017 |
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19.05.2017 |
Verfügung einer Wv zur „Fr. ER-Verf.“ |
07.06.2017 |
Verfügung der Sache ins Sitzungsfach |
30.10.2017 |
Eingang der Verzögerungsrüge des PB vom 26.10.2017 |
14.11.2017 |
Schreiben des SG an Beteiligte, dass der Klage noch eine größere Anzahl älterer Streitsachen mit gleichem Dringlichkeitsgrad vorgehe. Ein voraussichtlicher Termin zur mündlichen Verhandlung könne daher derzeit nicht benannt werden. |
04.12.2019 (Verfügung vom 29.11.2019) |
Ladung eines Termins zur mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 |
14.01.2020 |
Durchführung der mündlichen Verhandlung:
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Die Klägerinnen wandten sich mit Schreiben ihres PB vom 04.02.2020 an den Beklagten und forderten diesen zur Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens in Höhe von 4.200,- € (immaterieller Nachteil) sowie weiteren 600,71 € (materieller Nachteil in Form der entstandenen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs) auf. Sie machten geltend, dass das Ausgangsverfahren von März 2017 bis November 2019 nicht fortgeführt worden sei, weshalb von 33 Verzögerungsmonaten auszugehen sei. Abzüglich einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten würden 21 Monate verbleiben, die mit 100,- € im Monat pro Person zu entschädigen seien.
Daraufhin zahlte der Beklagte zum Ausgleich des immateriellen Nachteils einen Betrag in Höhe von jeweils 700,- € (insgesamt 1.400,- €) an die Klägerinnen und erstattete ihnen Anwaltskosten in Höhe von insgesamt 176,12 €. Er begründete seine Entscheidung mit Schreiben vom 06.05.2020 damit, dass gerichtliche Inaktivität von Juli bis Dezember 2017, von März bis September 2018 sowie von Mai bis Oktober 2019 und mithin in insgesamt 19 Kalendermonaten zu verzeichnen sei. Von den 19 Inaktivitätsmonaten sei eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit im Umfang von 12 Monaten abzuziehen. Insgesamt seien daher als entschädigungsrelevant 7 Kalendermonate zu berücksichtigen, sodass sich der Entschädigungsbetrag unter Beachtung einer Regelentschädigung von monatlich 100,- € auf 700,- € pro Klägerin belaufe. Die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs seien – ausgehend von einem Gegenstandswert in Höhe von 700,- € – in Höhe von 176,12 € zu erstatten. Ein weitergehender Anspruch auf Entschädigung nach § 198 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) bestehe nicht, da in den übrigen Zeiträumen von gerichtlicher Aktivität auszugehen sei: In den Monaten März und April 2017 habe das SG auf die Stellungnahme des JC zur gerichtlichen Anfrage vom 27.02.2017 gewartet, welche nach gerichtlicher Erinnerung am 26.04.2017 eingegangen sei. In dem Zeitraum von Oktober 2018 bis April 2019 habe das Ausgangsgericht Ergebnisse oder Ermittlungen in dem parallel anhängigen Klageverfahren S 45 AS 1837/18 abwarten dürfen. Die dortigen gerichtlichen Aktivitäten würden auch als Aktivitätszeiten in dem hier zugrunde liegenden Ausgangsverfahren gelten, da zwischen beiden Verfahren ein inhaltlicher Zusammenhang bestanden habe und sie die gleichen Rechtsfragen betroffen hätten. Gleiches gelte für die Zeiträume von April bis Juni 2017 und Januar bis Februar 2018, in denen die einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 45 AS 654/17 ER und S 45 AS 38/18 ER anhängig gewesen seien. Im November 2019 habe die Kammervorsitzende die Ladung zum 14.01.2020 verfügt.
Am 28.05.2020 haben die Klägerinnen ihre Entschädigungsklage beim Landessozialgericht eingereicht. Die Klage ist dem Beklagten am 02.07.2020 zugestellt worden.
Die Klägerinnen sind weiterhin der Auffassung, dass es in dem Ausgangsverfahren im Umfang von 33 Monaten (März 2017 bis November 2019) zu Verzögerungen gekommen sei. Unter Berücksichtigung einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit, die im vorliegenden Fall noch nicht einmal zwingend 12 Monate betragen müsse, sowie unter Anrechnung der bereits gezahlten Entschädigung in Höhe von jeweils 700,- € stehe ihnen ein Anspruch auf Zahlung jeweils weiterer 1.400,- € zum Ausgleich des immateriellen Nachteils zu. Darüber hinaus sei der Beklagte verpflichtet, außergerichtlich entstandene Anwaltskosten in Höhe von insgesamt weiteren 316,42 € zu übernehmen. Die Monate März und April 2017 seien, anders als der Beklagte meine, als Verzögerungszeit zu werten. Das SG hätte lange vor dem 27.02.2017 Gelegenheit gehabt, das JC aufzufordern, das „sonstige Einkommen“ zu erläutern. Hätte das JC bereits mit der Übermittlung des klägerischen Schriftsatzes vom 01.02.2017 einen entsprechenden richterlichen Hinweis erhalten, hätte es bereits im Schriftsatz vom 15.02.2017 das „sonstige Einkommen“ näher erläutern können. Soweit der Beklagte meine, dass das SG von Oktober 2018 bis April 2019 die Ergebnisse oder Ermittlungen in dem unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 geführten Verfahren habe abwarten dürfen, verwechsle er Korrelation und Kausalität. Es sei neben dem Ausgangsverfahren lediglich zufälligerweise zeitgleich ein weiteres Verfahren gegen das JC anhängig gewesen. In beiden Verfahren seien unterschiedliche Ziele verfolgt worden. Entscheide sich das SG, Ergebnisse oder Ermittlungen in einem anderen Verfahren abzuwarten, müsse es dies durch einen Hinweis an die Beteiligten zum Ausdruck bringen und klarstellen, auf was genau es warte. Einen derartigen Hinweis habe es nicht gegeben. Ganz im Gegenteil habe das SG mit seinem Schreiben vom 14.11.2017 erklärt, dass es überlastet sei und deshalb noch keinen Termin für eine mündliche Verhandlung benennen könne. Auch weitere Umstände würden dagegen sprechen, dass das SG bei der Führung des einen das jeweils andere Verfahren berücksichtigt habe, so die Tatsache, dass das SG die beiden Verfahren nicht miteinander verbunden habe, sowie die Tatsache, dass es im hiesigen Ausgangsverfahren überhaupt nicht reagiert habe, nachdem das JC in dem Verfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 mit Schriftsatz vom 16.01.2019 ein Teilanerkenntnis abgegeben habe. Es sei ex-ante auch nicht ersichtlich, welche Ergebnisse das SG in dem unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 geführten Verfahren habe erwarten sollen, die für das hiesige Ausgangsverfahren relevant gewesen wären. Desgleichen sei nicht ersichtlich, dass das SG das hiesige Ausgangsverfahren in den Zeiträumen von April bis Juni 2017 und Januar bis Februar 2018 mit Blick auf die unter den Aktenzeichen S 45 AS 654/17 ER und S 45 AS 38/18 ER geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht fortgeführt habe, zumal es dort um die Zwangsvollstreckung und nicht um die materielle Rechtslage gegangen sei. Dass das SG am 29.11.2019 die Ladung zum 14.01.2020 verfügt habe, stehe der Annahme einer Verzögerung im Monat November 2019 nicht entgegen. Eine gerichtsinterne Verfügung stelle noch keine Handlung dar, durch die dem Verfahren Fortgang gegeben werde. Erst die „Entäußerung“ der auf den 04.12.2019 datierten Ladung durch die Geschäftsstelle stelle einen Fortgang dar. Bei den für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs entstandenen Rechtsanwaltskosten handle es sich um einen materiellen Nachteil, der im Rahmen des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ebenfalls zu ersetzen sei. Entgegen der Ausführungen des erkennenden Senats in seinem Urteil vom 09.06.2021 zum Aktenzeichen L 37 SF 271/19 EK AS sei die Beauftragung eines Rechtsanwalts für die außergerichtliche Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs grundsätzlich notwendig. Dies würde sich nicht nur aus der Begründung des Regierungsentwurfs zu dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Hinweis auf BT-Drucks. 17/3802, S. 19), sondern auch aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs ergeben.
Die Klägerinnen beantragen,
- festzustellen, dass das vor dem SG Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1343/16 geführte Verfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat,
- den Beklagten zu verurteilen, ihnen wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1343/16 geführten Verfahrens jeweils eine weitere Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit,
- den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerinnen die ihnen durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur außergerichtlichen Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs entstandenen Kosten in Höhe von weiteren 316,42 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 15.04.2020 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen in seinem Schreiben vom 06.05.2020 und die Aktivitätszeiten in den Parallelverfahren S 45 AS 654/17 ER, S 45 AS 38/18 ER und S 45 AS 1837/18.
Der Berichterstatter hat die Klägerinnen darauf hingewiesen, dass dem geltend gemachten Anspruch auf Zahlung einer (weiteren) Entschädigung entgegenstehen könnte, dass zum Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge (Oktober 2017) möglicherweise noch keine Rügesituation im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG vorlag. Die Klägerinnen haben daraufhin weiter vorgetragen, dass im Oktober 2017 durchaus bereits Anlass zur Besorgnis bestanden habe, dass das Ausgangsverfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werde. Sinn und Zweck der Verzögerungsrüge sei es gerade, das Gericht zu warnen und ihm Gelegenheit zu geben, das Verfahren abzuschließen, bevor eine unangemessene Verfahrensdauer überhaupt erst eintrete. Aus der Perspektive der Klägerinnen, auf die es insoweit ankomme, sei das Ausgangsgericht in den Monaten März bis Oktober 2017 durchgängig untätig gewesen. Aus ihrer Perspektive hätten dem Ausgangsgericht somit nur noch 4 Monate an Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugestanden. Diese noch abzuwarten, hätte aber bedeutet, die Verzögerungen erst zu rügen, wenn nicht mehr hätte verhindert werden können, dass es zu einer unangemessenen Verfahrensdauer komme.
Am 13.02.2023 ist ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin zu 1) eröffnet worden.
Die Beteiligten haben sich unter dem 08.03.2023 (Beklagter) bzw. dem 14.03.2023 (Klägerinnen) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, der Akten des Ausgangsverfahrens sowie der Akten des SG Potsdam zu den Aktenzeichen S 45 AS 1837/18, S 45 AS 38/18 ER und S 45 AS 654/17 ER verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über die Entschädigungsklage gemäß § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i. V. m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben. Maßgebend für die Beurteilung des Begehrens der Klägerinnen sind § 202 Satz 2 SGG i. V. m. §§ 198 ff. GVG, da um eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens gestritten wird.
Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin zu 1) am 13.02.2023 ist keine Unterbrechung des vorliegenden Verfahrens eingetreten. Nach § 240 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) wird im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Beteiligten das Verfahren nur dann unterbrochen, wenn es „die Insolvenzmasse betrifft“. Gemäß § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG ist ein Entschädigungsanspruch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Entschädigungsklage nicht übertragbar. Daraus folgt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt auch unpfändbar ist (§ 851 Abs. 1 ZPO). Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören aber nicht zur Insolvenzmasse (§ 36 Abs. 1 Satz 1 Insolvenzordnung – InsO). Nur in Bezug auf die Insolvenzmasse geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Erst nach der rechtskräftigen Entscheidung über den Entschädigungsanspruch gelten die allgemeinen Vorschriften zur Übertragbarkeit, Aufrechenbarkeit, Pfändbarkeit und damit auch zum Insolvenzbeschlag.
Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Die Klägerinnen haben gegen den Beklagten keinen Anspruch auf eine (weitere) Geldentschädigung, und zwar weder wegen des erlittenen immateriellen Nachteils noch wegen eines etwaigen Vermögensnachteils in Form von Rechtsanwaltskosten für die vorprozessuale Rechtsverfolgung. Ebenso wenig haben sie mit ihrem Feststellungsbegehren Erfolg.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge).
§ 198 Abs. 4 GVG regelt darüber hinaus verschiedene Fälle, in denen das Entschädigungsgericht (anstelle oder neben der Geldentschädigung) die Feststellung treffen kann, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Unter anderem kann eine solche Feststellung gemäß § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 GVG nicht erfüllt sind, namentlich also dann, wenn es an einer (wirksamen) Verzögerungsrüge fehlt.
Das Ausgangsverfahren hat zwar unangemessen lange gedauert (dazu unter I.). Dem Anspruch auf Entschädigung steht jedoch entgegen, dass die Klägerinnen keine wirksame Verzögerungsrüge erhoben haben (dazu unter II.). Die von den Klägerinnen begehrte gerichtliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist ebenfalls nicht zu treffen (dazu unter III.).
I. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war im Umfang von 18 Monaten unangemessen.
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
1. Den Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wurde mit Erhebung der Klage am 21.07.2016 eingeleitet und fand seinen Abschluss durch übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 14.01.2020. Es erstreckte sich mithin über 3 Jahre und rund 6 Monate.
2. Das Ausgangsverfahren wies eine eher unterdurchschnittliche Bedeutung sowie eine durchschnittliche Schwierigkeit und Komplexität auf.
Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten, zum anderen maßgeblich aus dem Interesse der Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung (BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – juris Rn. 23). Die Klägerinnen begehrten im Ausgangsverfahren, dass das JC verurteilt wird, die für Juni 2016 vorläufig festgestellten Leistungen für endgültig zu erklären. Es standen somit lediglich Leistungen für einen Monat im Streit, weshalb die Tragweite der ggf. zu erwartenden gerichtlichen Entscheidung überschaubar war. Durch Zeitablauf drohten den Klägerinnen keine weitergehenden Nachteile. Eine mehr als eher unterdurchschnittliche Bedeutung kann dem Ausgangsverfahren bei einer solchen Sachlage nicht beigemessen werden. Das Verfahren war durchschnittlich schwierig bzw. komplex. Es war u. a. zu klären, welche Wirkung den Bescheiden vom 12.05.2016 und 09.08.2016 zukommt, mit denen die Leistungsgewährung jeweils „ab dem 01.03.2016“ abgelehnt worden war, und ob bzw. ggf. inwieweit sich der Streitgegenstand mit dem im Klageverfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 erhobenen Anspruch überschneidet. Insgesamt war das Ausgangsverfahren deshalb nicht ohne weiteres, sondern nur mit einem gewissen Aufwand zu überblicken und zu durchdringen.
3. Über die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien hinaus hängt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Gerichts zur Überlänge des Verfahrens geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (ständige Rechtsprechung, siehe z. B. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 34 bzw. Rn. 41, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 35 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 38, jeweils zitiert nach juris). Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind daher die aktiven Bearbeitungszeiten den Phasen der Inaktivität gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris).
Zu beachten ist dabei, dass das Entschädigungsverfahren keine weitere Instanz eröffnet, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht vielmehr die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen. Zudem räumt die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber ein, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 36).
Mit Blick auf das streitgegenständliche Ausgangsverfahren ist festzustellen, dass dieses nach Eingang der Klage im Juli 2016 zunächst engmaschig bearbeitet bzw. durch diverse Schriftsätze der Beteiligten bis einschließlich April 2017 unterhalten worden ist.
Anders als die Klägerinnen meinen, sind insbesondere die Monate März und April 2017 als Phase gerichtlicher Aktivität zu werten. Ende Februar 2017 hatte das SG das JC dazu aufgefordert, die Einkommensanrechnung zu erläutern. Im März 2017 durfte das SG mit Blick auf die zu erwartende Stellungnahme von weiteren Verfahrensförderungsschritten absehen, zumal sich das Klageverfahren zu diesem Zeitpunkt in einem recht jungen Stadium befand und dementsprechend – über die Grundpflicht zur stringenten Verfahrensgestaltung hinaus – noch keine gesteigerte Pflicht bestand, Beschleunigungsmaßnahmen zu ergreifen (vgl. zur Steigerung der Prozessförderungspflicht bei zunehmender Verfahrensdauer BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – juris Rn. 37 bzw. Rn. 44). Ende April 2017 ging die Stellungnahme des JC dann – in Überschneidung mit einer vom SG verfügten Erinnerung – bei Gericht ein und wurde noch im selben Monat an die klägerische Seite weitergeleitet. Soweit die Klägerinnen vortragen, dass das SG schon zu einem früheren Zeitpunkt eine entsprechende Stellungnahme des JC hätte einholen können, führt dies zu keinem anderen Ergebnis, da hypothetische Verfahrensabläufe bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer außer Betracht zu bleiben haben (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.01.2019 – L 37 SF 102/18 EK AS WA – juris Rn. 55). Die Entscheidung des Ausgangsgerichts, das JC erst im Februar 2017 zur Einkommensanrechnung aufzufordern, erweist sich auch nicht als willkürlich.
Ebenso wenig ist der Monat Mai 2017 als Verzögerungsmonat zu werten. Wie bereits oben erwähnt, hatte das SG die Stellungnahme des JC zur Einkommensanrechnung noch Ende April 2017 zur Kenntnisnahme an die Klägerinnen weitergeleitet. Die Übersendung eines Schriftsatzes an die Beteiligten zur Kenntnis eröffnet stets die Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Entscheidung des Ausgangsgerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst keine weiteren Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative bei der Verfahrensführung; sie ist – mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten – durch das Entschädigungsgericht nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG, Urteile vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 43 und 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – Rn. 30, jeweils zitiert nach juris). Vorliegend ist das in den Monat Mai 2017 hineinreichende Zuwarten des SG weder unvertretbar noch schlechthin unverständlich. Es war jedenfalls in dieser noch recht frühen Phase des Klageverfahrens von seinem prozessualen Gestaltungsspielraum gedeckt.
Eine dem Staat zurechenbare Verzögerung ist jedoch ab Juni 2017 festzustellen; diese dauerte bis einschließlich November 2019 (30 Kalendermonate) an. In diesem Zeitraum ist keinerlei gerichtliche Aktivität zu verzeichnen. Soweit das SG die Beteiligten unter dem 14.11.2017 über den Sachstand unterrichtet hat, ist darin keine aktive Verfahrensgestaltung zu erblicken (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.11.2020 – L 37 SF 276/19 EK AL – juris Rn. 35). Die am 29.11.2019 angefertigte Ladungsverfügung fällt zwar an sich in den vorgenannten Zeitraum, begründet jedoch keine dem Monat November 2019 zuzuordnende Verfahrensförderung. Maßgeblich für die Feststellung einer gerichtlichen Aktivität ist nicht der Zeitpunkt, zu dem die richterliche Verfügung verfasst wird, sondern der Zeitpunkt, zu dem diese Verfügung tatsächlich ausgeführt wird (LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 26.05.2020 – L 37 SF 149/19 EK AS und L 37 SF 150/19 EK AL – juris Rn. 33 bzw. Rn. 30 f.).
Auch die Tatsache, dass am SG Potsdam weitere Verfahren der Klägerinnen bzw. der Klägerin zu 1) gegen das JC anhängig waren, ändert nichts daran, dass der Zeitraum von Juni bis November 2019 als Verzögerungsphase zu werten ist.
Ein Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem parallelen Verfahren kann zwar als Zeit der aktiven Bearbeitung anzusehen sein, wenn zu erwarten ist, dass in einem solchen Verfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für das Ausgangsverfahren von Relevanz sind, oder wenn die Beteiligten diesem Vorgehen ausdrücklich zustimmen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris Rn. 47; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.04.2016 – L 37 SF 159/14 EK AS – juris Rn. 62 f.). Ebenso darf das Ausgangsgericht unter Umständen den Abschluss eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens abwarten (vgl. näher hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – juris Rn. 47). Im Entschädigungsverfahren kommt eine Bewertung als Aktivitätszeit jedoch nur in Betracht, wenn für das Entschädigungsgericht hinreichend erkennbar ist, dass das Ausgangsverfahren wegen eines Parallelverfahrens vorerst nicht gefördert wurde (BVerwG, Beschluss vom 20.02.2018 – 5 B 13/17 D – juris Rn. 6; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 20.04.2018 – L 12 SF 46/17 EK – juris Rn. 39).
Im vorliegenden Fall kann letztlich dahingestellt bleiben, ob und ggf. für welche Dauer ein Abwarten von Ergebnissen in den parallel anhängigen Verfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 1837/18, S 45 AS 38/18 ER und S 45 AS 654/17 ER) nach Lage der Dinge noch vom prozessualen Gestaltungsspielraum des Ausgangsgerichts gedeckt gewesen wäre. Denn es ist für den Senat jedenfalls nicht erkennbar, dass das SG im hier fraglichen Zeitraum – Juni 2017 bis November 2019 – tatsächlich den Ausgang dieser Verfahren abgewartet bzw. im Hinblick auf zu erwartende Ergebnisse oder Erkenntnisse aus diesen Verfahren das aktive Betreiben des Ausgangsverfahrens hintangestellt hat. Lediglich eine unter dem 19.05.2017 getroffene Verfügung („Fr. ER-Verf.“) lässt noch eine vage Bezugnahme zum seinerzeit anhängigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit dem Aktenzeichen S 45 AS 654/17 ER erkennen. Demgegenüber besteht für die Zeit ab Juni 2017 kein Anhalt (mehr) dafür, dass andere Fälle in den Überlegungen des Ausgangsgerichts zur Verfahrensgestaltung eine Rolle spielten. Die Kammervorsitzende verfügte die Akte des Ausgangsverfahrens im Juni 2017 in das Sitzungsfach und gab somit zu erkennen, dass sie die Sache für entscheidungsreif hält. In ihrer Sachstandsmitteilung aus November 2017 wies sie die Beteiligten darauf hin, dass eine „größere Anzahl älterer Streitsachen mit gleichem Dringlichkeitsgrad“ anhängig sei und ein voraussichtlicher Termin zur mündlichen Verhandlung noch nicht benannt werden könne. Zu diesem Zeitpunkt war das einstweilige Rechtsschutzverfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 654/17 ER längst abgeschlossen. Als im Januar 2018 das einstweilige Rechtsschutzverfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 38/18 ER und im Oktober 2018 das Klageverfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 anhängig wurden, hatte dies keinerlei Bearbeitungsspuren in der Akte des Ausgangsverfahrens zur Folge, namentlich wurden keine auf die anderen Verfahren abgestimmten Wiedervorlagen eingerichtet. Die Akte des Ausgangsverfahrens blieb vielmehr im Sitzungsfach liegen. Auch das vom JC im Januar 2019 im Klageverfahren zum Aktenzeichen S 45 AS 1837/18 abgegebene Teilanerkenntnis resultierte nicht in einer entsprechenden, einen Bearbeitungs-Bezug zwischen den Verfahren herstellenden Reaktion der Kammervorsitzenden. Insgesamt ist somit nicht erkennbar, dass Ergebnisse / Ermittlungen in anderen Verfahren tatsächlich abgewartet werden sollten. Nichts anderes ergibt sich daraus, dass der PB der Klägerinnen im Januar 2020 im Ausgangsverfahren eine (Erledigungs-)Erklärung abgegeben hat, in der er auch das Teilanerkenntnis aus dem Verfahren S 45 AS 1837/18 erwähnt hat. Denn hieraus lassen sich keine Rückschlüsse auf die der Verfahrensleitung des SG in der Zeit von Juni 2017 bis November 2019 zugrunde liegenden, durch die seinerzeitige richterliche ex-ante-Sicht gespeisten Erwägungen ziehen.
Mithin ist es im Ausgangsverfahren zu Zeiten einer gerichtlichen Inaktivität im Umfang von insgesamt 30 Kalendermonaten gekommen.
4. Dies bedeutet indes nicht, dass in entsprechendem Umfang von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Denn erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 33). Dabei ist zu beachten, dass den Gerichten – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zuzubilligen ist, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss (ständige Rechtsprechung, siehe jüngst etwa BSG, Urteile vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R und B 10 ÜG 4/21 R – juris Rn. 32 ff. bzw. Rn. 21).
Im vorliegenden Fall besteht zur Überzeugung des Senats kein Anlass, von der im Regelfall anzusetzenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten abzuweichen. Somit ist von einer grundsätzlich entschädigungspflichtigen Verzögerung von 18 Kalendermonaten auszugehen.
II. Gleichwohl steht den Klägerinnen kein Anspruch auf eine (weitere) Geldentschädigung zu, denn sie haben die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht wirksam gerügt. Die von ihnen am 30.10.2017 erhobene Verzögerungsrüge ist als verfrüht anzusehen.
Nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erhält ein Verfahrensbeteiligter Entschädigung nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann gemäß § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Diese „Besorgnis“ erfordert nicht, dass eine entschädigungsrelevante Verzögerung bereits eingetreten ist (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 20; vgl. ferner BFH, Urteil vom 17.06.2014 – X K 7/13 – juris Rn. 53). Es genügt, wenn der Betroffene erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Grundlage der Prognose haben objektive Gründe zu sein, die bei einer ex-ante-Betrachtung aus der Warte eines vernünftigen Rügeführers im konkreten Einzelfall eine überlange Verfahrensdauer hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 44; BGH, Urteil vom 26.11.2020 – III ZR 61/20 – juris Rn. 21). Das ist bei sozialgerichtlichen Verfahren dann der Fall, wenn aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens bereits absehbar ist, dass das Gericht nicht mehr mit einer 12-monatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit auskommen wird (Hessisches LSG, Urteil vom 24.08.2022 – L 6 SF 11/21 EK AS – juris Rn. 43; vgl. ferner BSG, Urteil vom 09.03.2023 – B 10 ÜG 2/21 R –, bislang nur in Form eines Terminberichts veröffentlicht). Eine Rügesituation in diesem Sinne kann beispielsweise dadurch erzeugt werden, dass das Gericht über einen längeren Zeitraum keine verfahrensfördernden Maßnahmen ergreift (vgl. BGH, Urteil vom 26.11.2020 – III ZR 61/20 – juris Rn. 22), Termine ohne erheblichen Grund aufhebt (Röhl, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 198 Rn. 107) oder Sachstandsanfragen der Verfahrensbeteiligten jeweils nur mit dem Hinweis auf vorrangige ältere Verfahren beantwortet (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 30.10.2014 – L 1 SF 15/13 – juris Rn. 19).
Eine vor dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG genannten Zeitpunkt erhobene Verzögerungsrüge geht ins Leere und ist zur Begründung eines Entschädigungsanspruchs nicht geeignet (BT-Drucks. 17/3802, S. 20; Graf, in: BeckOK, GVG, § 198 Rn. 25). Sie wird auch dann nicht wirksam, wenn später tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer eintritt bzw. einzutreten droht (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.05.2022 – L 37 SF 216/20 EK AS – juris Rn. 43 m. w. N.).
Nach diesen Maßstäben lag zum Zeitpunkt der Einreichung der Verzögerungsrüge (Oktober 2017) noch keine Rügesituation im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG vor. Es bestand aus Sicht eines vernünftigen Rügeführers noch kein berechtigter Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden würde. Das Ausgangsverfahren war zwar rund 15 Monate alt, jedoch war es bis dahin größtenteils durch gerichtliche Aktivität geprägt. Bis einschließlich September 2017 war es, wie bereits oben dargelegt, lediglich im Umfang von 4 Monaten zu Verzögerungen gekommen. Schon wegen der für das Klageverfahren noch zur Verfügung stehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts rechtfertigte die insgesamt nur wenige Monate andauernde gerichtliche Inaktivität bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung nicht die Annahme, dass es zu einer unangemessenen Verfahrensdauer kommen würde. Soweit die Klägerinnen geltend machen, dass aus ihrer Perspektive eine durchgängige Untätigkeit des Ausgangsgerichts bereits ab März 2017 (also nicht erst ab Juni 2017) vorgelegen habe, dringen sie mit diesem Argument nicht durch, denn auf ihre subjektive Wahrnehmung kommt es im Rahmen des § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG nicht an.
Ob aufgrund der Sachstandsmitteilung, die das SG mit Schreiben vom 14.11.2017 und mithin nach Erhebung der Verzögerungsrüge erteilt hat, eine Rügesituation im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG geschaffen wurde, bedarf keiner Entscheidung, da die verfrühte Verzögerungsrüge hierdurch nicht nachträglich wirksam würde.
III. Die von den Klägerinnen begehrte gerichtliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist ebenfalls nicht zu treffen. Zwar kann eine solche Feststellung gemäß § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind, namentlich keine wirksame Verzögerungsrüge vorliegt. Vorliegend besteht jedoch keinerlei Veranlassung für eine entsprechende Feststellung.
Der erkennende Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für eine gerichtliche Feststellung nach § 198 Abs. 4 GVG kein Raum ist, wenn das beklagte Land die Verfahrensüberlänge in irgendeiner Form bereits anerkannt und Bedauern hierüber zum Ausdruck gebracht hat. Dies gilt sowohl in Bezug auf die in § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG (i. V. m. § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG) geregelte Möglichkeit, die unangemessene Verfahrensdauer zwecks „Wiedergutmachung auf andere Weise“ festzustellen (vgl. Senatsurteil vom 17.02.2021 – L 37 SF 156/20 EK SF – juris Rn. 41), als auch in solchen Fällen, in denen grundsätzlich eine Feststellung der Verfahrensüberlänge nach Maßgabe des § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG in Betracht käme, etwa bei Fehlen einer wirksamen Verzögerungsrüge (vgl. hierzu Senatsurteil vom 06.05.2022 – L 37 SF 216/20 EK AS – juris Rn. 48). Dieser Rechtsprechung des Senats liegt die Überlegung zugrunde, dass die gerichtliche Feststellung dem betroffenen Verfahrensbeteiligten in derartigen Konstellationen keine zusätzliche Genugtuung verschaffen kann, sie für ihn also keinen beachtenswerten Mehrwert hat.
Im vorliegenden Fall gilt nichts anderes. Der Beklagte hat in seinem Schreiben vom 06.05.2020 gegenüber den Klägerinnen bereits unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass das Ausgangsverfahren auch aus seiner Sicht unangemessen lange gedauert hat. Er hat den Klägerinnen zum Ausgleich des eingetretenen Nachteils eine Geldentschädigung gewährt, weil er – anders als der Senat – vom Vorliegen einer wirksamen Verzögerungsrüge ausgegangen ist. Durch diese Entschädigungszahlung hat der Beklagte zugleich hinreichend sein Bedauern über die unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens zum Ausdruck gebracht. Es ist kein Grund zu erkennen, der es erfordern könnte, darüber hinaus nunmehr auch noch gerichtlich die unangemessene Verfahrensdauer festzustellen.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 6, 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 100 Abs. 1 ZPO.
V. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG i. V. m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG).